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Gespräche am runden Tisch: Über die Pâramitâs – I.

Frage: Sie haben in diesen Diskussionen oft gesagt, daß die grundlegendsten Wahrheiten die einfachsten sind, und daß sie das Rückgrat aller großen Religionen bilden. Ich habe in letzter Zeit sehr viel darüber nachgedacht, denn vor Jahren hatte ich schon einmal versucht, irgendeine wirklich befriedigende Formulierung oder Richtlinie zu finden. Wie vermutlich die meisten von uns, bin ich ein Christ und so wurde ich in den "zehn Geboten" und natürlich auch in dem Gebot Jesus "liebet einander" erzogen. Es hat sich aber - wenigstens für mich - keines von diesen als "seefest" erwiesen.

Nun habe ich unsere hiesige Bibliothek durchstöbert und fand durch Zufall ein kleines Buch, mit dem Titel "Sechs glorreiche Tugenden". Soviel ich weiß, hießen sie die Pâramitâs. Ich konnte die Sanskritworte natürlich nicht verstehen, aber die Ideen machten auf mich einen wirklich tiefen Eindruck. Ich habe das Buch mitgebracht und möchte fragen, ob wir nicht etwas darüber diskutieren könnten.

Antwort: Ich nehme an, daß Sie sich auf die Pâramitâs oder "Tugenden" der buddhistischen Literatur beziehen. Sie werden gewöhnlich als die "Sechs glorreichen Tugenden" erwähnt, manchmal auch als sieben oder zehn, aber die Anzahl ist nicht so wichtig. Ich glaube, tiefer in sie einzudringen würde zu weit führen, aber wir können uns prinzipiell über sie unterhalten und sehen, wo uns das hinführt.

Es ist wirklich eine Tatsache, daß die tiefsten Wahrheiten die einfachsten sind. Ich habe das betont, weil wir uns so leicht in den technischen Einzelheiten verlieren und glauben, daß wir dabei spirituell werden. Später finden wir dann heraus, daß wir die einfache Schönheit jener alten Tradition, die den Kern jeder heiligen Schrift bildet, übersehen haben. Jede große Religion enthält Gebote oder Vorschriften oder Ermahnungen, die zu einem besseren, spirituelleren Leben führen.

Was sind diese Pâramitâs oder diese "Tugenden"? In der buddhistischen Literatur sind sie eine Reihe von Ausdrücken zur Beschreibung jener Eigenschaften des Denkens und Handelns, die, wenn sie zu einem Teil des Lebens gemacht werden, die Geheimnisse des Universums und des Menschen enthüllen. Es wurde auch gesagt, daß ihre Ausübung den aufrichtig Strebenden letzten Endes zu vollkommener Erleuchtung führen wird. Mit anderen Worten: Wenn die Pâramitâs wirklich gelebt werden, zeigen sie den Weg zur direkten Wahrnehmung der Wahrheit. Dasselbe könnte von jeder anderen Zusammenstellung ethischer Vorschriften oder "Tugenden" gesagt werden. Wenn wir das eine Gebot Jesu wirklich leben würden, würden wir zu demselben Resultat gelangen - denn vollkommene Liebe bringt vollkommenes Verstehen.

 

Frage: Da ich mit der buddhistischen Literatur nicht vertraut bin, ist mir das alles neu. Es scheint jedoch alles guter Stoff zu sein und ich möchte fragen, ob Sie uns kurz erklären könnten, was jede dieser Tugenden bedeutet.

Antwort: Gern. Doch wir wollen die Sanskritworte ganz weglassen, außer wir finden es während der Diskussion ratsam, die tatsächliche Bedeutung eines Ausdrucks festzustellen, um seine ursprüngliche Bedeutung besser zu verstehen. In diesem kleinen Buch hier, betitelt Die Stimme der Stille, steht: "Zum Segen der Menschheit zu leben, ist der erste Schritt. Die sechs glorreichen Tugenden auszuüben, ist der zweite." Mit anderen Worten, die Dienstleistung für die Menschheit geht allem andern vor und ist das Wichtigste.

