Die Brücke der Verständigung
- Sunrise 3/1957
Ursprünglich waren diese verschiednen Religionen nicht dazu ausersehen, große und mächtige Organisationen zu werden. In der ursprünglichen Darstellung dieser uralten Weltlehren und der Gesetze des Menschen und seines Lebens beabsichtigten weder Christus, noch Buddha, oder Lao Se, noch irgend ein anderer Lehrer, eine organisierte Religion zu gründen. Die Lehren, die sie gaben, entstammten direkt der Quelle - nicht als Religion oder vorgeschriebene Reihe von Dogmen, sondern als lebendige Philosophie für den einfachen Menschen, die in den täglichen Angelegenheiten der Lebensrunde betätigt werden sollten. Im Laufe der Jahrhunderte wurden viele grundlegende Schlüssel verschüttet oder gingen - wie es das Los aller alten Schriften ist - teils wegen der Übersetzungen (die oft schlecht waren), und teils, so z.B. bei der christlichen Religion, durch die wohlerwogenen Anstrengungen der ersten Kirchenväter und Priester sogar verloren. Nichtsdestoweniger können wir trotz alledem mit vorurteilsfreiem Verständnis erkennen, daß die Schlüssel, die auf diese Weltlehren hindeuten, nicht nur in den christlichen Schriften, sondern überhaupt in allen heiligen Schriften, die gleichen sind.
Während viele der Dogmen, die in den Tempeln und Kirchen des Ostens und Westens von ihren Gläubigen buchstäblich angenommen werden, gibt es Tausende von Menschen, die hinter der äußeren Form nach dem Kern der ursprünglichen Wahrheit suchen. Es gibt kein Dogma, keinen Glaubenssatz, der als Basis nicht eine grundlegende geistige Lehre hat.
Darum ist es so lebenswichtig, das Studium der vergleichenden Religionen zu betreiben - nicht einfach als rein verstandesmäßige Beschäftigung, so fesselnd diese auch sein mag, sondern hauptsächlich, um eine Brücke der Verständigung zwischen den Völkern aller Glaubenslehren zu bilden. In verschiedenen Ländern werden heute viele Anstrengungen für wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit sowie auch für eine gewisse Verständigung auf geistiger Grundlage gemacht. Aber es ist eine nicht zu übersehende Tatsache, daß wir den Abgrund zwischen dem Nationalen und dem Internationalen nie werden überbrücken können, wenn der Mensch nicht erkennt, daß sein Bruder ungeachtet seiner Hautfarbe, des Volkes oder des Erdteils,in dem er geboren wurde, dasselbe Recht auf Wahrheit hat, wie er selbst, und daß dessen Religion im Grunde ebenso umfassend und universal sein kann, wie seine eigene.
Unser Interesse muß beim einzelnen Menschen beginnen. Wir müssen versuchen,ihm so zu helfen, daß er sich selbst helfen kann. Wir alle müssen Einsichtsvermögen entwickeln, wenn wir die Eigenschaften erkennen wollen, die durch das Bewußtsein eines anderen ausgedrückt werden, ungeachtet der religiösen oder sozialen Hintergründe, die er haben mag. Wenn wir die Grundlage seiner Religion erkennen, können wir auch mit ihm in seiner eigenen Sprache reden. Das baut sofort eine Brücke der Verständigung zwischen seinem und unserem Herzen. Mit dem Verständnis kommt das Vertrauen, und wenn einmal gegenseitiges Vertrauen hergestellt ist, so wird ein Glaube geboren. Wenn der Glaube kommt, wird die Lösung unserer schwierigsten Probleme leicht.
