Gespräche am runden Tisch: Jugend sucht nach Wahrheit
- Sunrise 3/1958
Antwort: Nein, ich empfehle kein Schema eines Dogmas oder Vorschriften irgendwelcher Art, keine Zeremonie oder äußerliche Stütze, sondern ich halte es für besser, wenn sich ein Mensch auf den inneren Impuls verläßt, um die Antwort auf sein besonderes spirituelles Bedürfnis zu entdecken. Es ist nicht weise, jemandem zu sagen: du mußt diese oder jene Lehre glauben. Soweit es mich betrifft, so glaube ich jedenfalls völlig an die Gottheit, die im Herzen eines jeden Menschen wohnt, und daran, daß diese Gottheit eine ununterbrochene Leitung für die Seele während ihrer Zyklen der Tätigkeit hervorbringt. Weiterhin glaube ich, daß innerhalb des größeren Zyklus des Wachstums die menschlichen Wesen auf dieser Erde wiederholte Aufenthalte haben, bei denen sie jedes Mal die Ernte ihres vergangenen Säens aufspeichern und dadurch Gelegenheit zu größerer Erfahrung erhalten.
Das sind kurz ausgedrückt die grundlegenden Prinzipien, die bei dem evolutionären Wachstum der Menschheit wirksam sind.
Frage: Was denken Sie über die psychische Entwicklung?
Antwort: Ich betone ausdrücklich, daß ich die Idee der psychischen Entwicklung nicht unterstütze. Es kann nicht geleugnet werden, daß der Mensch solche verborgene und noch viel feinere Kräfte in sich besitzt, doch "alle diese Dinge werden auf natürliche Art und zwar mit Weisheit gegeben werden", sobald das innere Bewußtsein des Individuums fähig ist, sie richtig anzuwenden. Doch diese richtige und weise Anwendung wird nur dann eintreten, wenn wir die Erfüllung unserer täglichen Verantwortlichkeiten und Pflichten in den Vordergrund stellen.
Frage: Doch wenn der Mensch diese inneren Kräfte besitzt, warum sollte ihre Entwicklung nicht recht sein?
Antwort: Lassen Sie mich folgendes erklären: Ich lehne zwar selbst ganz entschieden die erzwungene Entwicklung solcher anormaler Kräfte ab, übe aber an keinem Mitglied irgendeiner Gruppe oder Organisation Kritik, das dies zu tun wünscht. Meine Kritik richtet sich gegen die falsche Auffassung und die falsche Anwendung früherer spiritueller Prinzipien. Jahrtausende lang haben die wirklichen Weisen vor einem unnatürlichen Eindringen in das Psychische gewarnt und haben die Entwicklung des Moralischen und Spirituellen als das Wesentliche des Wachstums hervorgehoben. Ich bin aber nicht hier, um zu sagen, was für andere recht oder unrecht ist. Ich kann dies weder für Sie noch für irgendeinen anderen beurteilen. Ich kann nur prinzipiell etwas sagen, ohne Sie dadurch beeinflussen zu wollen. Wenn wir versuchen, das zu leben, was wir von den ursprünglichen spirituellen Prinzipien erfassen können, die von allen Weltlehrern verkündet wurden, ohne Nachdruck auf psychische Entwicklung zu legen, dann werden wir automatisch durch Karma die richtigen Erfahrungen anziehen, die wir zum Wachstum brauchen.
Spirituelle Erleuchtung ist zu jeder Stunde des Tages in unserem wachen Bewußtsein und nicht nur bei organisierten Versammlungen, oder an Sonntagen, oder unter besonderen Umständen mit bestimmten Zeremonien. Unsere Hauptverantwortlichkeit ist die Erfüllung unserer Pflichten - nicht nur in unserer Familie oder in unserem Beruf, sondern auch unserer Nation, unseren Mitmenschen und nicht zuletzt unserem Höheren Selbst gegenüber. Wenn wir außerdem noch etwas Zeit und Energie übrig haben, können wir daran denken, bestimmte Gymnastik zu betreiben, um unsere spirituellen Muskeln zu entwickeln.