Ich will die Reihe der Tugenden oder der Pâramitâs vorlesen, wie sie hier angeführt sind:

1. Barmherzigkeit - "der Schlüssel der Barmherzigkeit und unvergänglichen Liebe";

2. Aufrichtigkeit - "der Schlüssel zu Harmonie in Wort und Tat";

3. Geduld - "die reine Geduld, die nichts erschüttern kann";

4. Leidenschaftslosigkeit - "Gleichmut für Freude und für Schmerz";

5. Furchtlosigkeit - "der unerschrockene Mut, der seinen Weg zur überirdischen Wahrheit erkämpft";

6. Kontemplation - "das offene Tor zur Wahrheit".

Hier haben Sie die Pâramitâs oder die Tugenden mit den einfachsten Worten ins Deutsche übersetzt. Doch was glauben Sie, was daraus gemacht wird. Können wir sagen, daß der Buddhist die Wahrheit mit mehr Erfolg fand, als der Christ mit seinem einzigen Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; oder wie der Jude mit seinen zehn Geboten? Nein, es gibt kein Rezept für die Wahrheit, und im Streben nach spirituellen Dingen besteht im Osten unter den Buddhisten und Brahmanen, den Taoisten und alten Zoroastrianern ebensoviel Dogmatismus, wie bei den Juden und Christen.

 

Frage: Offen gesagt, ich finde alle diese Dinge wertlos. Ich mag als Atheist erscheinen, aber ich bin keiner. Ich meine damit folgendes: Diese Tugenden, wie Sie sie beschrieben haben, klingen einfach großartig. Doch ich gestehe, sie lassen mich fast so kalt, wie die zehn Gebote. Das kommt vielleicht daher, weil ich nicht feststellen kann, daß sie uns dem Leben näher bringen als irgendetwas anderes.

Antwort: Solange eine Sammlung von Regeln oder Vorschriften zur Lebensführung eine bloße Formel bleibt, ist sie tot, und Sie haben in diesem Falle vollkommen recht - ob das nun die zehn Gebote oder die sechs oder zehn Pâramitâs sind, oder die eine erhabene Vorschrift Christi. Wenn aber ein System oder eine Vorschrift zum Mittel wird, unsere Aspirationen zu leiten und unseren Kurs dem wahren Norden spiritueller Anstrengung zuzusteuern, dann kann es tatsächlich eine Stufe zur Erleuchtung werden.

Eines der schwierigsten Dinge, das jeder von uns zu lernen hat, ist, die direkte und praktische Beziehung zwischen diesen einfachen Regeln der Lebensführung, der Tugenden, Gebote oder Vorschriften, oder wie immer wir sie nennen wollen, und dem intellektuellen Verstehen der Gesetze, die des Menschen inneres und äußeres Leben und das innere und äußere Leben des Universums beherrschen, zu erfassen. Wenn die Geschichte der Seele geschrieben werden könnte, würde vielleicht während ungezählter Zeitalter der Kampf zwischen dem Verlangen nach Wissen auf der einen Seite und dem Sehnen der Seele nach Weisheit auf der andern als der größte erscheinen. Der Intellekt ist wichtig und unbedingt notwendig, aber er ist nicht der Hauptfaktor in der Entwicklung des Menschen, denn die Erfahrung eines jeden Strebenden zeigt, daß, sobald wir einen angemessenen Grad intellektueller Fähigkeit erreicht haben, die Versuchung auftritt, so von den Verwicklungen universaler Tätigkeiten gefesselt zu werden - denn das Universum ist in seiner Anordnung so feinsinnig, wie das feinste Präzisionswerkzeug - daß wir das wahre Ziel der Seele aus dem Auge verlieren: das bewußte Arbeiten mit der inneren Göttlichkeit, um der Menschenwelt zu dienen.

Mit anderen Worten, die für die Erlangung der Wahrheit notwendige Ausübung der Tugenden nimmt zu oft erst die zweite Stelle nach der Erwerbung von intellektuellen Tatsachen und immer mehr Tatsachen ein - ein Weg, der nur in Sackgassen und zu spiritueller Unfruchtbarkeit führt.

 

Frage: Nun, dem stimme ich zu. Aber ich bin schon immer gegen alles skeptisch gewesen, was einem zielstrebigen Training gleichkommt. Haben diese Tugenden irgend etwas mit Psychismus zu tun?

