Gespräche am runden Tisch: Das Vaterunser
- Sunrise 1/1958
Antwort: Das Gebet ist ein sehr wichtiger Grundbegriff und hat viele Verzweigungen. Aber ehe wir über das ABC des Gebetes diskutieren können, ist es vor allen Dingen einmal ratsam, den Begriff eines anthropomorphen persönlichen Gottes aus unserem Bewußtsein zu entfernen, der irgendwo im Raume sitzt und Gut oder Böse - seiner Laune nach oder unseren Wünschen entsprechend - verteilt. Ich habe das Gefühl, daß dieser Begriff falsch ist, er verneint nicht nur Gerechtigkeit, sondern untergräbt auch das Vertrauen, das Vertrauen in die absolute Harmonie des universalen Gesetzes.
Die praktische Essenz des Gebetes, wie es der Meister Jesus aufgefaßt hat, ist in seinem Gethsemane Gebet enthalten: "Nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe" - nicht mein persönliches Verlangen, sondern der Wille des Göttlichen - mit anderen Worten, laß das Gesetz der Gerechtigkeit seine harmonisierende und ausgleichende Wirkung verrichten, so daß die vorangegangenen in Bewegung gesetzten Ursachen selbständig in unserem Leben wirken.
Frage: Wenn wir nun durch unseren persönlichen Willen besondere Hilfe suchen und diese sogar erhalten, trotzdem wir wissen, daß wir sie eigentlich gar nicht verdienen, würde dies unseren Kredit vergrößern und müssen wir später mit gleicher Münze zahlen?
Antwort: Während ein intensives Gebet mit dem Stempel des persönlichen Willens zeitweilig die Wirkungen besonderer Ursachen abwenden kann, und wir nur in diesem Sinne sagen können, daß sich unser "Kredit vergrößert hat", können wir doch ganz sicher sein, daß die exakte Auswirkung jeder Ursache uns zur richtigen Zeit - und oft sogar mit Zinsen - erreichen wird. Wir wollen uns nicht selbst täuschen, indem wir glauben, daß eine beliebige Anzahl Gebete die Wirkung des großen Gesetzes des Ausgleichs aufheben wird. Es gibt keine 'Vergebung der Sünden' im Sinne des allgemeinen Mißverständnisses: weder Beten noch 'Vergebung' kann die Unerbittlichkeit des universalen Wirkens der Natur verändern und die Wirkung wird der Ursache folgen, ganz gleich welche Zeitspanne zwischen dem einen oder dem anderen liegt.
Frage: Wahrscheinlich betet jeder auf die eine oder andere Weise und wir wissen selbstverständlich, daß Jesus Christus betete - denn schließlich wird ihm ja das Vaterunser zugeschrieben. Nun gibt es aber auch Teile dieses Gebetes, die scheinbar nicht zusammenpassen, dennoch habe ich gehört, daß, wenn man es richtig begreift, man die ganze Philosophie des Lebens in ihm finden könne. Können Sie uns dieses Gebet analysieren?
Antwort: Wenn das Vaterunser richtig verstanden wird, enthält es eine ganze Lebensphilosophie. Aber so, wie das Beten allgemein gehandhabt wird, hat es sich weit von den Geboten des Meisters Jesus und in der Tat auch von allen großen Weltlehrern entfernt. Heute hat das Beten vielfältige Formen angenommen, die fast alle als selbstsüchtig bezeichnet werden können: bestenfalls konzentrieren sie sich eher auf die eigenen Nöte, als auf die der anderen, und schlimmstenfalls sind sie mehr oder weniger nichts weiter als eine Ausbeutung des eigenen göttlichen Erbgutes. Ich meine damit diejenige Technik des Betens, die in zunehmendem Maße populär geworden ist, wobei die sogenannte "Macht, der Wohlstand und die spirituelle Stärke", dadurch erreicht werden kann, daß wir uns auf das, was wir wünschen, konzentrieren. Diese Art des Gebetes ist mit konzentrierter Selbstsucht behaftet und als solche äusserst gefahrvoll für den spirituellen Fortschritt des Individuums, welches es anwendet.