Frage: Viele von uns glauben an die Wiedergeburt der Seele, aber wir finden es schwierig, herauszubekommen, wie das alles vor sich geht. Was reinkarniert eigentlich?
Antwort: Was ist das Kontinuierliche in der Leitung der Erfahrung jedes menschlichen Wesens? Es muß etwas sein, das direkt oder mit dem permanenten Teil des Menschen verbunden ist. Einige nennen es das reinkarnierende Ego oder das reinkarnierende Element, den beständigen Teil von uns, der aus der Vergangenheit einen Teil der assimilierten Erfahrungen mitgebracht hat, und der in jeder Lebenszeit den Impuls zur Handlung gibt, indem er den Schauplatz des Wirkens und der Reaktionen der Seele festsetzt. Woher kommt diese Festsetzung des Schauplatzes? Das reinkarnierende Element gestaltet ihn nicht bewußt. Karma, die natürliche Ernte vergangener Handlung errichtet den Schauplatz, indem es aus dem großen Reservoir von Erfahrung schöpft, das jeder von uns angesammelt hat.
Frage: Aber wie wird das zustandegebracht?
Antwort: Karma erlaubt unserem höheren Selbst, eine Persönlichkeit zur Geburt zu bringen, die dazu beitragen wird, den Wert und die spirituelle Qualität des reinkarnierenden Egos auf der hohen Schule des Lebens abzurunden, zu stärken und zu ergötzen. Welches ist das Klassenzimmer? Es ist die Familie und die karmische Umgebung, in die wir geboren werden. Wer ist der Lehrer? Jeder ist sowohl der Lehrer als auch der Schüler, denn jeder, dem wir im natürlichen Verlauf des Wachsens und Lebens begegnen, wird zu dieser Zeit ein Lehrer für uns sein. Es mag sein, daß es nur die Art ist, wie sie lächeln oder die Stirne runzeln. Doch alle, mit denen wir in Berührung kommen, werden uns etwas lehren, oder wir haben etwas, das ihnen geben wird, was sie brauchen - ein natürlicher Austausch, der ungeachtet unserer selbst durch Karma auf beide Arten wirkt. Unsere Haltung gegenüber den Umständen unseres sich entfaltenden Lebens gestaltet unsere Zukunft, und sie gibt uns die exakte Schulung, die unser Bewußtsein auf eine breitere Ebene des Verständnisses unserer Verantwortlichkeiten ausdehnt.
Jede große Weltreligion hat auf ihre besondere Weise die Wichtigkeit von Ursache und Wirkung als ein moralischer Führer in den Leben ernster Schüler betont. Ich sage absichtlich "ernste Schüler" - und lassen Sie mich noch einen Schritt weiter gehen: Jeder Leiter auf dem Gebiet spirituellen Denkens hat hervorgehoben, was ich gern die sich entfaltende karmische Schrift unserer Leben nenne. Nun, Sie, junge Leute, haben wahrscheinlich etwas über die menschliche Natur studiert, wie es Paulus in seinen Briefen an die Korinther ausdrückte: Geist, Seele und Körper, oder das höhere Selbst, das mittlere Selbst und das niedere Selbst. Offensichtlich gewinnen wir in unserem gegenwärtigen Wachstumszustand die Erfahrung aus erster Hand in unserem mittleren Selbst, dem Reich der Seele oder des menschlichen Egos. Wir können unsere Gedanken und unsere Interessen mit dem oberen Selbst verbinden und Inspiration und Leitung finden, oder wir können auf unsere niederen Naturen achten und dadurch niedergeschlagen und verwirrt werden.
Frage: Wir sind natürlich besonders an jungen Menschen, wie wir es selbst sind, interessiert. Wie würden Sie ihnen helfen? Schlagen Sie ein organisiertes Programm vor!