Antwort: In unserem Leben nicht. Etwas möchte ich klar stellen. Ich bin an keinem System oder an keiner Methode des "Trainings" interessiert, das auch nur entfernt das Psychische berührt, denn nichts führt die Seele schneller von der Wahrheit hinweg, als diese Art leichtfertiger Betätigung. Davon gibt es heute schon viel zu viel. Die Leute glauben, sie werden spirituell, wenn sie in diesen sogenannten "okkulten Künsten" herumstümpern, aber alles, was sie dabei tun, ist, daß sie tatsächlich ihre eigene Entwicklung hemmen. Wahrer Okkultismus ist Altruismus an sich und hat nichts mit Psychismus zu tun.

Diese Pâramitâs oder diese Tugenden legen die Betonung auf die Entwicklung der spirituellen Qualitäten unserer Natur, im Gegensatz zu den psychischen oder rein mentalen Qualitäten und gehören direkt zu diesem Drang in der Brust eines jeden menschlichen Wesens, dessen Augen vorwärts und zur inneren Göttlichkeit aufblicken, weil sie ein wesentlicher Teil davon sind.

Spirituelles Verstehen und Weisheit kommen nur als die natürliche Folge des hinter den "Tugenden" oder "Geboten" oder "ethischen Vorschriften" stehenden Geistes im täglichen Leben, seien diese nun hinduistisch, christlich oder buddhistisch und seien es nun deren eins, drei, vier, sieben oder zehn. Denn die dauernde Kraft ist die Qualität oder Essenz dieser Vorschriften oder Anweisungen und nicht etwa ihr äußeres Vehikel; und wir wollen über die hinter ihnen stehenden Qualitäten sprechen und nicht über ihre buddhistische oder christliche Form.

 

Frage: Das ist ein sehr großes Vorhaben. Ich selbst könnte keines davon leben, geschweige denn alle sechs. Was halten Sie davon? Sollten wir uns bemühen, zuerst eines davon zu bemeistern und dann zum nächsten übergehen? Ich fürchte, ich würde schon beim ersten stecken bleiben und nie damit fertig werden!

Antwort: Sie können keine dieser Tugenden isolieren und sie vollkommen ausüben, ohne daß sie alle anderen wenigstens bis zu einem gewissen Grade ebenfalls mit einbeziehen. Die Natur wirkt nicht auf diese Weise - alles steht zueinander in Beziehung und trägt zum Ganzen bei. Außerdem wollen wir unsere Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf die Form richten, weil sie sonst zu einer Formel wird; und wenn sie das geworden ist, dann ist sie, was die spirituellen Werte betrifft, bereits tot. Aber wenn wir den hinter diesen Tugenden stehenden lebendigen Geist der Aspiration erfassen, dann kommen wir dem Begreifen der hinter allen solchen Vorschriften oder Geboten stehenden Prinzipien näher.

Sie werden sich erinnern, daß das erste Erfordernis war "zum Segen der Menschheit zu leben". Das wurde der "erste Schritt", nicht der zweite, vierte oder fünfte genannt, während die Tugenden und ihre Ausübung als der "zweite Schritt" bezeichnet wurden. Das ist eine höchst wichtige Unterscheidung. Wenn wir darüber nachdenken, werden wir begreifen, daß das bloße Sehnen so zu leben, daß der ganze Strom unseres Lebens wirklich eine Dienstleistung darstellt, uns automatisch vorbereiten wird, wenigstens einige, wenn nicht alle dieser Tugenden auszuüben. Während wir unser Denken und unser Leben daraufhin ausrichten, werden wir sehen, daß diese Tugenden eine natürliche Gelegenheit darstellen können, das unedle Metall in unserer Natur umzuwandeln.

