Gespräche am runden Tisch: Über die Bhagavad-Gîtâ
- Sunrise 3/1959
Ich halte es aber für eine ausgezeichnete Idee, uns mit der Bhagavad-Gîtâ zu beschäftigen, wenn Sie es alle wünschen, würde es jedoch nicht gerne sehen, ihren Inhalt Vers um Vers, oder selbst Kapitel um Kapitel, zu analysieren, sondern würde es vielmehr vorziehen, die Diskussion so zu führen, daß sich der Geist frei und unbehindert bewegen kann. Auf diese Weise können wir vielleicht ein wenig von dem Esoterischen klarlegen, das sich durch das ganze Buch zieht.
Dan: Ich habe dieses Buch nicht gelesen, aber ich bin gern damit einverstanden, wenn wir uns damit beschäftigen.
Martha: Es gab viele Gelegenheiten, bei denen ich hoffte, wir könnten die Gîtâ zusammen lesen, denn dieses kleine Buch der Ergebenheit bildete für mich seit Jahren einen außergewöhnlichen Ansporn: Die wichtige Stellung, in welcher der Einzelne als Teil des kosmischen Dramas gezeigt wird, und umgekehrt. Ich denke, wenn wir nur ein wenig davon studieren könnten, würde uns das helfen, unser Bewußtsein nach diesen umfassenden Begriffen hin auszuweiten und wir würden vielleicht unsere täglichen Probleme klarer erkennen.
Betty: Ich möchte das auch gern, aber da ich so wenig über die Bhagavad-Gîtâ weiß, würde ich es begrüßen, etwas über das ihr Zugrundeliegende zu hören, wann sie geschrieben wurde und über alles, was uns eine Idee davon geben könnte, was sie überhaupt enthält.
Vorsitzender: Gîtâ bedeutet zunächst 'Gesang' und der Titel Bhagavad-Gîtâ ist auf verschiedene Weise übersetzt worden, als 'Gesang des Gesegneten', 'Göttlicher Gesang', oder wie sie Sir Edwin Arnold in seiner schönen poetischen Wiedergabe nannte, 'Himmlischer Gesang'. Sie ist ein Teil eines viel größeren Werkes, des Mahâbhârata, dem nationalen Epos der Hindus, welches als Hauptthema einen sich lange hinziehenden Streit zwischen den Abkömmlingen der Kurus auf der einen Seite und der Pândus auf der anderen hat, zwei Zweige einer alten Königsfamilie, die als die Bhâratas bekannt waren. Es scheint, daß die Kurus sich des Reiches der Pândavas bemächtigten und diese verbannten. Als Folge führten diese dann ein Wanderleben und erduldeten schweres Ungemach. Doch von den fünf Pândava-Prinzen, von denen Arjuna einer war, wurde angenommen, daß sie alle 'göttlichen' Ursprungs seien und sie sammelten Helfer und Freunde in genügender Anzahl, um mit einer großen Armee zurückzukehren. Die Gîtâ beginnt damit, daß die zwei Armeen sich auf Kurukshetra, dem 'Feld der Kurus', in Schlachtordnung gegenüberstanden.
An dieser Stelle bat Arjuna Krishna, seinen Berater und Wagenlenker, ihn und seinen Wagen zwischen die zwei Armeen zu fahren, damit er diejenigen sehen konnte, die "bereit und darauf bedacht waren, die Schlacht zu beginnen". Er sah dort nun viele vertraute Gesichter und sagte (ich fasse kurz zusammen):
Ich sehe auf beiden Seiten, o Krishna, Großväter, Onkel, Vettern, Erzieher, Brüder, nahe Verwandte und enge Freunde. Wenn ich meine Verwandtschaft so bereitstehen sehe, darauf bedacht zu kämpfen, versagen mir meine Glieder, mein Mund vertrocknet, meine Haare sträuben sich, und ich zittere vor Schreck. Werde ich noch jemals glücklich sein können, wenn ich meine Verwandtschaft vernichte? Nein, ich will nicht gegen sie kämpfen, selbst nicht um der Herrschaft über die drei Regionen des Universums wegen! Wehe mir, welch großen Verbrechen sind wir im Begriff zu begehen. Mir wäre lieber, wenn mich die Söhne des Dhritarâshtra ohne Widerstand auf dem Felde töten würden.
Arjuna setzte sich im Wagen nieder, legte Bogen und Pfeil beiseite und war "von Verzweiflung überwältigt".
