Spirituelle Ausblicke
- Sunrise 4/1958
Wir reden leichthin von internationalen Angelegenheiten, von der Herstellung interglobaler Verbindung, von Raumschiffen und Satelliten - alles Dinge, die unsere Erde zum kleinsten Sternenstäubchen werden ließen. Aber wer von uns interessiert sich nicht mehr als nur ein kleines bisschen für die Rolle, die der Mensch in dieser kleinen und doch so mächtigen Welt spielt? Jede Richtung menschlicher Aktivität, jeder Ausdruck des menschlichen Genius', jede Manifestation materieller und auch spiritueller Kraft steht inmitten einer ganz außergewöhnlichen Umwandlung. Das Atom wurde gespalten - und mit ihm ist unsere Selbstzufriedenheit gewaltig und ein für allemal in tausend Stücke zertrümmert worden.
Eine ernsthafte Prüfung des Dauerhaften und des Vergänglichen wurde hervorgerufen. Es ist schließlich der Mensch, mit dem man sich beschäftigt, aber welches Verhältnis zu den Grundfesten von Recht und Unrecht trägt zu den spirituellen Aspirationen eines Menschen bei? Heute gibt es mindestens zehn größere Religionen, von denen wieder jede in einige oder sogar einige hundert Teile gespalten ist. Alle lehren die gleichen moralischen Prinzipien, die jeder - sei er nun Christ oder Buddhist, Moslem oder Jude, Hindu oder Parse - als reines Gold erkennt. Aber wie viele unter den Millionen Anhängern dieser Religionen arbeiten ernsthaft an der Verwirklichung dieser Lehren?
Wie sieht dann das Allheilmittel aus? Wird es ein äußerer Zwang sein? Selbst die Atomangst scheint nicht stark genug zu sein, um ihren Preis der Versöhnung fordern zu können.
Es ist ein seltsamer Kommentar zu unserer Inkonsequenz, daß Europa und Amerika seit Generationen Missionare hinaussandten, um "die Heiden zu bekehren" - ohne auch im entferntesten daran zu denken, ob die "Heiden" die Bekehrung auch zu schätzen wissen. Ohne Zweifel haben sich als Begleiterscheinungen bedeutsame Vorteile in hygienischer, medizinischer und erzieherischer Hinsicht ergeben. Was aber den ursprünglichen Zweck dieser Bemühung betrifft, kann man nicht nur die Wirksamkeit sondern auch die moralische Berechtigung der Absicht, einem anderen einen Glauben aufzuerlegen, den zu leben wir selbst nicht die spirituelle Stärke hatten, anzweifeln.
Andererseits waren wir im Westen während des vergangenen halben Jahrhunderts die Empfänger von Missionaren aus dem Osten. Einige vedantische und buddhistische Orden sandten ehrenwerte Bekenner ihres Glaubens zu uns, um in das Bewußtsein des Westens einige Ideen aus ihren Überlieferungen einzupflanzen. Inwieweit sie erfolgreich waren ist noch nicht entschieden. Aber gleichzeitig mit den ernsthaften Priestern sind auch viele Drittrangige gekommen, eigennützige Swamis oder Yogis, die sich, indem sie den guten Ruf der anderen ausnützten, nicht nur selbst erniedrigten, sondern auch Zweifel über die wahren Lehren, die sie verbreiten wollten, aufkommen ließen. Unsere Kücken sind in der Tat in ihren eigenen Stall zurückgekommen!
In einer kürzlich erschienenen Ausgabe von The Saturday Review (14. Januar 1956) bringt der Herausgeber, Norman Cousins, einen Bericht über eine Unterredung, die er in Indonesien mit einem Mr. Satis Prasad hatte. Hier haben wir einen Hindupriester, der den ernsthaften Wunsch zum Ausdruck brachte, "als Missionar" in Vereinigten Staaten zu gehen, weil er die Amerikaner "zur christlichen Religion" bekehren möchte! Sein Argument dafür war, daß die moralischen Lehren des Hinduismus und des Christentums "viel mehr Gemeinsames haben, als sich die meisten Leute vorstellen." Mr. Cousins zitiert dann noch verschiedene Stellen aus dem Alten und Neuen Testament sowie aus dem Epos Indiens, der Mahâbhârata, die der Priester auf Karten gesammelt hatte. Sie waren im wesentlichen nicht aufsehenerregend, aber sie zeigten deutlich die Identität der grundlegenden spirituellen Lehren, wie die Goldene Regel, das Gebot, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, und unter dem "Moralisches Verhalten" das Gebot, Böses mit Gutem zu vergelten, und sich lieber um das Sammeln himmlischer Schätze zu kümmern als um solche, die sich auch Diebe und Tyrannen aneignen können. Schließlich zeigte er noch, daß sowohl die Mahâbhârata als auch Paulus sagen, daß "das Tor zum Himmelreich sehr eng und schmal ist", und von Menschen, die von den Torheiten und Täuschungen der Welt verblendet sind, nicht wahrgenommen werden kann.