Betrachten wir uns die erste: Barmherzigkeit und unvergängliche Liebe. Das Wort Barmherzigkeit ist sehr falsch angewandt worden, aber in seiner ursprünglichen Bedeutung ist es ein wirklich schönes Wort und bedeutet nicht mitleidiges Bedauern in der negativen, begrenzenden und selbst unfreundlichen Weise, wie wir es zu oft anwenden. Es bedeutet vielmehr jenes spontane Aufquellen des Verstehens und der Beachtung der Not eines Bruders. Es nähert sich uns in jeder Lebenslage, von der einfachsten bis zur verwickeltsten, denn der Kontakt mit anderen zwingt uns zu wählen, entweder einen Schritt rückwärts auf den selbstsüchtigen, negativen Weg, oder vorwärts in Richtung auf den selbstlosen, mitleidsvollen Pfad zu tun. Wahre Barmherzigkeit indessen läßt ihre Absicht nicht merken - wenn man Almosen gibt, dann gibt man sie unauffällig. Barmherzigkeit auszuüben bedeutet wahre Rücksichtnahme und Denken an andere. Sie lenkt uns von unserer eigenen Überbewertung ab und gibt damit eine Grundlage für alle anderen Tugenden.

 

Frage: Ist das nicht einfach die Goldene Regel in Aktion? War es nicht Paulus, der dem Sinne nach etwa sagte, daß, wenn wir selbst mit Engelszungen redeten, aber keine Barmherzigkeit hätten, dann wären wir wie "tönendes Erz oder eine klingende Schelle"?

Antwort: Ganz richtig. Jede heilige Schrift in der Welt legt den Nachdruck gerade auf diese altruistische Haltung, wir müssen sie nur zu lesen verstehen.

Soviel über die erste Tugend oder Pâramitâ. Die zweite Aufrichtigkeit oder "Harmonie in Wort und Tat", folgt natürlich und sagt uns, wie wir uns verhalten müssen, wenn wir unsere Ethik in die Tat umsetzen.

 

Frage: Das macht mir mehr Kopfzerbrechen als das erste. "Harmonie in Wort und Tat" - bedeutet das, daß Sie in der Debatte oder in der Auseinandersetzung um des Friedens willen immer nachgeben müssen? Frieden um jeden Preis ist heutzutage zu einem Diskussionsgegenstand geworden.

Antwort: Nein, das ist ganz und gar nicht meine Ansicht. "Frieden um jeden Preis" ist nach meiner Anschauung ein äußerst unwirksames, wenn nicht sogar gefährliches Mittel, wahren und dauernden Frieden zu erlangen. Wir wollen uns jedoch hier nicht mit sozialen oder politischen Fragen beschäftigen. Nicht weil wir uns vor ihnen fürchten. Aber man verliert sich so leicht in intellektuellen Argumenten, ohne dabei eine Lösung zu finden. Wie Sie alle wissen, wollen wir in diesen Zusammenkünften über grundlegende spirituelle Prinzipien sprechen, die von jedermann in jeder Lage angewendet werden können, unbeachtet des Glaubens, der politischen Anschauung oder der Rassenzugehörigkeit der Person. Was immer unsere politische Anschauung, unsere Religion, Erziehung und unsere soziale Stellung sein mag, oder in welcher Richtung wir Erfahrungen gesammelt haben, es gibt immer eine gemeinsame Basis spiritueller Werte, auf der alle zusammentreffen können. Diese gemeinsame Basis zu finden, ist der Zweck dieser Diskussion.

Um nun wieder zu dieser zweiten "Tugend" oder zu dieser zweiten Pâramitâ zurückzukehren: Aufrichtigkeit schließt Harmonie ein, aber nicht notwendigerweise Übereinstimmung. Zwischen den beiden besteht, wenn wir darüber nachdenken, ein ziemlicher Unterschied. Sie können nicht dadurch Harmonie schaffen, daß jeder denselben Ton spielt. Ein Musiker würde nichts sein, wenn er nicht verschiedene Töne, Dissonanzen und selbst Mißklänge, benützen und sie in einer harmonischen Gruppierung auflösen könnte. Das ist die Bedeutung einer Symphonie, das Aneinanderreihen, das In- Einklang- bringen mehrerer unterschiedlicher Töne. So weist Aufrichtigkeit darauf hin, daß man vollkommen in Übereinstimmung mit seinen höheren Entschlüssen leben und in seiner Alltagstätigkeit eine natürliche Harmonie in Wort und Tat zeigen soll, und zwar nicht nur mit unseren inneren Bestrebungen, sondern auch in unserem Verkehr mit anderen. Mit einfachen Worten, so zu leben, daß man das Gleichgewicht und die Ordnung des Gesetzes der Natur nicht stört.