Wenn die Gîtâ einfach eine chronologische Aufzeichnung eines Krieges zwischen zwei Zweigen einer Familie wäre, hätte es wenig Wert, sie zusammen zu lesen. Sie wäre auch nicht die beliebteste Schrift des Ostens geworden, wenn sie die Bevölkerung bloß als einen auf der physischen Ebene stattgefundenen Zusammenstoß zweier streitender Parteien schildernd betrachten würde. Die Bhagavad-Gîtâ ist weit mehr als das: Sie wird nur die Bibel der Hindus genannt, ist aber in Wirklichkeit eine Schrift von universaler spiritueller Bedeutung. Wenn wir sie einmal von dem physischen Schlachtfeld auf den Bereich des Kampfes in der Seele des Menschen übertragen können, werden wir Krishna als den Vertreter des göttlichen Kernes in jedem von uns erkennen und Arjuna als uns selbst: Die strebende menschliche Seele, die manchmal schwankt und aus Verzweiflung schwach wird und ein andermal stark ist, wenn sie durch Zusammenarbeit mit dem Höchsten in uns gekräftigt wird.
Tom: Könnte man also der Analogie folgend sagen, daß die Pândavas die spirituellen Eigenschaften im Menschen darstellen, welche einst das Reich regierten, die aber von den Kurus entthront wurden, was bedeuten könnte, daß die niederen Eigenschaften im Menschen für eine Zeitlang von seiner Natur Besitz ergriffen und Arjuna beherrschten?
Vorsitzender: Allgemein gesprochen ja, und die aufgeklärten Gelehrten des Ostens und des Westens unterstützen diesen Gedanken. Ich glaube aber, daß wir achtsam sein müssen, damit wir nicht dieser oder jener Persönlichkeit zu genau festgelegte Eigenschaften beilegen oder zuviel Energie für den Versuch verwenden, die symbolische Bedeutung jedes Namens und jedes Ereignisses zu ergründen. Es stimmt zwar, daß die Sanskritnamen, die auf beiden Seiten der Streitenden den verschiedenen Führern und ihren Waffen gegeben wurden eine Bedeutung haben und sie für sich auch ein interessantes Studium bilden, sie stellen aber bei weitem nicht den wesentlichen Inhalt der Gîtâ dar.
In jeder heiligen Schrift sind immer zwei Eigenschaften vorhanden: Die ewigen spirituellen Werte, welche an sich zeitlos und universal sind und die zeitweilige und geschichtliche Fassung, die, wie wichtig sie auch für die Gestaltung eines Bildes über die Bewohner und die Verhältnisse des Ortes sein mag, doch erst in zweiter Linie von Interesse ist. Wir beschäftigen uns mit der Gîtâ, um, soweit wir können, unter die äußeren Schichten des Formenwesens und des Brauches zu gelangen, zu der goldenen Ader durchzudringen und zu versuchen, die Goldkörner einer lebendigen Philosophie auszugraben.
Nebenbei gesagt, einer der Hauptgründe, aus dem die Bhagavad-Gîtâ von den Hindus so verehrt wird, ist, daß sie alle Formen der Ergebenheit und der religiösen Überzeugungen in glücklicher Weise umfaßt. Wenn sie auch eine Upanishad genannt wird, weil sie den größten Teil ihrer Inspiration aus jener bemerkenswerten Sammlung philosophischer Schriften zieht, ist sie doch auch eine "Yogaschrift", denn sie spricht über die Methode, durch welche der Mensch schließlich "Yoga" oder "Vereinigung" mit dem Göttlichen in sich erlangen kann. Sie ist nicht rein monotheistisch, pantheistisch, dualistisch oder nichtdualistisch, denn alle die verschiedenen Ströme philosophischen Denkens sind hier zu einer spirituellen Synthese vereinigt. Alle sind als "Wege zu Brahman" oder zum Höchsten anerkannt.
Frank: Es gibt Leute, die denken, daß diese alles einschließende Haltung eine Schwäche darstellt und das ursprüngliche Ziel der Gîtâ nicht erreicht wurde, weil sie nicht die bestehenden Formen der Ausübung der Religion reinigte, sondern diese duldete und dadurch einfach die alten dogmatischen Begriffe verewigte.
