Vom Ursprung der Dichtung
- Sunrise 1/1960
Der Geschichtenerzähler von ehedem sah die Augiasställe, die gereinigt werden mußten, Nemeische Löwen, Hydren und Riesen, die zu erschlagen waren; und auch den Helden Herkules, der sie erschlug, in seinem Inneren. Er fand in seiner Seele strahlende Kräfte als seine Verbündeten und erkannte deren Verwandtschaft mit den Mächten und Kräften, die durch die Adern der Schöpfung fließen. Ja, in der Tat, seine Götter waren seine Älteren Brüder und Helfer. Andere natürliche und übernatürliche Kräfte, andere Götter, standen gegen ihn, um ihn auf die Probe zu stellen. Die Kämpfe des persönlichen Menschen und sein Wachstum vom Menschsein zum Heroentum und zur Göttlichkeit bildeten das Gebiet der ehemaligen Dichtung.
Die Art und Weise und der Geist der Erzählungen, die von der sogenannten Kindheit der Rasse auf uns kamen, widersprechen nachdrücklich der Abstammung des Menschen vom Affen. Den vorherrschenden wissenschaftlichen Theorien entsprechend müßte man annehmen, daß die frühesten Erzählungen unkünstlerische Schilderungen wären, wie irgendein haariger, in einer Höhle wohnender Vorfahre in der Nachbarschaft eine Frau raubte, oder bei der Jagd gegen ein Mastodon mit seiner Tapferkeit prahlte. Statt dessen lesen wir von Göttern, die unter den Menschen wandelten und sie die Künste und Wissenschaften lehrten und den Menschen über seine göttliche Abstammung und über das Entstehen von Welten belehrten. Selbst die Sprache dieser Erzählungen ist nicht in der ungeschliffenen und stammelnden Ausdrucksweise, die man von einem primitiven Vorfahren erwarten würde, sondern oft wird die tiefste symbolische Weisheit mit dem höchsten dichterischen Empfinden zum Ausdruck gebracht. Der erhabene Charakter dieser ältesten Literatur des Menschen bildet hinsichtlich der Form und des Inhaltes ein unwandelbares Zeugnis, das bei der wissenschaftlichen Analyse der Entwicklung des Menschen in der Vergangenheit fast ganz ignoriert wurde.
Die frühesten Dichtungen - ich gebrauche den Ausdruck durchaus ehrerbietig - sind also die erhabenen heiligen Bücher der Welt, welche die Mysterien des Universums größten Teiles in Form von Geschichten mitteilen. Diese wurden, wie die Legenden sagen, den Menschen von den Göttern erzählt, wobei die Winde und die Wogen stille standen und lauschten und selbst die Sterne alles andere vergaßen, bis die Geschichte zu Ende erzählt war. In ihnen wurde kein persönlicher Charakter geschildert, denn es gab nur einen Gegenstand der Schilderung, und dieser war der Mensch. Seine verschiedenen Charakterzüge und Aspekte wurden in der Erzählung durch Götter und Dämonen, Helden und Bösewichte dargestellt. Der Vorteil dieser alten Art der Erzählung ist für jene, die an den spirituellen Ursprung und die spirituelle Bestimmung des Menschengeschlechtes glaubten, der, daß sie, symbolisch genommen, tatsächlich wahrer ist, als die Wirklichkeit. Damit meine ich, daß sie das Drama der menschlichen Seele und die inneren Kämpfe beschreibt und als das Wichtigere darstellt, die hinter den Ereignissen des Lebens vor sich gehen und das Wirkliche in der menschlichen Erfahrung bilden, im Gegensatz zu den äußeren Erscheinungen, die nur als Symbole der inneren Ereignisse angesehen wurden.
Als die Zeitalter jedoch dahingingen und der Begriff über die Götter und die gottgleichen Möglichkeiten im Menschen immer mehr zur Förmlichkeit wurde, zu einer vagen Erinnerung, wurde bei den alten Erzählungen mehr auf die Unterhaltung der Zuhörer geachtet als auf deren Belehrung. Die Charaktere wurden im allgemeinen gewöhnliche Menschen, anstatt der charakteristischen Merkmale der gesamten Menschheit. Der Liebende müßte noch für die ihrem göttlichen Gegenstück zustrebende menschliche Persönlichkeit gelten, aber auch er nahm den Anstrich des jungen Menschen in seinem sentimentalen Zustand an. Der Krieger könnte noch bis zu einem gewissen Grade symbolisch die gegen das Böse in der Welt bewaffnete Seele darstellen; aber er zeigt starke Ähnlichkeit mit irgendeinem zeitgenössischen, volkstümlichen Soldaten. Das war eine natürliche Entwicklung und die Schriften unterschieden sich dadurch. Die Ausdrucksmöglichkeit wuchs ebenfalls. Aber auch die Einfachheit der erhabenen Kunst litt Schaden und ihre Wahrheit wurde getrübt. Das ging so weiter, bis der ursprüngliche Zweck des Geschichtenerzählens gänzlich aus den Augen verloren worden war. Es wurde immer mehr zu einer genauen Widerspiegelung der kaleidoskopischen Veränderungen des äußeren Lebens. Die Idee von der menschlichen Seele und ihrer höheren Aufgabe in dieser Welt ging mehr und mehr verloren.