Der einzige Grund dafür, daß Leid unter uns ist, sei es mental, physisch oder emotional, ist, daß wir irgendwann einmal das Gleichgewicht der Natur gestört und Disharmonie und Zwietracht in einer oder mehrerer ihrer vielen Formen geschaffen haben - und zu oft Mißklang in unsere Beziehungen zu anderen gebracht haben. Die Natur reagiert darauf automatisch und unpersönlich und versucht, das von uns gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen. Deshalb leiden wir. Aber in dem Maße, in dem es uns gelingt, harmonisch mit der Natur und ihren Gesetzen zu arbeiten, finden wir, daß wir nicht beständig Wirbel des Widerspruches und der Uneinigkeit aufrühren, sondern tatsächlich fähig sind, gelassen die Harmonie wieder herzustellen.

 

Frage: Könnte ich mich hier in die Diskussion einschalten? Es ist mir klar, wie nötig wir es alle haben, die dritte Tugend - Geduld - zu üben. Es gehört nicht viel dazu einzusehen, daß ein wenig mehr Geduld in der Welt vieles erleichtern würde. Aber tritt sie nur auf, nachdem die ersten zwei Tugenden entwickelt sind?

Antwort: Nicht unbedingt, denn, wie schon gesagt, wir können diese Tugenden oder Pâramitâs nicht als eine fortschreitende Reihe von Stufen betrachten, wie die Sprossen einer Leiter. Natürlich folgt eine auf die andere, aber bestimmt kann man nicht eine allein bis zu einem gewissen Grade ausüben, ohne gleichzeitig auch ein paar andere in einem gewissen Maße zu betätigen.

Was nun die Notwendigkeit der Geduld betrifft: Auch dieser Begriff ist in seiner Anwendung zweischneidig. Wir müssen hier wie bei allen anderen Bestrebungen unterscheiden lernen. "Geduld ist eine Tugend", ist uns seit unserer Kindheit in die Ohren gehämmert worden. Sie ist ohne Zweifel eine Tugend und zwar eine schöne Tugend. Wir wissen aber alle, daß zuweilen etwas Weisheit und Stärke dazugehört, aufzuhören, anderen zu erlauben, unsere Güte zu mißbrauchen.

 

Frage: Die Zeit vergeht, und es sieht so aus, als kämen wir mit den Pâramitâs überhaupt nicht zu Ende. Möchten Sie nicht die übrigen Pâramitâs schnell durchnehmen und uns erklären, wie sie zusammenpassen. Vielleicht könnten wir diese Diskussion später fortsetzen. Obwohl sie für mich ganz neu sind, habe ich persönlich bis jetzt daraus doch sehr viel gelernt.

Antwort: Ja, dann werde ich sie aufzählen, wie sie in diesem kleinen Buch hier zu finden sind:

4. Leidenschaftslosigkeit - "Gleichmut gegen Freude und Schmerz";

5. Furchtlosigkeit - "unerschrockener Mut, für die Wahrheit zu kämpfen";

6. Kontemplation - "vollkommenes Aufgehen in unserer Anstrengung".

Sie führen alle zu unmittelbarer Wahrnehmung oder zur Selbsterkenntnis.

Das ist eine kurze Zusammenfassung der Lehre des Strebens in schematischer Darstellung. Ich muß wiederholen, daß das alles nichts bedeutet, wenn wir nicht den Geist, die essentielle Qualität dieser Tugenden in die Praxis umsetzen. Mit anderen Worten, wenn die lebendige spirituelle Kraft nicht in und durch jeden Gedanken und jede Handlung unseres Lebens fließt, sind sie wirklich wie klingende Schellen oder wie tönendes Erz und sie sind nicht nur als Anleitung oder Wegweiser tot, sondern schlimmer noch, sie werden zu religiösen Mühlsteinen an unserem Hals.