Vorsitzender: Wahrscheinlich waren zu der Zeit, als die Bhagavad-Gîtâ geschrieben wurde, die meisten philosophischen Schulen starr geworden und waren zu gewissen genau festgelegten Gedankenformen kristallisiert. Die Veden haben zum Beispiel, vielleicht weil sie die ältesten in Frage kommenden Schriften waren, sehr unter der ihnen gezollten Verehrung gelitten. Sie wurden Jahrhunderte lang mechanisch vorgetragen, bis der lebendige Funke der Wahrheit unter der bloßen Wiederholung der Texte nahezu erloschen ist. Wenn wir die Gîtâ wortwörtlich auslegen, werden wir sie sicherlich von dogmatischen Behauptungen erfüllt finden. Sie wird dann, abgesehen davon, daß sie interessant ist, wenig Wert haben. Aber wenn wir das von Krishna dem Arjuna wiederholt eingeschärfte Prinzip, sich von dem Buchstaben der Veden frei zu machen, anwenden können, werden wir die Gîtâ als eine wahre Versöhnung der verschiedenen traditionellen Gedankenströmungen erkennen. So erinnert Krishna Arjuna mehrmals: "Aber selbst jene, welche mit aufrichtigem Glauben andere Götter anbeten, verehren mich unfreiwillig" (Kap. IX) - alle Wege der Aspiration, alle Arten des Handelns oder der Untätigkeit, sind nur "andere Götter", verschiedene Wege der Erfahrung, auf welchen jene, die wahrhaft ergeben sind, letzten Endes "spirituelles Wissen" erlangen werden.
Natürlich wurde die herkömmliche Fassung von Krieg und Kriegsausrüstung, von physischem und moralischem Heldenmut gewählt, sie ist aber nur symbolisch, weil jeder, gleichgültig, welche religiöse oder philosophische Einstellung er haben mag, diese zu verstehen pflegt. Wenn wir es einmal fertig bringen, die Gîtâ von ihrer geschichtlichen und örtlichen Färbung zu trennen und die dahinterliegende eindrucksvolle Philosophie unparteiisch prüfen können, werden wir finden, daß ihre Lehren über die Natur des Menschen und des Kosmos, über Geburt und Tod, über Karma und das göttliche Selbst, von allumfassender Bedeutung sind.
Marie: Wer hat die Bhagavad-Gîtâ geschrieben? Auch möchte ich gerne wissen, ob sie so alt ist, wie der übrige Teil des Mahâbhârata, denn sie scheint anders zu sein, als der Hauptteil des Werkes.
Vorsitzender: Die Bhagavad-Gîtâ hat wahrscheinlich mehr gelehrte Kritik erfahren als selbst unsere christliche Bibel, und wenn die Kommentare über sie zusammengestellt würden, würden sie wahrscheinlich mehr Seiten füllen als das ganze Epos selbst. Wenn auch die Gîtâ viel später als die anderen Teile geschrieben worden sein mag, betrachten sie die modernen Gelehrten doch bestimmt als einen Teil des Mahâbhârata. Als ihr Autor wird der berühmte Vyasa angegeben.
Wir dürfen nicht vergessen, daß das Mahâbhârata nicht nur eine umfangreiche Sammlung von Geschichten und Legenden darstellt, die über die heldenhaften Taten der Götter und Menschen berichten, sondern auch eine Schatzkammer der Überlieferungen und religiösen Ansichten der verschiedenen Völker bildet, die die verschiedenen Teile der indischen Halbinsel besiedelten und bevölkerten, und die alle mit dem Zeitalter langen Kampf zwischen den Kurus und den Pândavas in Verbindung stehen. Deshalb ist es unmöglich, für die Bhagavad-Gîtâ oder für das Epos als Ganzes ein genaues Datum festzulegen, denn der Ursprung beider verliert sich in vorgeschichtlichen Zeiten.
Manche Gelehrte glauben, daß die Gîtâ in ihrer gegenwärtigen Form mindestens auf fünfhundert Jahre v. Chr. zurückreiche, und daß das Mahâbhârata, wie wir es heute besitzen, möglicherweise ein Sprössling eines noch älteren Werkes, Bhârata genannt, sei, das aus der Zeit um 3100 v. Chr. stammt. Aber selbst darüber sind sich die Gelehrten nicht einig, da die Hindus im Gegensatz zu den Chinesen nicht besorgt waren, genaue chronologisch geordnete Aufzeichnungen über Schlachten und Wanderungen zu führen. Sie befaßten sich viel lieber mit der Berechnung von Zyklen oder "Yugas", wie sie sie nannten und mit der Bewahrung des legendären und philosophischen Inhaltes ihrer Literatur.