Antwort: Ich würde kein organisiertes Arbeitsprogramm empfehlen, weder für die Jugend noch für ältere Menschen, weil mein Gefühl, das auf jahrelange Erfahrung gestützt ist, mir sagt: In dem Augenblick, in dem man ein formales Programm organisiert, beginnt man, etwas zu kristallisieren, denn jedes Programm muß zwei oder mehrere Menschen von verschiedenem Karma und Charakter einschließen. Es gibt aber nicht zwei Menschen, welche dieselbe Qualität an Erfahrung brauchen. Ich weiß, das klingt seltsam, und vielleicht ist es oberflächlich, aber ich bin von der fundamentalen Richtigkeit dieser Einstellung überzeugt. Sobald Sie eine kristallisierte Form der Tätigkeit entwickeln, versuchen Sie schon mehr als ein Individuum auf denselben Gedankengang zu bringen. Das ist vom Standpunkt des reinkarnierenden Egos aus, das so sehr danach strebt, sein eigenes Muster des Wachstums herauszuarbeiten, ganz verkehrt.
Weshalb sage ich das? Weil an diesem Punkt des Jahrhundert-Zyklus es besonders unter den jungen Menschen Egos gibt, die mit einer weiteren Wellenlänge an Erfahrung in das Erdenleben eintreten, als eine formalisierte Auffassung vielleicht bieten könnte. Sie suchen und verlangen den lebendigen Strom der Wahrheit - und keine Dogmen. Wenn man einen oder mehrere dieser aufgeschlossenen jungen Menschen hernimmt und versucht, sie in einen vorgeschriebenen Plan der Tätigkeit, des Denkens und der Aspiration zu zwängen, werden sie gegen solche hemmende Begrenzungen revoltieren.
Hierin liegt keine Zauberei, nichts Dramatisches im gewöhnlichen Sinne, doch im Lichte der Seele betrachtet, ist es voll Dramatik. Was geschieht, wenn Sie und ich hier zusammentreffen und Gedanken austauschen? Unbewußt ziehen Sie das aus mir heraus, was Sie brauchen, und leiten mich Ihrerseits an, Ihnen das zu geben, was Sie brauchen. So wirkt das echte Gesetz. Es ist nicht von Menschen gemacht; es ist ein Gesetz, das aus der göttlichen Intelligenz fließt, die das wirkliche Herz des Universums und auch unser wirkliches Herz ist.
Warum sollte ich, der ich mich bekenne, Interesse am Wohlergehen meiner Brüder zu haben, versuchen, ein abgeschlossenes Gedankenvehikel zu machen, um ihre spirituellen Energien darin einzuhüllen? Das wäre absurd. Der Meister Jesus sagte nicht: "Geht hin und errichtet eine Kirche, damit Ihr eine Anzahl von Seelen hineintrichtern könnt". Diese Einstellung hat das Werk jedes großen Lehrers getötet, der versuchte, den reinen Strom der Wahrheit dem Gedankenleben der Welt einzuflößen.
Frage: Weicht das nicht von der gewohnten Richtung der Lehre ab, wie sie in der Kirche und auch in der Erziehung gefunden wird, wo wir gedrillt werden, nach bestimmten Schemas zu denken? Wie können Sie dann andere beeinflussen, so zu denken?