Wenn das Vaterunser spirituell verstanden wird, ist kein Jota Selbstsucht darin enthalten. Und dennoch, wer von uns versteht wirklich, was der Meister meinte? Wir lernen das Gebet in unserer Kindheit; als Erwachsene hören wir es in verschiedenen Frömmigkeitsgraden rezitiert, während es in Hymnen von Chören in der ganzen Welt gesungen wird. Aber hat es auch unser tägliches Denken beeinflußt?
Frage: Ich könnte mir vorstellen, daß wir alle in unserem Denken über das Gebet viele Stadien durchschritten haben. Wir alle lernten in Kirchen und Sonntagsschulen die gebräuchlichen Gebetsformen, aber ehrlich gesagt, habe ich diese Art niemals für praktisch gehalten, noch erschienen sie als das, was Beten eigentlich sein sollte, denn die meisten dieser Gebete waren von dem Gedanken getragen, etwas für mich selbst zu erlangen. Irgendwie fühlte ich, daß ich niemals das Recht hätte, irgend etwas zu erbitten, da ich im Vergleich zu anderen schon so viel hatte. Ich fühlte mich eher für das, was ich hatte, zu Dank verpflichtet, als mehr zu verlangen, und dadurch zu versuchen, irgendwie für mein Dasein hier sozusagen die Gebühr zu entrichten. Ich bin niemals auf die Idee gekommen, zur Erfüllung eines besonderen irdischen Zweckes zu irgend einem Wesen oder zu irgend einer Gottheit direkt zu beten. Aber ich habe immer gefühlt, daß genau so, wie die Dinge auf der Ebene der physischen Natur in Übereinstimmung mit dem Gesetz ablaufen, es auch mit den spirituellen Dingen sein muß, die wir in dem gleichen Verhältnis in welchem wir geben, empfangen. Welchen Nutzen sollte man dann aus dem Gebet ziehen?
Antwort: Das ist eine der besten Auffassungen, die ich je gehört habe. Möchte sich noch jemand dazu äußern?
Frage: Gut! Ich bin in hohem Maße das Produkt der üblichen Kirchenerziehung. Es schien, daß wir an erster Stelle lernten, Gott immer zu personifizieren. Auch heute noch sind die meisten Gebete, die Sie von der Kanzel hören, Forderungen. Ebenso wie Jack habe ich auch niemals empfunden, daß ich das Recht hätte, um irgendwelche Dinge zu bitten. Beten hat für mich immer fordern bedeutet, und da ich keinen persönlichen Gott oder irgend ein anthropomorphisches Wesen wahrnehmen konnte, von dem ich Vorteile hätte erbitten können, deshalb hatte ich auch niemanden, dem ich besonders zu danken brauchte. So habe ich den Mittelweg eingeschlagen, niemanden bevorzugend oder ablehnend und viel zu verwirrt, um aktiv zu handeln.
Antwort: Ich verstehe gut, was Sie meinen. Es steht eine ganze Welt zwischen dem Begriff eines Gottes, der sich außerhalb des Menschen irgendwo im Raum befindet und - nachdem er uns erschaffen hat - vermutlich für alles, was sich ereignet verantwortlich ist, und der Idee einer göttlichen Intelligenz, dem Ausdruck der Göttlichkeit im Herzen aller Dinge im Universum, vom Atom bis zur Sonne. Wenn wir das letztere erfaßt haben, dann betrachten wir, wenn wir einmal beten, das Vaterunser nicht mehr als ein Mittel zur Erfüllung unserer Wünsche, sondern eher als einen Ausdruck der höchsten Sehnsucht, deren ein Mensch fähig ist.