Das ist alles sehr wertvoll; aber, wie Mr. Cousins ausführte, "könnte dasselbe von allen großen Weltreligionen gesagt worden sein, denn die Einheit der Menschen wird nirgends eindringlicher ausgedrückt wie in der Ähnlichkeit der spirituellen Lehren." Dieser Hindupriester ist davon überzeugt, daß er im Westen eine Mission zu erfüllen hat, denn er bemerkt: "In dem selben Augenblick, in dem Ihr Christus verspottet, nennt Ihr Euch Christen. Meine Mission wird sein, Euch so weit zu bringen, daß Ihr erkennt, was Ihr tun müßt, ehe Ihr ein Anrecht darauf habt, den Ausdruck zu gebrauchen."
Wir glauben, daß das ein neuer Ansatz für die Missionsarbeit ist, und es kann wenig Zweifel über die Aufrichtigkeit des Motivs von Mr. Prasad bestehen. Es scheint, als hätte er den Wunsch, eine Menge auf seine Schultern zu laden. Von unserem Gesichtspunkt aus ist die Frage nicht die, ob seine Diagnose über die Christen richtig oder falsch ist - wie zwingend seine Argumente auch sein mögen - sondern wir fragen uns, wie weit ein Mensch das Recht hat, einem anderen seinen Willen aufzuzwingen.
Wenn der Mensch ein unsterblicher Geist ist, dann hat er auf Grund 'göttlichen Rechtes' auch das Recht, den Pfad auf seine eigene Weise zu gehen. Wahre spirituelle Befreiung wird niemals durch Zwang oder Druck oder dadurch, daß man einem anderen seinen Glauben aufzwingt, erreicht werden. Wir haben im Christentum ebensowenig das Recht auf den Versuch, Menschen für Ideen zu erkaufen, und wenn wir diese Ideen für noch so gut halten mögen, als andere das Recht zu dem Versuch haben, uns zu den ihrigen - oder zu den unsrigen - zu bekehren!
Vielleicht ist es nicht übertrieben, zu sagen, daß eine schöpferische Würdigung des Glaubens anderer - ohne daß dabei das Gefühl hervorgerufen wird, "daß man unbedingt glauben müsse" - einen wirkungsvolleren Eindruck hinterläßt, als tausend Missionare aus dem Osten oder Westen. In der Tat berührt die Zirkulation von Ideen langsam aber sicher die innere Schicht des Welt-Denkens und wird sich wie eine Herausforderung auswirken - als zwingender Grund, neue Maße des Geistes zu suchen.
In jedem neuen Jahr faßt der wieder aufstrebende Geist des Menschen den uralten Entschluss. Aber nur für kurze Zeit, denn der Wille entspricht nicht dem Bedürfnis, das die Ganze Kraft eines menschlichen Wesens erfordert, und das in so dringender und eindeutiger Weise mit dem Entschluß verbunden ist, den Schandfleck der Unbarmherzigkeit und der Begierde hinwegzuwischen. Dieser Entschluß aber, der weder für den Einzelnen noch für die Rasse neu ist, zwingt uns heute, angesichts des drohenden Weltunheils die Wahl zu treffen.
Es hat Menschen gegeben, deren Vision - und deren Mut aus Angst vor Selbstzerstörung infolge einer Atomexplosion nahezu vernichtet wurde. Wenn aber die Natur fortlaufend dafür sorgt, daß für das Gift auch ein Gegengift vorhanden ist, weshalb sollte sich der Mensch dann unbeschützt fühlen? Aber er muß sich den Schutz verdienen.
Die Erfüllung oder Führung liegt nicht in dem Forschen des Körpers oder des Verstandes, die beide widerstreitend und irreführend sind, sondern sie liegt in dem Verlangen des Göttlichen, in den unvergänglichen Werten seines unsterblichen Geistes, aus dem Stärke und Bedeutung des Menschen hervorgeht. Eine Neueinschätzung von uns selbst als essentielle moralische und spirituelle Wesen ist dann das Ausschlaggebende, denn die Befreiung von der Herrschaft des Menschen kann nur durch den Menschen selbst geschehen. Wir müssen die Kluft unseres Selbstes überspringen, oder besser, wir müssen diesen Spalt nicht nur überbrücken, sondern müssen bewußt über die Brücke gehen, von der negativen Anerkennung der Tugend aus bis zu ihrer lebendigen Praxis.