Antwort: Ich würde niemals einem anderen sagen, er sollte dieses oder jenes tun oder nicht tun, denn wir alle müssen auf unsere eigene Art Einsicht erlangen. Wenn wir innerhalb der moralischen Struktur der Natur handeln, werden wir sie kennen und Segen ernten; wenn wir gegen das Gesetz des Rechts handeln, werden wir es auch früher oder später wissen und werden Schwierigkeit und Leid ernten bis wir unser Denken und unsere Absichten richtig stellen. Wir können das Karma eines anderen nicht ernten, noch sollten wir versuchen, zu urteilen, denn wir wissen nicht, zu welchen Bereichen der Erfahrung das höhere Selbst jemanden führen kann, damit sich die richtigen Werte vom rechten und unrechten Denken in der Seele einprägen. Das Wunderbarste an allem ist, daß unsere größten Fehler oft unsere besten Lehrer sind, denn keiner erreicht ein erfolgreiches Resultat anders als über die Marksteine früherer Fehlschläge. Wir brauchen uns deshalb nicht davor zu fürchten, Fehler zu begehen, denn das Licht, das dem Lernen durch Irrtum folgt, wird uns auf der Straße in unsere Zukunft helfen. Das ist Okkultismus in seiner reinsten Bedeutung: Der wahre Okkultist - nicht der falsche Lehrer des Psychismus oder der sogenannten "okkulten Wissenschaften", die mit schrecklicher Gefahr beladen sind - zwingt einem anderen eine Lehre oder Vorschrift nie auf, sondern zeigt ruhig den Weg durch die erleuchtende Qualität des Beispiels. So lehrt jeder sich selbst und wenn das Motiv ernst ist, wenn er fällt und Fehler macht, so fällt er, anstatt mit dem Gesicht in den Schatten und in die Dunkelheit - nach oben, das Gesicht dem Lichte zugewandt.
Es ist überraschend, in welch hohem Maße diese grundlegenden Werte, die Zeitalter hindurch gelehrt worden sind, heute im Bewußtsein unserer Mitmenschen in die Tat umgesetzt werden. Tausende und Abertausende suchen genauso wie Sie. Sie sind nicht daran interessiert, spirituelle Rätselrater zu werden; sie wollen wissen, wie sie ihr Denken und ihre Einstellung durch fundamentale Prinzipien ergänzen können, um den Problemen, die ihre Seelen und ihr Bewußtsein quälen, besser begegnen zu können. Kein Buch wird uns das lehren und auch keine Vorlesungen können dies tun, keine Demonstrationen psychischer und besonders sensitiver Kraft. Nur in der Mühle der Lebensdisziplin wird das Licht kommen - am Ende einer jeden Erfahrung wird ein Maß an Wissen, Weisheit und Verständnis gefunden werden.
Frage: Wir haben in unserer Gruppe kürzlich begonnen, Leiter verschiedener Gedankenrichtungen einzuladen, um deren Denken mit unserem eigenen zu vergleichen. Aber wir haben gefunden, daß es so viele verschiedene Lehren gibt. Halten Sie es für möglich, daß eines Tages alle, die an spirituelle Dinge glauben, zusammen in einer Organisation arbeiten werden?
Antwort: Ich glaube nicht, daß jemals ein formaler Zusammenschluß aller dieser sogenannten spirituellen Körperschaften in eine äussere Organisation stattfinden wird, weil spirituelle Einheit etwas Inneres ist und kein noch so großes exoterisches Manövrieren das jemals zustandebringen wird. Es mag jedoch in den kommenden Jahrzehnten oder vielleicht in zukünftigen Jahrhunderten eintreten, daß Menschen und Gesellschaften nicht nur den gemeinsamen Strom unkristallisierter Prinzipien finden werden, sondern diese in ihren Leben auch wirksam werden lassen. Sobald das eintritt, wird das äußere Rahmenwerk verschwinden, und die innere Einheit des Denkens wird die wahren Werte festigen.
Keine menschliche Anstrengung könnte das aufhalten, weil diese spirituellen Einheiten in dem Vehikel des Herzens der Menschheit zusammen arbeiten würden, und der Pulsschlag der Wahrheit dann das Lebensblut des evolutionären Fortschritts durch die ganze Menschheit zirkulieren lassen würde.
Frage: Aber meinen Sie nicht, daß alle Religionen, alle Gruppen, versucht haben, das zu tun, und daß sie nur in verschiedene Arten kristallisiert sind?
Antwort: Haben Sie die Bhagavad-Gîtâ gelesen?
Frage: Leider haben wir sie nicht gelesen aber wir haben von ihr gehört. Würden Sie uns raten, sie zu studieren?
