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Zähle Deine glücklichen Stunden

Leiden heißt arbeiten. Ein mit Haltung getragenes großes Unglück ist vollendeter Fortschritt. Menschen, die leiden, führen ein reiferes Leben als jene, die keine Prüfungen durchmachen.

- Eliphas Lévi

 

 

 

Welch großen Teil unseres Lebens verbringen wir mit Wünschen! Wir wünschen uns Gesundheit, Reichtum und Glück - das sind alles gerechtfertigte Wünsche, denn es ist durchaus menschlich, Dinge zu begehren, die man noch nicht besitzt. In diesen 'Wünschen' aber sind Fallgruben verborgen. Ersten kann mit dem Wünschen allein viel Zeit und Kraft verschwendet werden, die besser dazu verwendet werden sollte, Schritte zur Erfüllung des Wunsches zu unternehmen. Zweitens - und das ist die große Frage - wie können wir wissen, ob die Erfüllung des Wunsches auch unserem Besten dient?

Es gibt nur wenige Menschen, die nicht hin und wieder bedrückt und mit sich selbst unzufrieden sind und wünschen, die Verhältnisse, unter denen sie leben, ändern zu können. Wir finden vielleicht das Leben zu einförmig und der tagaus-tagein, jahraus-jahrein gleiche gewohnheitsmäßige Ablauf der Dinge ist wie eine mächtige Kette ohne Unterbrechung. Vielleicht sind wir in eine Stellung "geraten", die wir hassen, oder sind gezwungen, einen großen Teil unserer Zeit mit Menschen zu verbringen, die uns nicht zusagen. Wir möchten vielleicht verreisen, sind aber an einem Fleck festgenagelt, oder wir müssen beständig reisen und möchten doch bleiben, wo wir sind.

Es gibt so vieles, was Unzufriedenheit erregt, daß es unmöglich ist, alles aufzuzählen. Eins aber ist gewiß, daß Eifersucht und Neid in größerem oder kleinerem Ausmaß oft schuld an der Unzufriedenheit sind. Wenn wir darüber nachdenken, sehen wir, daß viele Millionen Menschen auf der Erde leben und nicht zwei von ihnen in genau der gleichen Lage sind, nicht zwei von ihnen dieselben Güter und dieselben Gelegenheiten haben. Daraus folgt, daß Neid oder Eifersucht lächerlich sind. Außerdem bringen viele Dinge, um die wir andere Leute beneiden, diesen selten Glück. Würden sie uns Glück bringen?

Es ist eine Binsenwahrheit, wenn man sagt, daß Missgeschick gut für uns ist, aber zweifellos erweckt und schafft es in uns Erkenntnis der wahren Werte und entfaltet in uns Eigenschaften, von deren Vorhandensein wir nichts wußten - Eigenschaften, die nur dadurch ans Tageslicht gebracht werden konnten, daß wir gegen schwere und bittere Erfahrungen ankämpfen mußten. Tatsächlich findet man einige der glücklichsten Menschen gerade unter denen, die durch wirklich notvolle Zeiten, seien es Krankheiten oder Unglück, gehen. Andererseits kann man die armseligsten Menschen unter denen finden, die viel Besitz haben und so viel Muße, daß sie beständig darüber nachgrübeln, ob sie glücklich sind oder nicht.

Es steht fest, daß der Mensch fast alles, was er begehrt erreichen kann, wenn nur genügend Konzentration und ein überwältigendes Verlangen vorhanden ist. Robespierre z. B. duldete nicht, daß sich ihm auf dem Wege zum Ziele etwas entgegenstellte, aber jedermann kennt die Tragödie, die nach seinen sogenannten Erfolgen kam. Wir wissen aber nicht, was für uns das Beste ist; und sich leidenschaftlich etwas wünschen, das außerhalb unseres Bereiches liegt, kann Unglück zur Folge haben. In dem Buch The Monkey's Paw erzählt uns W. W. Jacobs die Geschichte eines Ehepaares, das in einfachen Verhältnissen ganz glücklich lebte, bis ihm eines Tages Gelegenheit geboten wurde, drei Wünsche zu äußern, die in Erfüllung gehen sollten. Sie hatten bis dahin immer den großen Wunsch nach einer bestimmten Summe Geldes - 200 £ - gehabt und hier bot sich ihnen endlich die günstige Gelegenheit. Ihr Wunsch wurde erfüllt; aber er brachte keine Freude, sondern nur Schmerz, da die Geldsumme - und zwar genau in der gewünschten Höhe - als Entschädigung für einen schrecklichen Unfall und dem daraus folgenden Tod des einzigen Sohnes an sie bezahlt wurde.

Das scheint auf die Tatsache hinzuweisen, daß Wünsche so stark werden können, daß sie den natürlichen Lauf der Dinge ablenken und so Ereignisse außerhalb von Zeit und Raum schaffen können. Man kann sich vorstellen, daß ein Wunsch solche Macht bekommt, daß er wenigstens zeitweilig die Tat überdeckt. Als Robert Louis Stevenson sagte, daß es besser wäre zu verreisen als anzukommen, wußte er aus eigener Erfahrung und persönlichem Leid genau was er damit meinte.

Gegen das Gift der Unzufriedenheit, das uns alle angreifen kann - gegen das nur wenige Menschen unempfindlich sind - gibt es nur ein Mittel, und zwar anzuhalten und die glücklichen Stunden zu zählen. Gehe hinaus und zähle bedachtsam all die schönen Dinge auf, die wir tun können und die so mancher nicht tun kann! Sieh den Mann dort drüben, der an einem weißen Stock geht! Sieh den Krüppel im Krankenfahrstuhl! Denke an das Gesicht, das wir sehnsüchtig aus dem Fenster schauen sahen - das Gesicht eines Menschen der ans Krankenbett gefesselt ist! Wir brauchen gar nicht all die Leiden aufzuzählen, die der Mensch durchmachen kann.

Unsere Aufgabe ist es, aus den Umständen, in die wir uns selbst gebracht haben, das Beste zu machen, und wenn es der Verlauf unseres Lebens verlangt, daß wir alles tun sollen, um uns aus diesen Verhältnissen zu erheben, dann ist Unzufriedenheit nicht schlecht, aber es muß eine 'göttliche Unzufriedenheit' sein - d. h. der Beweggrund muß derart sein, daß er Neid und Eifersucht auf einen anderen Menschen ausschließt. Wenn wir aus Stärke handeln, so arbeiten wir mit dem, was wir haben und halten Wunsch und Verlangen ungestört oder latent im Zaume. Wir dürfen niemals zugeben, daß sie unsere Tyrannen werden, die uns beherrschen und unsere Handlungen vorschreiben und uns in manchen Fällen zu verbitterten und unzufriedenen Menschen machen.

Das Leben ist wie ein gewaltiges Abenteuer, das in unserer Wanderung von der Geburt, durch Jugend und Reife und bis zum Ende - das nur ein neuer Anfang ist - erschütternde Erfahrungen bringt. Das Abenteuer hört niemals auf. Wie leer wäre doch unser Leben, wenn alle unsere Wünsche erfüllt werden könnten! Die Erfahrungen, die wir machen, lehren uns unvermutete Dinge über uns selbst und über andere.

Wir lernen dann, daß der einzige Weg zum Glück darin liegt, Glück zu verschenken, denn "Glück ist ein Duft, den man nicht auf andere überströmen lassen kann ohne selbst ein paar Tropfen für sich zu erhalten." Niemand ist so arm, daß er nicht einige glückliche Stunden aus seinem Leben aufzählen könnte.