Diese Dinge kommen nicht über Nacht. Dem einen wird echte Erhebung im Gottesdienst zuteil, einem anderen nicht. Aber ob wir zur Kirche gehen oder nicht, ob wir Christen, Buddhisten oder Mohammedaner sind, ob wir zu der großen Zahl der "Unkirchlichen" gehören, die Tatsache bleibt, daß wir zur Wahrheit gelangen müssen. Je mehr wir die alten Religionen studieren und über sie nachdenken, desto mehr werden wir unser Bewußtsein erweitern und finden, daß sie alle dieselben grundlegenden Wahrheiten lehren, daß alle diese großen Religionen aus einer Quelle hervorgegangen sind, und jede hatte und hat noch heute ihren esoterischen wie ihren exoterischen Hintergrund.
Wenn wir von der Kirche oder irgendeiner anderen geistigen Organisation sprechen, so müssen wir zwischen der Organisation selbst und ihren Mitgliedern sorgfältig unterscheiden. Unabhängig von ihrem Glauben sind die meisten dieser Menschen aufrichtig und rechtschaffen. Aber Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit allein genügen nicht, um eine Sache zu vergeistigen. Man kann hundertprozentig aufrichtig, wahrhaft ergeben und rechtschaffen sein und ist doch nicht auf dem rechten Pfad. Die Nachforschungen in unserer europäischen Geschichte zeugen davon, wie Ergebenheit und Rechtschaffenheit zu Selbstsucht und Arglist herabgewürdigt worden sind.
Der Welt werden viele Abrisse für den geistigen Fortschritt geboten. Jede Art von Organisation bürgt für Universalmittel zu rascher Erlösung. In einigen Kirchen ist es sogar so - sei es nun absichtlich oder unwissentlich - daß kaum eine geistige Kraft zu dem Volk hinüber flutet, weil ihre Lehren so dogmatisch geworden sind, daß sogar der "Geist Gottes" ausgelöscht wurde. In anderen dagegen hat die Freiheit des Denkens und das Loslösen von den veralteten Glaubensformen eine frische "Geistesbrise" einströmen lassen, und man kann ihre vergeistigende Kraft in der Gemeinschaft fühlen.
Was ist nun in den geistigen Belangen der gemeinsame Nenner? Gewiß nicht die äußeren Formen, die Glaubenssätze oder Dogmen, die der Gedankenwelt wie Fesseln auferlegt worden sind. Ist es nicht der grundlegende Glaube an irgendeine Form Gottes oder eine göttliche Macht, die die Welt und alles, was in ihr lebt, regiert und antreibt? Ob wir nun Christus oder Allah, Brahma, Buddha oder Siva, Tao, die Elohim oder Jehova verehren, so erkennen wir doch unwillkürlich die Gottheit als unsere Quelle und unseren Ursprung und sehen voll Hoffnung zu ihr als unser letztes Ziel auf.
Es ist sicher, daß Gott in dem Herzen eines jeden einzelnen von uns wohnt. Das soll nicht heissen, daß wir jetzt schon wie Gott sind, aber in den tiefsten Tiefen unserer Seele, weit über den physischen Körper hinaus, lebt das, was wir den Gottesfunken nennen, einen Funken der Gottheit, die die Welt beherrscht. Als diese Welt entstand, trat jeder von uns mit einem Funken dieser Gottheit ins Leben, damit diese Welt überhaupt bestehen konnte. Der ganze Zweck der Entwicklung ist es, den Gottesfunken zu entfalten, so daß er im natürlichen Verlauf von Zeit und Erfahrung unser ganzes Wesen beeinflussen und umwandeln wird und wenn wir Erfolg haben, so werden wir am Ende des großen Zeitalters dieses Universums dem Gottesfunken gleichen, weil wir unsere eigenen Gotteskräfte entwickelt haben.
Wenn wir die Wesenheit der Gottheit erfassen können, der gewaltigen Gottheit, die nicht allein dieses Sonnensystem während seiner Lebensdauer durchdringt, sondern auch all die anderen Sonnenwelten, von denen die Astronomen sagen, daß sie sich innerhalb unserer eigenen Milchstraße und innerhalb der Millionen anderer Milchstraßen bewegen, so werden wir anfangen, zu erkennen, was dieser Gottesbegriff bedeutet, wie unerklärlich und unbegrenzt er ist.