Antwort: Ich glaube, Sie würden durch ein sorgfältiges Studium der Gîtâ profitieren. Es gibt viele Übersetzungen von ihr ins Englische und - soviel ich weiß - auch eine oder zwei ins Schwedische. Ich selbst ziehe die englische Ausgabe von Judge vor, weil sie nicht poetisch abgefaßt ist und sich in ihrer Prosaform eng an den ursprünglichen Geist der Lehre hält. Es ist ein wunderschönes kleines Buch und - unter der Oberfläche der exoterischen Geschichte - tief esoterisch. Die Bhagavad-Gîtâ selbst ist nur eine kleine Episode aus dem großen indischen Epos, dem Mahâbhârata, und berichtet von den Abenteuern zweier Armeen, die "in Kampfreihe aufgezogen sind"; in deren Mitte steht Arjuna, der in der gegnerischen Armee seine früheren "Lehrer und Freunde" sieht und sich weigert, zu kämpfen. Krishna, der das höhere Selbst Arjunas darstellt, mahnt ihn, sich zu "erheben" und dem Feinde seines früheren Selbstes ins Auge zu sehen. In dem nachfolgenden Dialog wird von Krishna unter anderen sehr wertvollen Prinzipien auch das folgende ausgesprochen: "Unter Hunderten und Tausenden strebt nur einer nach Vollkommenheit, und von allen Strebenden erkennt mich vielleicht ein einziger."
Dasselbe Prinzip ist nicht nur auf die Kirchen und alle jene religiösen und sogenannten spirituellen "Lehrer" anzuwenden, sondern auch auf die Welt der Ideen: Von diesen allen mögen vielleicht eine oder zwei sein, die wirklich eine nicht kristallisierte Auffassung haben. Alle die großen Religionen, das Christentum eingeschlossen, waren in ihren ersten Anfängen Ausdrücke des lebendigen Stroms der Wahrheit. Aber ach, selbst die Jünger, die dem "neuen Gedanken" am meisten ergeben waren, verstanden nicht wirklich mit dem inneren Auge. Was geschah also, als sie das niederzuschreiben begannen, was sie sich als Wahrheit vorstellten? Nur ein Teil wurde flüchtig erblickt, und in dem Augenblick, in dem dieser Teil niedergeschrieben wurde, war er für immer "festgelegt" und wurde zu einem Dogma.
Kein wirklicher Lehrer, wie Buddha und der Meister Jesus, schrieben je etwas nieder. Die Menschen, die nach ihnen kamen, waren es, die ihre Auffassung dessen, was der Meister gelehrt hatte, niederschrieben. Ihre Auffassungen mögen sogar richtig gewesen sein, insofern sie der Einzelne in seinem eigenen Bewußtsein sah; doch sie waren nicht notwendigerweise für den nächsten oder den dritten Menschen richtig, weil jeder einzelne wieder von seinem eigenen Standpunkt aus auf die Wahrheit blickt. Nehmen Sie irgendeine Gruppe von Menschen und gehen Sie in irgendeine Stadt oder an irgendeinen Ort auf diesem Globus, lassen Sie alle das Gleiche ansehen und fragen Sie dann, was sie gesehen haben. Jeder wird Ihnen eine andere Darstellung geben. So ist es mit der Wahrheit, denn jeder von uns versteht nur eine Facette einer Facette der Wahrheit.
Es gibt viele Menschen, die diese oder jene Methode spiritueller Erleuchtung lehren. Viele sind ernsthaft, aber viele leiten ihre Nachfolger auf phantastische Nebenwege. Wir müssen lernen, zwischen dem Wahren und dem Falschen zu unterscheiden und das ist nicht immer einfach. Wenn Sie jedoch wissen, wie Sie zu den Prinzipien hinter der Phantasie gelangen können, dann hat fast jede Lehre ein Körnchen Wahrheit in sich.