Nirgends ist das klarer ersichtlich, als in den Veränderungen, die sich ergaben, als die alten Sagas und Epen von Skandinavien, Britannien und Nordeuropa zuerst dem mittelalterlichen und dann dem modernen Roman und schließlich dem sogenannten Realismus unserer späteren Zeit wichen. Die Taten der alten Helden hatten alle eine Symbologie als Grundlage, die für jene, die sie begriffen und festhielten, eine ausgedehnte und tiefe innere Bedeutung hatte. Es haftete ihnen etwas an, das uns ein Gefühl der Ewigkeit vermittelte, das mächtig war und uns erhob. Wenn aber diese erhabenen und einfachen Geschichten, z. B. die der Barden von den Normannen und anderen fahrenden Sängern nacherzählt wurden, bekamen sie einen mehr persönlichen Anstrich. Die titanische, vorbildliche Gestalt des göttlichen Artus erscheint z. B. als ein freundlicher, ritterlicher König wieder und seine gewaltigen elementalen, unpersönlichen Männer nahmen ausschließlich die Gestalt liebender und im Turnier geübter Ritter an. Dieser Vorgang ging rasch voran, bis Europa schließlich mit einer Literatur von ausgeprägter Narrheit überschwemmt war. Die Taten des Esplandians, Amadis und Palmerins wurden kaum mehr als äußerlich gesehene sentimentale Höflichkeiten. Ihre Autoren hatten anscheinend keine Ahnung, daß es noch einen anderen Anlaß zum Geschichtenerzählen geben könnte. Es wurde höchste Zeit, daß Cervantes seine Feder schwang!
So kann man, wie ich glaube, an der Entwicklung der europäischen Dichtung sehen, daß, als die inneren Wahrheiten aus den Augen verloren wurden, die Literatur sich zum ersten Mal in den netten Täuschungen des romantischen persönlichen Lebens zu verlieren begann. Mit der Zeit fand man dann, daß diese Art erdichteten Ideals, welches oft eine überladene und gleissnerische Atmosphäre an sich hatte, wenig Beziehung zum wirklichen Leben der Welt, zu ihrem Leid und zu ihren Realitäten hatte. Es setzte deshalb eine natürliche Reaktion ein und die Dichtung trieb auf den sogenannten Realismus zu.
Dabei scheint es nicht zwei Pole, jedoch drei Winkel zu geben. Die Spitze des Dreiecks ist unpersönliche, symbolische Wahrheit. Die Winkel am unteren Teil sind Romantik und Aktualität. Letztere wird, meines Erachtens nach, fälschlicherweise Realismus genannt. Wenn wir den festen Halt der Seele aufgeben, tauchen wir in ein schön erscheinendes Traumland der romantischen Dichtung ein. Aber dann kommt als Gegenmittel auf etwas, das uns gleissnerisch schön erscheint, an das wir nicht glauben können, unsere Reaktion, indem wir dem Niederen und Hässlichen nachjagen, das für uns nun einmal tatsächlich existiert. Das Mühlengetriebe einer solchen Schule hat kein strömendes Wasser zur Verfügung, es sei denn konserviertes, aus dem mit Sorgfalt all das herausgeholt wird, was scheußlich und kummervoll im Leben ist und was dann peinlich genau aufgetischt wird, als ob es das Ganze wäre.
Ich bin überzeugt, daß die Kunst außer für die Bedürfnisse der Seele, keine Existenzberechtigung hat. Und ich glaube, wenn die Kunst das vergißt, hört sie bald auf, sowohl wahrhaftig als auch schön zu sein. Kunst um der Kunst willen, als Ziel nur die Schönheit, dient der Sinnlichkeit. Einige literarische Epochen, deren Anstrengungen auf diesem Prinzip basierten, mißbrauchten die Schönheit für die Sinnlichkeit. Andererseits ist es nicht viel besser, innere Schönheit durch bildliche Darstellungen zu ersetzen. Im Bemühen, wirklichkeitsgetreu darzustellen, wird man möglicherweise das Mißgestaltete und das Lasterhafte wählen. Man wird über das Laster schreiben und dem Geschriebenen gerade dadurch, weil es abstoßend ist, eine hypnotische Anziehung verleihen und so fortfahren, den wirklichen Zweck der Kunst zu vereiteln und den Schmutz in der Welt des Alltags - nicht der wirklichen Welt - zu vermehren. Wieviel tausend Romane werden jedes Jahr veröffentlicht? Und wenn sie veröffentlicht sind, welchem guten Zweck dienen viele von ihnen? Die meisten sind ein Betäubungsmittel für das Gemüt, ein Mittel, das die Leute von dem so notwendigen Denken und dem sich selbst ins Gesicht sehen und der Notwendigkeit, die Bedeutung des Lebens zu entdecken, oder wenigstens zu versuchen, sie zu entdecken, abhält. Und in den letzten Jahren wurde dem niedersten Begehren des Menschen immer mehr Vorschub geleistet. Die Kunst der Dichtung hatte jedoch ihren Ursprung nur in heiligen Dingen.
Damit soll nicht geleugnet werden, daß auch in unserer späteren Zeit Größe zu finden war und zu finden ist. Keinesfalls. Ebenso in der Entwicklung des Stils und der Macht des Ausdrucks. Es soll nur mit Nachdruck betont werden, daß große Schöpfungen, ob die des Realismus oder der Romantik, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart, auf Grund bestimmter innerer Wahrheiten groß sind, wie zum Beispiel: Die Schilderung der Seele, deren mißliche Lage, ihr Wachstum und die Möglichkeiten ihrer Erneuerung. Große Dichtung ist heute und jederzeit möglich, weil es eine innere Wahrheit über das Universum und den Menschen, den Fortschritt und die Vollkommenheit gibt. Mit anderen Worten, was ein Werk der Dichtung heute groß macht ist das gleiche, was es in alten Zeiten groß machte, das Hervorheben jener universalen Prinzipien, auf die das menschliche Leben gegründet ist.