Ich möchte noch hinzufügen, daß Krishna, von dem angenommen wird, daß er der "achte Avatâra oder die achte Inkarnation" einer göttlichen Kraft war, der Überlieferung nach vor etwas mehr als 5000 Jahren gelebt hat. Man sagt, daß sein Tod das Ende eines großen Zyklus darstellte und den Anfang unseres gegenwärtigen Zyklus oder des "Kali-Yuga", des "Schwarzen Zeitalters" - das sind die Bezeichnungen der Hindus für das "Eiserne Zeitalter", wie es die Griechen nannten. Mit anderen Worten, Krishnas Tod wird als im Jahre 3102 v. Chr. erfolgt angegeben, dem Datum, das dem alten Bhârata zugeschrieben wird, das den Kern des späteren Mahâbhârata gebildet haben kann.
Martha: Ich halte das für überaus wichtig. Es ist als ob Krishna am Beginn dieses dunklen Zeitalters eine Glut zurückgelassen hätte, etwas, das durch die ganze in diesem Eisernen Zeitalter unvermeidliche Dunkelheit ein Licht scheinen läßt.
Frank: Es ist auch interessant, daß Krishna im Mahâbhârata in verschiedenen Gestalten zu finden ist: Als historische Persönlichkeit, als kleiner Lehrer, dann als Stammesgott und jetzt macht ihn Vyâsa in der Bhagavad-Gîtâ zu einer "göttlichen Inkarnation", die aus einem tiefen Gefühl für die leidende Menschheit heraus herabsteigt, um das Böse, das überhand genommen hatte, zu vernichten und im Reiche der Seele die Gerechtigkeit wieder aufzurichten.
Vorsitzender: Ganz recht, und ich möchte die Stelle anführen, auf die Sie sich beziehen: "Ich erzeuge mich unter den Geschöpfen o Sohn von Bharata, so oft ein Niedergang der Tugend und ein Überhandnehmen von Laster und Ungerechtigkeit in der Welt eintritt. So verkörpere ich mich von Zeitalter zu Zeitalter für die Bewahrung der Gerechten, die Zerstörung der Boshaften und für die Aufrichtung der Gerechtigkeit." Nun, wie ist das anders zu verstehen, als daß "von Zeitalter zu Zeitalter" ein Einfluß von der Kosmischen Göttlichen Intelligenz menschliche Gestalt annehmen kann, genau wie es Christus tat? Das Wort Avatâra bedeutet eben dieses - einen "Abstieg" oder ein "Passieren", in diesem Falle von der Welt des "Göttlichen" in die menschliche Welt. Und zu welch anderen Zweck sollte der Abstieg erfolgen, als dazu, um das Licht des Göttlichen auf die menschlichen Bereiche zu werfen? Wir sagen dann, ein neuer Avatâra ist erschienen; ein "Christus ist erstanden"; eine "göttliche Inkarnation" hat stattgefunden.
Dafür gibt es ohne Zweifel viele Auslegungen. Selbst der Krieg zwischen den Kurus und den Pândavas, der sich auf den Kampf des Menschen zwischen den höheren und niederen Eigenschaften in seiner Natur beziehen kann, kann auch einen symbolischen Bericht über den beim Ende einer kosmischen Ära und dem Beginn der nachfolgenden unvermeidlichen Konflikt darstellen. Die Geburtswehen bilden ein universales Symptom und sind nicht auf die Welt menschlicher Ereignisse begrenzt.
Sicherlich ist Krishna eng mit einem der grösseren Zyklen im Schicksal des Menschengeschlechtes verbunden, genau so wie Jesus am Ende eines Zyklus kam und den neuen, den man das Zeitalter der Fische nennt, einleitete. Deshalb wird in den Schriften des frühen Christentums von ihm oft als 'der Große Fisch' gesprochen. Heute, nach etwa 2000 Jahren, treten wir in einen anderen Zyklus ein, dessen "messianische Qualitäten" sich auszudrücken suchen.
Doch wir schweifen zu weit ab.
Dan: Gibt es eine gute englische Übersetzung der Bhagavad-Gîtâ? Ich ziehe eine Übersetzung in Prosa vor, da ich es furchtbar schwer finde den Kern zu erfassen, wenn etwas in Versen geschrieben ist.