Wir können alle Sanskritausdrücke kennen, können fähig sein, ihre ursprünglichste Bedeutung auszulegen, intellektuell das ganze Schema spiritueller Erleuchtung verstehen, oder können glauben es zu verstehen. Wenn uns aber das Leben plötzlich beim Wort nimmt und sagt "beweise den Wert dieser Dinge in deinem täglichen Leben" - wenn wir dann die innere Qualität dieser Tugenden nicht zu einem Teil unserer ganzen Seele gemacht haben, werden wir vollkommen versagen.

 

Frage: Das macht die ganze Sache klar. Wenn wir diesen Weg unverdrossen verfolgen, so wird für uns Handlung und Motiv eins sein. Ich meine, daß es leicht zu sein scheint, das alles in der Unterhaltung scharfsinnig zu erklären. Aber es wirklich zu leben und entsprechend zu handeln, ohne nach den Resultaten auszuschauen, wie wir es schon besprochen haben, ohne zu versuchen, die Früchte unserer Handlungen zu sehen, ist etwas ganz anderes. Mit anderen Worten, es auf der lebendigen Ebene der täglichen Erfahrungen praktisch zu zeigen, sieht - wenigstens für mich - ganz anders aus.

Antwort: Sie haben vollkommen recht - und das ist das Schöne an der ganzen Sache. Wenn es leicht wäre, hätte es für uns keinen Reiz. Es ist nicht leicht und dennoch wunderbar einfach zugleich: Hier haben wir das Paradoxon. Wie jeder große Lehrer die Zeitalter hindurch sagte: Spirituelles Wissen und Verstehen kann nur als Folge der gelebten "Tugenden", der "Gebote", der "Pâramitâs", oder welchen Kodex wir benützen, erscheinen. Sie - und nicht ihre Form - gelebt zu haben, bildet den Grundstein allen wahren Wachstums. Es gibt verschiedene Schulen des Denkens, die einige Tugenden den anderen vorziehen, oder die eine oder mehrere hervorheben und die übrigen unbeachtet lassen. Aber das alles ist für das Reifen der Seele, welches natürlich und ungezwungen vor sich gehen sollte, von Nachteil.

Sie müssen immer daran denken, daß die Geheimnisse der Natur und der Wahrheit, nach denen wir alle suchen, uns nicht enthüllt werden, bevor wir nicht anfangen einige dieser grundlegenden Tugenden zu leben, und zwar nicht nur an Sonntagen und Mittwochen, sondern 24 Stunden jeden Tag. Wir haben uns alle Gedanken darüber gemacht, warum das so ist, doch je mehr wir sie zu einem Teil unseres denkenden Bewußtseins machen, desto sicherer werden wir, daß es nicht anders geht. Denn die Geheimnisse der Natur werden nicht aufs Geratewohl ausgegeben, sondern nur nach sorgfältiger Vorbereitung und Schulung. Wie ein großer Lehrer es ausdrückte: "Nur der, der die Liebe für die Menschheit im Herzen trägt, der fähig ist, die Idee einer Erneuerung praktischer Bruderschaft vollkommen zu erfassen, ist berechtigt, die Geheimnisse (der Natur) zu besitzen. Er allein - ein solcher Mensch - wird seine Kräfte nie mißbrauchen, da nicht zu befürchten ist, daß er sie für selbstsüchtige Zwecke anwendet."

Mit anderen Worten, die Geheimnisse der Natur sind als solche nicht geheim, sondern sind ein Weg des Lebens, der nicht enthüllt werden wird, solange wir nicht die wahre Bestimmung der Seele erfüllen - nämlich die der Pflichterfüllung hier auf dieser Welt.

 

Frage: Das ist für mich alles wunderbar. Könnten wir das nächste Mal die Diskussion über die Pâramitâs fortsetzen? Denn die Vierte, die Sie vorgelesen haben, ist mir nicht ganz klar, die über Gleichmut gegen Freude und Schmerz.

Antwort: Wenn es allen recht ist, machen wir es so. Inzwischen wollen wir über diese vierte Pâramitâ nachdenken. Leidenschaftslosigkeit: "Gleichmut gegen Freude und Schmerz". Es wird uns viel Freude bereiten.