"Nicht ich tue diese Dinge, sondern der Vater, der in mir ist. Alle Dinge, die ich tue, werdet auch ihr tun und sogar noch größere, als ich." Faßte der Meister Jesus hier nicht alles über den wahren, allgemeinen Gottesbegriff zusammen? Deutete er nicht auf den Menschen und seine angeborenen Möglichkeiten hin? Dennoch kann die Gottheit, die die Welt beherrscht, nicht als ein persönlicher Gott angesehen werden. Es ist eher eine geistige Wesenheit, die das Ganze durchdringt. Alles ist Gott und Gott ist in allen, aber er ist dennoch nicht irgend ein Ding. Wenn die christlichen Schriften richtig übersetzt sind, finden wir nirgends, daß Gott in einem begrenzten, persönlichen Sinne erwähnt wird. Die Schriften sprechen von Göttern, von Elohim, aber nicht von Gott. Niemals versuchten die alten Hebräer, die Gottheit zu erklären. Sie erwähnen 77 Namen für Gott, aber erklären nie, was Gott ist. Sie suchen die geistige Kraft dessen zu erforschen, von dem sie fühlen, daß es Gott ist, aber sie nennen ihn nie mit Namen. Sie wollten Gott nicht nennen, weil sie wußten, daß sie damit versuchen würden, den unbegrenzten Geist in die Schranken eines Namens einzuschließen.
"Wer suchet, der findet, und wer anklopft, dem wird aufgetan." Es gibt keinen Menschen auf Erden, der nicht die Antwort auf die Rätsel des Lebens findet, wenn er ehrlich danach sucht. Keiner kann es für einen anderen tun. Aber wir können ihm helfen, die Brücke zu finden, die er überschreiten muß. Wir müssen aber fähig sein, jedem Menschen auf seinem eigenen Grund und Boden zu begegnen, ihn aufzurichten, wenn er gestürzt ist, und ihn durch das Beispiel der rechten Haltung unseres Herzens zu ermutigen. Jeder echte Schritt des Fortschreitens der Menschheit muß bei jedem einzelnen von uns von dem Standpunkt aus beginnen, auf dem wir stehen, weil sonst das Gesetz alles auf den Kopf stellen würde, wenn wir erwarteten, daß andere uns folgen sollten, bevor wir nicht selbst über diese Brücke gegangen sind die wir gebaut haben. Hier dürfen wir aber auch nicht stehen bleiben, warten und nichts unternehmen, bis wir selbst vollkommen geworden sind, denn jeder Tag unseres Lebens bringt seine eigene Mischung von Erfolgen und Mißerfolgen. Es ist niemals schwer zu erkennen, wo wir an uns selbst arbeiten müssen und wo sich uns die natürliche Gelegenheit bietet, unserem Mitmenschen zu helfen - wie wir ihm helfen können, Mut, Kraft und geistiges Verständnis für all das zu finden, was das Leben bringt. Wenn sich ein Mensch innerlich der Kraft und Führung zuwendet, wird der Gottesfunke in ihm die Hinweise geben, die er braucht. Der Erfolg kann wahrhaft beseligend sein, weil er aus der Kraft und dem Erwachen der eigenen Seele kommt.
Wenn wir erst erkannt haben, daß die Vorstellung von der Gottheit bei jedem Menschen verschieden, aber die Eigenschaft der Gottheit die gleiche ist, ob diese Gottheit nun Christus, Buddha, Krishna oder Allah heißt, und daß die göttliche Wesenheit, die diese Namen darstellen in den Herzen alles Lebendigen wohnt, in Dir und auch in mir, dann haben wir den Grundstein zur Brücke der Bruderschaft, die der Mensch auf seinem Weg aus dem Dunkel vergangener Zeiten in das Licht der Zukunft überschreiten kann, gelegt.