Vorsitzender: Das verstehe ich. Mir ist die von William Q. Judge 1890 in New-York herausgebrachte revidierte Ausgabe am liebsten. Er benützte die Übersetzung von J. Cockborn Thomson (ursprünglich 1855 in England veröffentlicht) als Grundlage und prüfte sorgfältig alle damals verfügbaren englischen Übersetzungen. Wo sich Unklarheiten zeigten, übersetzte er ganze Abschnitte aus dem Original neu. Er war in der glücklichen Lage einen oder zwei Sanskritgelehrte zur Seite zu haben, die er zu Rate ziehen konnte. Diese durchgesehene Ausgabe ist nicht so wörtlich genau, wie Judge sie geschaffen hätte, wenn er selbst Sanskrit gekonnt hätte, aber sie bewahrt in einfacher Prosa vollkommen den Geist der Gîtâ.
Seitdem erschienen zahlreiche Ausgaben in Englisch und anderen Sprachen, aber die einzige, die ich außerdem noch empfehlen würde, ist die von Radhakrishnan, welche neben dem Sanskrittext die sorgfältige englische Übersetzung und umfassende Anmerkungen enthält. Radhakrishnan ist, soviel ich weiß, der einzige moderne Orientalist, der ausgezeichnete Gelehrsamkeit mit tiefer Einsicht in die unvergänglichen Werte der Gîtâ vereinigt. Deshalb zögere ich nicht, seine Ausgabe neben der revidierten Ausgabe von Judge jenen zu empfehlen, die die genaue Bedeutung irgendeiner Stelle wissen möchten.
Wir werden in der Gîtâ einen Reichtum finden, der für ein ganzes Leben reicht und wenn wir sie zusammen gelesen haben, verstehen wir vielleicht auch etwas von dem ungeheuren Einschlag, den ihre Übersetzung den westlichen Gelehrten nicht nur in England und in Europa, sondern auch in Amerika darstellte.
Tom: Ja, war es nicht in einem von Emersons "Tagebüchern", wo er etwas über den "herrlichen Tag" sagte, den er und sein Freund mit der Bhagavad-Gîtâ gehabt hatten? Soviel ich mich erinnere, betrachtete er sie als das "vorzüglichste Buch der Bücher" und sprach von ihr als die "Stimme einer alten Kunde", die von einem anderen Zeitalter in das unsrige herüberschallt. Ich glaube, Emerson hat auch die Veden und die Upanishaden sorgfältig studiert, wenigstens soviel davon, wie er und andere der Transzendentalisten jener Zeit in die Hände bekommen konnten; und es wird gesagt, daß man, als er starb, auf seinem Nachttisch eine alte Gîtâ mit reichlichen Notizen versehen fand.
Ernest: Das interessiert mich sehr, denn die Gîtâ ist schon so lange das Nationalgedicht Indiens, das von den Bewohnern beinahe auf den Knien der Mutter gelesen und aufgenommen wird. Jeder Knabe und jedes Mädchen wächst dort in Liebe zu diesem Gedicht auf. Es wundert mich deshalb, daß es keine weitere Verbreitung fand und unter den verschiedenen Nationen nicht populärer wurde.
Frank: Das braucht uns nicht so zu überraschen, wenn wir daran denken, wie abgeschlossen wir etwa bis vor 200 Jahren in unserem Denken waren. Aber es ist interessant, daß neben der amerikanischen und der französischen Revolution in aller Stille eine andere Revolution vor sich ging, und zwar eine Revolution auf spirituellem und intellektuellem Gebiet. War es nicht mitten in der französischen Revolution, daß Anquetil-Duperron, der französische Orientalist, die Gîtâ aus einer persischen Übersetzung des alten Sanskrit-Textes übersetzte? Wir wissen auch, daß Sir Warren Hastings, als er Generalgouverneur von Indien war, im späten 18. Jahrhundert ein Gesetz erließ, nach dem alle Zivilbeamten Sanskrit lernen sollten, damit sie ihre Untertanen besser regieren könnten! Als Folge davon waren jene, die von England nach Indien gesandt wurden, genötigt, diese alten Schriften in der Ursprache zu studieren und haben ohne Zweifel einiges von ihrem Wert aufgenommen oder sahen sich zumindest einem anderen Gesichtspunkt gegenüber.