Es gibt viele Wege zu dem einen Pfad, und keiner braucht auf den Wegen eines anderen zu gehen. Wenn unser Motiv in der Richtung zur Wahrheit ernst ist, werden wir vielleicht den Weg finden, der im wesentlichen richtig ist. Wenn wir wünschen, mit der Göttlichkeit, die im Herzen eines jeden von uns wohnt, besser vertraut zu werden, und wenn unser Streben stark und unpersönlich ist, werden wir den Pfad finden, ganz gleich, wie viele falsche Schritte wir auch machen mögen, um dorthin zu gelangen. So sagt Krishna in der Gîtâ: "Welchem Pfad ein Mensch auch folgen mag, er wird zu Mir kommen." Mit anderen Worten: Unabhängig von dem Weg, dem wir folgen mögen, wird sich die Göttlichkeit in uns im Laufe der Zeit schließlich mit ihrem Kind verbinden.
Frage: Sie sagten, in dieser Einstellung gäbe es nichts Dramatisches. Aber würden Sie andererseits nicht wieder sagen, es sei ein ziemlich wundervolles Drama, in dem jeder von uns die Gelegenheit hat, auf der Lebensbühne seine eigene Rolle zu spielen?
Antwort: Sie haben recht. Im eigentlichen Sinne ist das Drama spiritueller Entfaltung eine der eindringlichsten Erfahrungen, die die Seele haben kann. Wenn aber ein Individuum die Entwicklung höherer Kräfte, oder angespannte dramatische Offenbarung sucht, wird es schmerzlich enttäuscht werden. Das einzig wirkliche Drama ist das seiner eigenen Seele, die immer mehr erwacht. Wenn das geschieht, wird seine Einstellung zum Leben und all das, was vom Inneren eines Menschen Besitz ergreift, ebenso wie das äußere Universum in der ganzen Fülle des spirituellen Wertes intensiv erstrahlen. Das ist ein Drama auf seinem Höhepunkt; und indem wir fortschreiten, erfährt unsere ganze Lebensperspektive eine wirklich dramatische Änderung, weil wir dann den inneren Wurzeln der Wahrheit nahe kommen.
Ja, es wird eine schöne Szene und ein wundervolles Drama. Aber, weil die meisten von uns nicht gewohnt sind, in den "fließenden Bächlein Bücher und in den Steinen Predigten" zu suchen, bleibt es zum größten Teil ungesehen. Diese Dinge können wir nicht von außen her lernen. Wir lernen sie nur, indem wir durch jene inneren Erfahrungen leben, die der innewohnenden Gottheit erlauben, ihre Qualität immer mehr auszudrücken; wenn dies geschieht, werden diese Erfahrungen schließlich in den Handlungen unserer Persönlichkeit reflektiert. So setzt sich das Drama durch Handlung an Handlung, von Leben zu Leben immer weiter fort.
Frage: Würden Sie also sagen, daß die Menschen, die versuchen ihre psychischen Kräfte zu entwickeln, bestimmt den falschen Weg gehen?
Antwort: Wer sind wir, um zu sagen, ob ein anderer Mensch ernst ist oder nicht und ob er aufrichtig den Pfad spiritueller Erleuchtung sucht? Wer sind wir, um andererseits zu sagen, daß er "den falschen Weg geht"? Ohne Rücksicht darauf, wie ein Mensch äußerlich mit dieser oder jener Denkungsart übereinstimmen mag, kann nur sein inneres Motiv bestimmen, ob dieses der richtige oder der falsche Pfad für ihn ist. "Es gibt nur einen Pfad, aber die Wege zu ihm variieren mit dem Pilger." Wenn jedoch ein Mensch die Entwicklung seiner psychischen Natur als Hauptmotiv oder Gegenstand hat, dann könnte ich vermuten, daß er auf einem Wege ist, der - spirituell gesprochen - eventuell in eine Sackgasse führen könnte. Meiner Ansicht nach spannt er den Wagen vor das Pferd.
Frage: Was meinen Sie damit, daß er den Karren vor das Pferd spannt, wenn er versucht, seine psychischen Fähigkeiten zu entwickeln?
