Es gibt eine Strömung
- Sunrise 6/1958
Jede große Religion enthält im innersten Kern die gleichen essentiellen Wahrheiten, aber bald nach der Sendung eines jeden Weltlehrers hat noch immer die rückläufige Tendenz zur Kristallisierung und zur Begrenzung eingesetzt. Der Meister Jesus, Gautama, der Buddha, Plato, Konfuzius, Lao-Tse und auch noch andere verkündeten die Wahrheit erneut für ihre Zeit und ihren Platz, jedoch kein einziger von ihnen kam, um eine Weltreligion zu gründen. Es waren ihre Nachfolger und Schüler, die, weil sie von der "neuen" Offenbarung stark beeindruckt waren, bald darauf Religionen, Kirchen und Tempel gründeten, und auf diese Weise wurden die "Mysterien des Himmelreichs" aufs neue unter der wörtlichen Auslegung von "Gleichnissen" begraben. Und doch hatte jeder Lehrer nur ein Ziel im Auge: dem Herzen der Menschen die großen moralischen Werte einzuprägen und die heiligen Traditionen des Altertums im Lichte der Erfahrung der Seele neu zu interpretieren.
Die gleiche Aufgabe haben wir heute: die grundlegende Spiritualität des ursprünglichen Konzepts freizulegen, das von allen großen Boten gebracht wurde.
Im Studium dieser Traditionen sind Zyklen mitinbegriffen, alle Arten von Kreisläufen, große und kleine, "Räder in der Mitte von Rädern", aber diese Räder oder Zyklen kann man nicht verstehen, es sei denn, es hätte sie jemand selbst erlebt. Hesekiel drückte dies wie folgt aus: "Und wenn die lebenden Kreaturen gingen, gingen die Räder neben ihnen... wo der Geist sie hintrieb, da gingen sie hin... denn der Geist der lebenden Kreaturen war in den Rädern." Also sind es die "lebenden Kreaturen", potentielle Göttlichkeiten in in Aktion, als antreibende Kraft hinter diesen "Rädern" oder zyklischen Ereignissen stehen und nicht die Zyklen, die das Geschick der Wesen bestimmen.
Das beste Beispiel ist der messianische Zyklus, der etwa 2160 Jahre dauert, ein Zyklus, der das Ende der Bahn der Sonne durch den Zodiak anzeigt, und an dessen Knotenpunkten ein neuer "messianischer Einfluß" zu spüren ist. Jesus, der "große Fisch" genannt, soll das Fischezeitalter eingeleitet haben, und nun erleben wir den Übergang in einen neuen messianischen Zyklus mit seiner ihm eigenen Qualität von befreiender Kraft und tieferem Sinn für Werte. Aber sogar messianische Zyklen müssen innerhalb noch größerer Zeitläufte betrachtet werden, und nach der alten griechischen Mythologie wird das evolutionäre Wandern des Menschen durch Zeit und Raum in vier Perioden eingeteilt: das Goldene Zeitalter, das Silberne Zeitalter, das Bronzene Zeitalter und das Eiserne Zeitalter - eine Klassifizierung, die der Art der Hindus, ihre Yuga-Zeitalter zu berechnen, verblüffend ähnlich ist. Es wird kaum jemand in Abrede stellen wollen, daß unsere gegenwärtige Ära in der Tat ein eisernes und dunkles Zeitalter ist, ein Zeitalter, in dem der Grad des materiellen Denkens eine außerordentliche Intensität erreicht hat.
Dies ist das große Bild; aber innerhalb jedes Zyklus' sind immer kleinere "Räder innerhalb der Räder" - und nicht die physikalische Zeitperiode der verschiedenen Zyklen ist der wichtigste Punkt sondern die "lebenden Kreaturen", die die Räder bewegen. Daher finden Aufstiege und Abstiege innerhalb unseres eisernen Zeitalters statt, das selbst tausende und abertausende von Jahren dauert. Ein solcher kleinerer Zyklus ist die Hundertjahr-Periode, die seit dem 14. Jahrhundert von auffallender Bedeutung ist, obgleich sie von den westlichen Gelehrten zum größten Teil übersehen wird. Nach alter tibetanischer Überlieferung wurde prophezeit, daß mit der Erscheinung des großen Reformators Tsong-Kha-pa im 14. Jahrhundert ein besonderer Antrieb auf geistiger Ebene im letzten Viertel eines jeden darauffolgenden Jahrhunderts gegeben werde, ein Impuls, der vom Occident deutlicher empfunden würde.