Ernest: Die Ostindische Handelsgesellschaft war, glaube ich, im Erwerben dieses Wissens bahnbrechend. Sie trieb in friedlicher Weise mit Indien Handel, und die meisten ihrer Beamten waren sehr gebildete Männer.
Vorsitzender: Karma benützt jedes zur Verfügung stehende Mittel. Was immer die politischen Ergebnisse der Ostindischen Handelsgesellschaft waren, jener besondere Weg bildete eines der Mittel, die benützt wurden, um große und dauernde Gewinne hervorzubringen. Es freut mich, daß dies zur Sprache gebracht wurde, denn ich glaube nicht, daß wir bei der wechselseitigen Befruchtung von Ideen, die jetzt beständig stattfindet, heute die spirituelle Abgesondertheit begreifen können, in der wir Jahrhunderte lang lebten. Die dunklen Perioden der Unwissenheit haben ihren Stempel der Unduldsamkeit und der Bigotterie zurückgelassen. Aber plötzlich, mit der Einführung englischer, deutscher, französischer und lateinischer Übersetzungen der Bhagavad-Gîtâ, der Upanishaden, der persischen Avesta Literatur und anderer heiliger Texte des Ostens in den Westen während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wurden da und dort erleuchtete Gemüter durch die Weite der philosophischen Vision gefesselt, die sich nun vor ihnen auftat. Bis zur damaligen Zeit waren außer den hebräischen und christlichen Überlieferungen die platonische Philosophie und ein wenig von dem persischen Gedankenstrom praktisch die einzige spirituelle Nahrung der westlichen Welt. Nun öffnete der Westen das Tor seines Bewußtseins weit für die nie welkende Philosophie des Ostens und die Wirkung war ungeheuer.
Das neue Wissen war aber nur für wenige zugänglich. Heute kann sich jeder von uns nach seinem eigenen Wunsch mit einer beliebigen Richtung religiösen oder wissenschaftlichen Denkens vertraut machen. Der Schatz der Weisheit der Welt steht nicht mehr nur den Gelehrten offen - jeder von uns kann die Früchte chinesischen, altnordischen, griechischen, hinduistischen, christlichen oder hebräischen Denkens lesen, darüber nachdenken und sie studieren - wenn nicht in den Originalsprachen, so doch in ausgezeichneten Übersetzungen.
Sie dürfen aber nicht denken, daß wir die östlichen heiligen Schriften über unsere westlichen stellen. So ist es ganz und gar nicht gedacht. Diese Schriften haben durch ihre buchstäbliche Auslegung genau so viel verloren wie die unsrigen, ja, vielleicht in gewisser Hinsicht sogar noch mehr. Aber etwas Wichtiges sollten wir im Westen doch vor Augen halten: Sie haben die Lehre über die Wiedergeburt der Seele nicht aus ihren Schriften entfernt und sie enthalten auch die Lehre von Karma oder von Ursache und Wirkung, als einen natürlichen Teil des Entwicklungsprozesses der Natur.
Ich denke, das ist nun genug darüber. Vergessen Sie nicht, daß jede Weltreligion ihre einzigartige Gabe zur Erleuchtung der Menschen beigesteuert hat.
Tom, wünschen Sie etwas zu sagen, das mehr zum eigentlichen Studium der Gîtâ führen wird?
Tom: Nun, die Gîtâ hat für mich einen höchst verwirrenden Hintergrund. Als Teil dieses großen Epos beginnt sie natürlich mit den zwei auf dem Schlachtfeld aufgestellten Armeen. Es ist nun ziemlich leicht zu erkennen, daß die Kurus die niederen Eigenschaften des Menschen und die Pândavas seine höheren Eigenschaften darstellen könnten. Aber wenn tatsächlich für die Pândava Brüder die Zeit kommt, das zu beanspruchen, was in Wahrheit ihr Eigentum ist, findet sich Arjuna in einem schrecklichen Dilemma. Das ist es, was die Gîtâ für mich so ergreifend macht: Arjunas Verzweiflung ist so sehr menschlich. Man kann sehr wohl über den Kampf sprechen, der beständig in der Seele zwischen der Ergebenheit dem Höchsten gegenüber und der Zuneigung zu dem, was wir immer als unsere "Freunde und Helfer" betrachten, stattfindet. Etwas ganz anderes aber ist es auch, demgemäß zu handeln; und das ist es, was im ersten Kapitel geschildert wird. Arjuna bittet Krishna seinen Wagen zwischen die zwei Armeen zu fahren, damit er genau sehen kann, gegen wen er kämpfen soll. Als Arjuna bemerkt, daß seine Vettern und Brüder, seine nahen Verwandten und engen Freunde auf Seiten der Kurus stehen, "überkam ihn großes Mitleid und tiefste Verzagtheit". Er weigerte sich zu kämpfen und sagte zu Krishna, er würde sich lieber "ohne Widerstand auf dem Schlachtfeld" töten lassen, als seine eigenen Verwandten erschlagen.