Vater unser, der du bist im Himmel - geheiligt werde dein Name - Hier wendet sich der Meister selbst an den Vater in ihm, an die göttliche Intelligenz, die nicht völlig in uns verkörpert ist, weil wir noch nicht den Punkt erreicht haben, an dem wir eins mit ihm geworden sind. In Übereinstimmung mit der von St. Paulus getroffenen Einteilung in Körper, Seele und Geist, können wir den Vater in uns als einen Aspekt oder Teil dieser göttlichen Intelligenz betrachten, die sich mehr oder weniger als unser Schutzengel, in Wirklichkeit als unser höheres Selbst betätigt, mit der im Laufe der Zeit eins zu werden, unsere erhabenste Verantwortung ist. Das wird Äonen lang dauern, aber da wir annehmen, daß dieser Funke oder die Facette der göttlichen Intelligenz sich in jedem lebenden Organismus offenbart, hat der Mensch die selbe Möglichkeit dem Meister Jesus gleichzuwerden.
Dein Reich komme - Wenn wir in der rechten Weise beten, bitten wir, daß das Reich des Vaters, welcher im Himmel oder den spirituellen Bereichen residiert, in uns ins Dasein treten möge. Mit anderen Worten: Wir bitten oder trachten nach der Fähigkeit, hier auf Erden diesen göttlichen Aspekt unserer Natur, ohne den wir nicht existieren würden, in aktive Manifestation zu bringen.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, als auch auf Erden - Laßt das Wirken dieser göttlichen Intelligenz in allen Angelegenheiten des Lebens auf dieser Erde seinen Weg nehmen, wie es seinen Ausdruck im Himmel gefunden hat - dem Himmel, der sowohl das relative Ideal als auch die potentielle Qualität ist, die wir eines Tages entfalten werden.
Unser täglich Brot gib uns heute - Versorge uns, oder noch besser, lasse den Vater in uns helfen, uns mit allem Notwendigen für diesen Tag zu versorgen. Beachten Sie, diesen Tag, unser täglich Brot. Es ist uns nicht anbefohlen, das Notwendige für alle Zukunft sicher zu stellen, noch bezieht sich das "unser täglich Brot" nur auf die physischen Notwendigkeiten, so wichtig diese auch sind. Gib uns an diesem Tag was immer auf dem Wege zur Stärke, Einsicht und Weisheit erforderlich ist - nicht nur für uns selbst, sondern auch für unsere Familie, unseren Nachbarn, die Gemeinde, vielleicht auch für unsere Nation und die ganze Menschheit. Diese Notwendigkeiten mögen die Tonleiter von den gewöhnlichsten bis zu den höchsten Qualitäten des Charakters durchlaufen, da wir uns im Entwicklungsprozeß befinden und uns so dem Vater in uns nachgiebig machen.
Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern - Hier ist eine der praktischsten Regeln esoterischer Übung und dennoch eine der am meisten mißverstandenen. Diese Bitte fordert nicht vom Vater, uns unsere Fehler zu vergeben in dem Sinne, uns von der Verantwortlichkeit der Wiedergutmachung zu entbinden. Noch werden wir aufgefordert, etwas zu erbitten, das wir selbst nicht zu geben haben: um Vergebung für uns selbst oder um Qualitäten des Charakters, die wir andererseits in unseren Beziehungen zu anderen auch nicht zum Ausdruck gebracht haben. So wie wir unseren Brüdern nicht ihre Fehler vorhalten sollten, genau so hält uns auch der Vater in uns, dessen Barmherzigkeit größer als unsere ist, nicht den Irrtum in der Beurteilung, der uns in unserem Kampf des Entwickelns unterläuft, nicht vor und verschafft uns den Vollgenuß der Impulse, die wir von dem göttlichen Teil in uns empfangen. Das alte Gesetz des Ausgleichs, der Harmonie - das Karmagesetz betätigt sich hier. Beachten Sie, das Gebot sagt nicht, wie oft wir versucht werden mögen, zu denken: "Vergib uns unsere Schuld, unsere Dummheiten, unsere Selbstsucht und Habgier, aber lasse den Anderen für all die gierigen, selbstsüchtigen Handlungen, die er mir gegenüber getan hat, büßen.
