Ist Idealismus praktisch verwendbar?
- Sunrise 5/1960
Es gibt so viele Theorien, daß wir gezwungen sind vorsichtig zu sein, ehe wir irgendeine von ihnen annehmen. Aber wir alle haben irgendwelche Ideale, die wir bis zu einem gewissen Grad in die Praxis umsetzen. Tatsächlich sind sogar diejenigen, die den Ansichten anderer folgen, soweit sie davon überzeugt sind, Idealisten und können nicht anders. Daher ist es töricht von Menschen ihres Glaubens wegen verächtlich zu sprechen. Ob wir mit ihnen übereinstimmen oder nicht, wir müssen mit ihnen rechnen, denn es ist ihnen bestimmt Kräfte des Guten oder des Bösen zu sein; weil jede Idee, die in unser Gemüt eintritt, die Macht hat unseren Charakter zu verändern und durch Änderung unseres Charakters die Art des Denkens und damit die Art des Lebens - entweder zum Guten oder zum Bösen - zu wenden, wodurch wir entweder zu Helfern oder zu Hinderern im Fortschritt der Menschheit werden.
Die großen religiösen Lehrer in frühesten Zeiten gaben uns genug Beispiele dafür, in welcher Weise wir leben sollten; sie ließen uns die Einheit der Menschen erkennen, eine Welt von Brüdern, in der alle für das Gute ihrer Mitmenschen arbeiten. Diese hohen Lehren wurden aber verschleiert und wirkungslos wiedergegeben, weil Dogmen und Äußerlichkeiten, die mit unserem allgemeinen Leben und unserem Wohlergehen nichts zu tun hatten, ihren Platz einnehmen durften. Das lenkte die Aufmerksamkeit der Menschen von jenen Dingen ab, die von wahrer Bedeutung sind, zu Fragen, die wenig oder keine Beziehung zur wahren Bedeutung der Religion hatten und allein zu Streit und Zank der Menschen untereinander führten.
Die Lehren Christi handeln von der Bruderschaft der Menschen und von der Notwendigkeit eine vollkommene Menschheit zu entwickeln, in der die Menschen, frei von Selbstsucht, das Wohl anderer vor ihre eigenen persönlichen Wünsche stellen. Dieses Ideal stellt die künftige Menschheit als einen höheren Menschentypus dar, der weniger von jenen Charakterschwächen belastet ist, die uns so zu schaffen machen und die die Basis für die Hindernisse auf dem Wege des Friedens und des Fortschritts bilden. Bis wir von der Vorherrschaft des niederen persönlichen Selbstes frei sind und es unter die Kontrolle des höheren Selbstes gebracht haben, wird es edle Eigenschaften in unserer Natur geben, deren Existenz uns unbekannt ist und unsere Kraft sie heranzubilden wird verhältnismäßig wenig entwickelt sein. Die schlichte Ausführung guter Taten im Geist der Wahrheit und des Mitleids ist der Ausdruck des göttlichen, des wahren tätigen Menschen und steht in direktem Gegensatz zu jenem Geist, der zu selbstsüchtigem Handeln, zu Streit und Krieg führt. Wenn wir daher gegen den Krieg kämpfen wollen, so müssen wir gegen den Geist kämpfen, der zum Kriege führt; denn dieser Geist bringt einen Riesenkonflikt nicht an einem Tag zustande: er entsteht durch unrechtes Denken lange Zeiten hindurch. Das einzig sichere Mittel für den Frieden zu arbeiten liegt daher in dem Bestreben, das niedere Selbst der Kontrolle des höheren Selbstes zu unterstellen. Das ist das Ziel der Evolution.