Frank: Dürfte ich hier eine kleine Bemerkung machen? Das erste Wort in der Eröffnungsstrophe der Bhagavad-Gîtâ ist Dharma-kshetra, "auf dem Felde von Dharma oder der Pflicht", statt, wie man erwarten könnte Kuru-kshetra, "auf dem Felde der Kurus"! Das ist für mich höchst bedeutsam und weist darauf hin, daß der Autor die Gîtâ eher als ein Zwiegespräch für spirituelle Belehrung zwischen dem Gott Krishna und Arjuna, dem Menschen, gestalten wollte, wie als Bericht über eine auf der physischen Ebene zwischen sich streitenden Mitgliedern einer Familie stattgefundene Schlacht.
Vorsitzender: Das ist ausgezeichnet, weil das Wort Dharma-kshetra, "auf dem Felde der Pflicht oder von Dharma", tatsächlich den Grundton für das ganze Gedicht bildet: Die Erfüllung der Pflicht eines Menschen mit seinem ganzen Wesen und die Gefahr, die sich daraus ergibt, wenn wir versuchen die Pflicht eines anderen zu erfüllen. Jeder Mensch hat sein eigenes Dharma, seinen eigenen Platz in dem Plan des Fortschritts. Wenn er den ewigen Kampf der Selbstbesiegung gewinnen will, muß er seine Pflicht selbst erfüllen.
Das zeigt auch die praktische Weisheit der Gîtâ. Trotz der vielen Bezugnahmen auf gewisse Bräuche der Hindus, die bereits reichlich dekadent und deshalb für den Bewohner des Westens überhaupt nicht anwendbar sind, empfiehlt die Gîtâ keineswegs das von allen Verantwortlichkeiten des Lebens losgelöste Einsiedlerleben, sondern legt im Gegenteil auf drei verschiedene Methoden des Wirkens zur Erlangung der schließlichen "Vereinigung" mit dem Höchsten im Innern Nachdruck: Mittels "spiritueller Erkenntnis", "Ergebenheit oder Glauben" und mittels "Handeln", der Erfüllung des eigenen natürlichen Karmas, wie es auf uns zukommt.
Es ist bedauerlich, daß Paulus nur zwei von diesen zu betonen schien, nämlich die Erlösung "durch den Glauben" und "durch Werke". Wenn auch beide wichtig sind, wurde doch die Notwendigkeit für die Seele zu forschen und zu fragen übersehen und es bedurfte vieler, vieler Jahrhunderte der Dunkelheit, ehe der für erleuchtete Menschen charakteristische göttliche "Forschergeist" in westlichen Ländern wieder einmal hervortrat.
Welchem Pfad wir auch immer folgen, wie auch unser natürlicher Charakter sein mag, jeder von uns hat sein besonderes Dharma oder seine Pflicht hier auf Erden zu erfüllen, ob nun durch "Werke", durch den "Glauben", oder durch Suchen nach "Erkenntnis". Wenn ich den Inhalt der Gîtâ in einem Satz zusammenfassen müßte, würde ich wahrscheinlich sagen: Die volle Erfüllung unseres Dharma oder unserer Pflicht, ohne Hängen an den Resultaten.
Es wird spät, und wir müssen Schluß machen. Wir können bereits ersehen, daß das erste Kapitel mit seinem Aufmarsch auf dem Schlachtfeld in Wirklichkeit eine Einleitung zu der wahren Botschaft des Gedichtes darstellt, welches vom zweiten Kapitel bis zum Ende ein Ausguß aus dem Herzen Krishnas ist, der in einem dringenden Appell an die Arjunas aller Zeiten und Länder besteht, sich zu "erheben" und den Zeitalter alten Kampf des Selbstes zu kämpfen.
Wir wollen jetzt schließen und wenn es Ihnen recht ist, das nächste Mal mit dem Studium der Gîtâ fortfahren.