Was du säest, das wirst du ernten - Der Handlung folgt die entsprechende Wirkung und das in alle Ewigkeit. Genau so wie Karma die eine Seite der Münze darstellt, bildet Leid oder Barmherzigkeit die andere Seite des gleichen universalen Gesetzes. Aber wir müssen aus unseren Herzen allen Groll und Haß über ein uns zugefügtes Unrecht entfernen, ehe wir die Gnade des Vaters in uns anflehen, bezüglich des Unrechts, das wir täglich unserem wirklichen Selbst gegenüber begehen.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel - Einige von Ihnen werden vielleicht den Leitartikel über diesen Gegenstand im Sunrise im vergangenen Juli gelesen haben, in welchem wir folgende passendere Darstellung zu verwenden vorschlugen: "O Vater in uns, halte uns nicht fern von unseren Versuchungen und Schwierigkeiten, damit wir, wenn wir ihnen unerwartet begegnen, sie als Schlechtes erkennen, ihre Macht überwinden und sie unter Kontrolle bringen." Mit anderen Worten, anstatt zu bitten, von jeder Versuchung verschont zu bleiben, laßt uns lieber um Kraft beten, dem Leben, so wie es ist zu begegnen, um mit Mut und Standhaftigkeit unserer Verantwortung gegenüber zu treten, wie groß diese auch immer sei und Augen und Herzen dem Lichte zugewandt vorwärts schreiten.
Frage: Ich halte das für weit besser als die Idee, nach der uns Gott vorsätzlich versuchen sollte, Übles zu tun. Ich konnte mir niemals vorstellen, weshalb wir den Vater bitten sollten, uns nicht auf schlechte Wege zu führen und habe mich immer gewundert, weshalb so etwas in einem Gebet enthalten war, welches uns vermutlich von einem Welterlöser gegeben worden ist.
Antwort: Sie sind nicht der Einzige, der darüber verwundert ist. Wahrscheinlich hat jeder denkende Mensch versucht, sich irgend eine seinen angeborenen ethischen Sinn befriedigende Vorstellung darüber zu machen. Es war erfreulich, in einer kürzlich, am 21.10.1954 in Philadelphia erschienenen Zeitungsnotiz eine Abhandlung zu lesen, in der Generalleutnant John C. H. Lee in Harrisburg, Pennsilvania, Diözese der Episcopal Kirche forderte, das Vaterunser abzuändern. General Lee schlägt vor, daß die Bitte: "Führe uns nicht in Versuchung" abgeändert wird in: "Laß uns nicht fallen, wenn wir versucht werden", weil, wie er erklärt: "Kein Christ erwarten kann, vor einer Versuchung bewahrt zu werden", und deshalb sollte der Betende "um Kraft, der Versuchung zu widerstehen", bitten.
Selbstverständlich wird ein Vorschlag dieser Art nicht von einer Diözese der Episcopal Kirche entschieden, er ist deshalb der Liturgischen Kommission zur Prüfung und zum Bericht auf einer später einzuberufenen Konvention zugeleitet worden. Ich werde die Entwicklung mit lebhaftem Interesse verfolgen.
Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit - Die göttliche Intelligenz ist das wirkliche Reich und die einzig wirkliche Kraft und wenn ihr Wirken auf dieser Erde und im Leben eines jeden von uns zur Offenbarung kommt, dann wird wahrlich eine Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit sichtbar werden.
Was fügt nun das Vaterunser in seiner Beziehung zu Karma oder dem Gesetz des Ausgleichs hinzu? In dem gegenwärtigen Stadium unseres Denkens finden wir, daß das unbestechliche Gesetz der Natur, das jeder Ursache eine Wirkung folgen läßt, bis zu einem Ende wirkt: bis zur Herstellung des Gleichgewichts und der Harmonie. Der Mensch hat daher die Verantwortung, bewußt auf dieses Ziel hinzustreben. Dabei entdecken wir, daß das Gebet im Lichte unserer täglichen Verantwortlichkeiten zu einer Leistungspflicht wird. Wenn sich nichts außerhalb des Vaters, des Schutzengels ereignet, der über jeden Aspekt in unserem Leben wacht, dann wird unser Leben in dem Grade, mit dem wir mit dem göttlichen Inspirator gemeinsam wirken, nicht einen Ausdruck unseres persönlichen Willens, sondern des Willens des Vaters in uns erhalten.
Kurz zusammengefaßt ist dies nach meiner Ansicht die Bedeutung des Vaterunsers.