Es ist undenkbar, daß irgend etwas im Himmel, auf Erden oder sonstwo ohne Anstrengung des Menschen erlangt werden könnte. Die Natur gibt von ihren Schätzen nur dem, der mit ihr arbeitet und sein Bestes durch Gedanken und Handlungen beiträgt. Der Mensch sollte sich deshalb ein Leben vor Augen halten, das weit höher steht als irgendeines bisher, denn durch immer größere Erkenntnis seiner Möglichkeiten wird er niemals wieder in die niederen Zustände zurückfallen, aus denen er sich erhoben hat. Beweist dies nicht, daß der Idealist ein wahrhaft praktischer Mensch ist, der bestens dafür geeignet ist, die Menschen zur Erfüllung ihrer Sehnsucht zu führen?
Dennoch gibt es vielerlei Idealisten. Sogar die Nationen haben ihre Ideale und träumen manchmal von einer längst vergangenen Welt, deren Denken und deren Lebensart nicht mehr der heutigen Zeit entspricht. Daher ist es nicht gut sich derart an die Vergangenheit zu binden, daß höhere Vorstellungen vom Leben für uns unannehmbar sind. Jede Nation hat Ideale hinsichtlich dessen, was sie sein möchte, und obgleich in jeder Nation gegnerische Kräfte arbeiten, die danach trachten das Beste ihres Aufbaues zu zerstören, muß vollkommene Freiheit herrschen, damit sie ihrem eigenen Kurs folgen können, denn sonst würde es keinen wahren Fortschritt geben. Manche mögen auf das alte Ägypten, Babylon, Griechenland oder Rom hinweisen, wie Nationen, nachdem sie einen hohen Stand der Zivilisation erreicht haben, dem Verderb und Verfall anheimfielen, weil sie anderen Idealen folgten. Aber das wirkliche Verderben war eins mit ihren Idealen. Und so wie eine schlechte oder niedrige Einstellung im Geistigen und im Körper eines Menschen Verfall mit sich bringen kann, so muß es auch im Gemüt und Körper einer Nation sein.
Wenn sich eine Nation auf eine höhere Stufe erheben will, muß sie es ohne Überwachung durch andere tun. Begangene Irrtümer muß sie selbst herausfinden und auf eigene Weise bereinigen, solange dabei andere nicht geschädigt werden. Das muß so sein, weil alle Völker natürlich und rechtlich die Freiheit haben wollen sich selbst zu regieren und weil sie oft unter großem Einsatz für das Recht kämpfen, sich nach eigenen Richtlinien entwickeln zu können. Jede Nation, die allein ihres Denkens, ihrer Religion und allgemeinen Kultur wegen auf irgendeine andere Nation blickt, verzögert ihre eigene Entwicklung und hat kein eigenes Ideal, das genügend mächtig ist die Nation vorwärts zu bringen, oder sie vor Verfall zu bewahren. Ein Land, dessen Leben nicht von hohen Idealen getragen wird, die beständig durch seine großen Denker auf das Gemüt einwirken, muß Leid erfahren. Wenn niemand da ist, der für jeden Menschen mehr gottähnliche Vorstellungen lebendig erhält, so muß das Volk verderben und als Macht gesehen zugrundegehen.
Thomas More, William Morris und Edward Bellamy schrieben Bücher, in denen sie auf mehr oder weniger politische Weise Idealstaaten schildern, aber wir brauchen weit mehr als das. Was wir brauchen sind Menschen mit reinen Motiven und erhabenen Vorstellungen von Pflicht, Leute, die gewillt sind für das Wohl der Menschheit zu leben. Die Notwendigkeit einer hohen moralischen Vorstellung vom Menschen und seiner Möglichkeiten und der Mut alle Aufgaben anzupacken, das alles wird zum Allerbesten führen. Die Menschen wurden in der Vergangenheit von ihrer wahren Berufung abgelenkt, weil ihnen beständig vorgehalten wurde, sie seien arme Sünder. Was nachdrücklich betont werden sollte, ist die in jedem Menschen vorhandene göttliche Seite und die großen Möglichkeiten, die er im Verlauf der Zeit zur Entwicklung bringen kann und bringen wird.
Dies ist Idealismus: Kann man sagen, daß er weder praktisch noch notwendig ist?