Welche Form diese Wiederbelebung im darauffolgenden 15. und 16. Jahrhundert im Westen auch annahm, ob die Anstrengungen durch Feuerphilosophen genährt wurden oder durch Alchemisten, Kabbalisten und andere oder durch inspirierende ungewöhnliche Einzelmenschen, die zu vorher nicht erreichten Höhen gelangten, so ist der Antrieb im 18. und 19. Jahrhundert doch gut erkennbar. Dies liegt aber nicht in der Gründung einer neuen Religion, sondern sie erfolgte durch Aussaat des Samens eines erweiterten moralischen Ausblicks in den Boden der kommenden Jahrhunderte. Im 18. Jahrhundert erfolgte - abgesehen von den ungewöhnlichen Genies, die in Europa unter dem Namen Saint Germain, St. Martin und Cagliostro auftraten - der erste bedeutende Riss im religiösen Isolationismus durch das Eindringen der reichen philosophischen Gehalte des Orients in westliche gelehrte Kreise. Aber erst mit dem 19. Jahrhundert wurde der Impuls überall in der denkenden Welt gespürt und die erneute Ausgießung geistiger Vitalität gemeinsam weitergeleitet. Die uralten Formen der Wahrheit, die unter den wörtlichen Auslegungen der dunklen Zeitalter so lange begraben waren, tauchten nun als Saat für die Anstrengungen des neuen Jahrhunderts auf - es war die Wiederauferstehung der Prüfung der heiligen Texte (nicht nur der christlichen) der Welt. Man legte großen Wert auf die ursprünglichen Grundgedanken, die, wie auch immer ihre äußere Form sein mag, wie Edelsteine auf dem einen goldenen Faden der göttlichen Herkunft des Menschen aufgereiht sind. Keineswegs geringer an Bedeutung für das westliche Denken war die Wiederbelebung der einst allgemein angenommenen Idee von der zyklischen Wiederkehr des Menschen, der sich auf Grund des feinen und gerechten Ausgleichs der Waagschalen von Ursache und Wirkung durch die Hierarchien des Lebens hindurch selbstbewußt weiterentwickeln kann.
Wir haben gerade den ungemein wichtigen Wendepunkt unseres gegenwärtigen Jahrhunderts überschritten. Und jetzt befinden wir uns an der gefährlichen Grenze, über die wir keinerlei Form eines Dogmas oder Glaubens zu tragen wagen. Wenn wir auch zeitweise im Tal der Verwirrung verloren scheinen, so drängen wir - von einer größeren Perspektive aus betrachtet - doch einem der Gipfel des spirituellen Fortschritts zu. Er mag im Vergleich zu anderen kleiner sein, aber es ist ein Aufstieg. Somit ist jedem denkenden Individuum die Verantwortung auferlegt, zu erkennen, daß der Boden vorbereitet werden muß. Wenn alles schon gesagt und getan ist, was kann der Einzelne dann noch tun? Wir brauchen nicht in die Tempel und Kirchen zu gehen und die Tische der Geldwechsler umzustürzen, wie es der Meister Jesus tat. Aber in unserem Verantwortungsbereich liegt es, in einer ruhigen und unauffälligen Art nicht nur alles Abgestorbene, alle Gier und Selbstsucht im Tempel unserer eigenen Seele auszureissen, sondern auch den Kern der Wahrheit in allen Dingen des Lebens ausfindig zu machen.
Meister Jesus warnte weise vor der Torheit, "neuen Wein in alte Schläuche" zu giessen. Kein zukünftiger Bote der Wahrheit im letzten Viertel dieses oder eines zukünftigen Jahrhunderts wird seinen Wein, seine Gabe an neuem Leben, in ein altes Gefäß gießen, in ein Gefäß, das geformt ist von Kirche oder Synagoge, Lamakloster oder Tempel oder von irgendeiner der sogenannten "okkulten" Organisationen, die nun im Westen wie Pilze aus der Erde schießen; es sei denn, ein solches Gefäß ist unverfälscht und zweckmäßig der reinen uneingeschränkten Tradition der Wahrheit geweiht.
Die innere Motivierung ist bei weitem mächtiger als äußere Handlungen; und so ist es immer die Aufgabe jener gewesen, die der Rasse vorwärts helfen wollten, jede Neigung zu Dogmatisierung im Denken zu brechen und mit den grundlegenden Prinzipien zu arbeiten, den spirituellen Elementen, die immer lebendig und voller Feuer gewesen sind seit der Mensch zum Menschen wurde. "Es gibt eine Strömung in den Angelegenheiten der Menschen, die, wenn sie zur Zeit der Flut benützt wird, zum Erfolg führt" - diese Strömung haben wir jetzt, neuer Wein fließt, sogar am Tiefpunkt des Jahrhunderts, und die Lebenswoge der Menschheit, die sich jetzt inkarniert, hat die Möglichkeit, einen hohen Punkt in ihrer Entwicklung zu erreichen. "Wenn sie verpaßt wird, ist ihre ganze Lebensreise eingeschränkt von Flachheit und Elend" - wir müssen unsere Erbschaft annehmen und mit der Verschwendung von Energie an die Untiefen der Spiritualität aufhören, nicht zu unserem eigenen Heil sondern zum dauernden Wohle der Menschheit. - "Auf solch einer hohen See schwimmen wir nun, und wir müssen die Strömung nutzen, wenn sie zu unseren Diensten steht."