Antwort: Wissen Sie, was Mediumschaft und die Fähigkeit, Visionen und Gedankenformen zu sehen ist und was es heißt, die Macht zu haben, in dem Gemüt eines anderen zu lesen usw., usw.? Alle diese Dinge haben mit der spirituellen Natur nichts zu tun und sind ein Abschreckungsmittel für das wirkliche Wachstum der Seele. Sie sind eher Hindernisse als eine Hilfe, weil sie die Seele von ihrem Ziel weglocken. Weshalb sage ich das, da doch heute so viel Interesse für diese besonderen Empfindungskräfte besteht? Wie gesagt, ist es nicht deshalb, weil sie nicht existieren; es ist einleuchtend, daß wenn sie nur Vorstellungen der Einbildung wären, eine kleinere Gefahr in ihnen liegen würde. Doch infolge ihrer sehr realen Existenz stellen sie eine der größten Anforderungen an das Wachstum der Seele. Erinnern Sie sich an das, was der Meister Jesus sagte: "Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch all dieses zufallen." Alle Lehrer sagen dasselbe: Sucht zuerst den Pfad spiritueller Erleuchtung, das Sonnenlicht der inneren Göttlichkeit, ehe Ihr das Mondlicht der psychischen Natur sucht; denn die göttlichen Strahlen des Lichts werden in gerader Linie durch die ganze Natur fließen, indem sie die täglichen Begebenheiten in unserem Leben hier auf der Erde erleuchten. Wenn dies geschieht, werden uns in der Tat "alle diese anderen Dinge", die Kräfte und höchsten Gewalten in ihrem natürlichen Zyklus zufallen. Dann, und nur dann werden wir vorbereitet sein, mit ihnen weise und ohne Gefahr für uns und andere umzugehen.
Frage: Das ist aber ein ziemlich langsamer Prozeß. Viele Menschen wollen nicht auf ihn warten, sondern ziehen es vor, ihr Wachstum zu beschleunigen. Wie würden Sie ihnen sagen, daß sie auf dem falschen Wege sind?
Antwort: Ich würde nie zu jemandem sagen: "Ihr Weg ist falsch, folgen Sie meinem Weg, weil ich weiß, daß dieser richtig ist." Wenn ich für Sie Ihre 'Hausarbeit' erledige und Sie am nächsten Tag zur Schule gehen und eine fehlerlose Arithmetikarbeit abgeben würden, was hätten Sie gewonnen, wenn Sie die Probleme nicht selbst gelöst haben? Nichts. Selbst wenn Sie einige Male versagten, aber schließlich dann die Probleme doch richtig herausarbeiten könnten, würden Ihre früheren Irrtümer zu Marksteinen, durch die sie die wahren Antworten fänden. Im Leben ist es das gleiche. Wenn wir einmal unsere Fehler der inneren Bedeutung nach herausfinden, werden wir den Schutz der Marksteine erhalten und manchmal fähig sein, über die rauhen Wasser zur nächsten Stufe unseres Fortschritts zu springen.
In Wirklichkeit ist das Streben nach psychischer Entwicklung, wenn sie auch anscheinend ein rascherer und bunterer Weg ist, eine viel längere Straße der Erfahrung und kann schließlich in die Sackgasse psychischer Disharmonie führen, wo sich die Seele - wenigstens zu dieser Zeit - außerhalb der geraden Linie der spirituellen und physischen Pole ihrer Natur befindet. Das unnatürliche Erzwingen durch falsche Meditation, Atemübungen und andere bedenkliche Praktiken kann die psychischen Zentren im Menschen erwecken. Doch wenn das vor der natürlichen Zeit ihrer Blüte geschieht, während der das Verständnis ihres richtigen Gebrauchs erst entstünde, besteht große Gefahr, daß der Fortschritt der Seele auf Lebenszeit hinaus verzögert wird.
Es gibt Gelegenheiten, bei denen unser höheres Selbst heftig versucht, uns zu helfen, einen anderen Weg einzuschlagen, aber unser persönlicher Wille drängt uns, den alten Geleisen zu folgen. Wir sollten danach trachten, unsere Wege zu verbessern bevor wir einen anderen Gesichtspunkt erwägen wollen. Sobald wir das tun, wird es nicht schwierig sein zu sehen, daß unser inneres Karma uns schon während der ganzen Zeit angetrieben hatte, unsere Gedankenformen zu ändern. Es sind nicht immer die angenehmen Dinge, die unser Wachsen fördern, manchmal sind es die harten und schweren Zyklen, wenn Regen, Donner und Blitz die wirklichen Qualitäten hervorbringen, die unseren Charakter bereichern, den Samen der Göttlichkeit in der Seele blühen lassen und der Welt die Stärke ihrer Frucht schenken.
Alles was wir im Leben tun, beim Schreiben, beim Sprechen und bei unserem täglichen Zusammentreffen sollte in dieser Philosophie verankert werden. Kein Buch, kein Lehrer kann das für einen anderen tun, weil das Leben selbst der Lehrer ist. Es ist die Aufgabe des größten und auch des geringsten spirituellen Helfers der Menschheit, ein Geburtshelfer für die Seelen der Menschen zu werden. Das war auch die Mission von Sokrates: die Seelenqualitäten der Jugend von Athen zu vollerer Geburt anzuregen. Dennoch kann keiner die Seele eines anderen zur Geburt bringen. Alles, was man tun kann, ist, daneben zu stehen und dem Individuum zu helfen, die Göttlichkeit in seiner Seele zur volleren Manifestation zu bringen.
Frage: Demnach meinen Sie also, daß das Leben der Hauptlehrer ist?
Antwort: Das Leben ist der einzige Lehrer, es gibt keinen anderen. Alles, was die Weisen früher taten, war, die Prinzipien wieder herzustellen und es jedem einzelnen zu überlassen, das, was er davon versteht, in das praktische Leben umzusetzen. Das ist das Werk der wahren Erneuerer der Menschheit: die grundlegenden Prinzipien von "rechtem Denken, rechter Vision und rechter Handlung" darzulegen. Ihre Nachfolger jedoch errichteten erfolgreich Dogmen und Kanäle des Denkens, durch die diese Prinzipien gegossen wurden. So haben wir Kirchen, Synagogen, Tempel und Lamaserien - und von diesen wieder tausende von Benennungen jeder Schattierung und Art. Die Zeit und auch die Stärke des Stroms lebendiger Wahrheit ist erschöpft - oder ist unterirdisch weitergeflossen und nur das ausgetrocknete Bett der buchstäblichen Auffassung ist übrig geblieben.
Das wird immer wieder der Fall sein, wenn der lebendige Wahrheitsstrom in einen organisierten dogmatischen Kanal gestopft wird. Die Boten der Wahrheit müssen ein flüssiges Vehikel haben, das für die Bedürfnisse der Welt geeignet und entworfen ist. Wenn wir unser Denken und Streben in diesem oder dem nächsten Jahrhundert kristallisieren, dann wird dieser Strom nicht weiter ungehemmt in das Herz der Menschheit hineinfließen. Die Prinzipien werden nicht sterben - sie werden unterirdisch gehen indem sie freie neue Ausgänge suchen, und die alten Flußbette, durch die sie zu allen Winkeln des Globus flossen, werden eines nach dem anderen austrocknen.
Frage: Wir sind Ihnen sehr verbunden und möchten Ihnen danken für all die Zeit und Sorgfalt, die sie sich genommen haben. Doch wie können wir den anderen in der Gruppe darüber berichten?
Antwort: Wenn Sie das Wesentliche dieser Gedanken mit Ihren Freunden zu teilen wünschen, sind Sie mehr als willkommen. Doch sollten keine Bande befestigt werden, keine Äxte geschliffen werden, sondern ein einfacher Austausch der Ansichten des einen mit dem andern stattfinden.
Das Schöne von alledem ist, daß das das wirkliche Drama - das spirituelle Drama ist. Wenn es mir gelungen ist, etwas von mir mit Ihnen, junge Leute, durch das Gesetz, von dem wir sprachen, zu teilen, dann habe ich von Ihnen beiden genau soviel, wenn nicht mehr erhalten, als ich mit Ihnen teilen konnte. Das ist das Wunder eines natürlichen Austausches.