Und sogar größere Dinge
- Sunrise 3/1957
Tempel, Monumente und Kirchen, inspiriert durch das Verlangen, einen geeigneten Platz für die Götter und Lehrer der Menschen zu schaffen, sind gewöhnlich zu Ehren irgend eines Großen wie z.B. Confuzius oder Lao-tse in China, Gautama der Buddha, Brahma, Vishnu oder Siva in Indien, oder für den Meister Jesus von Syrien erbaut worden. Das hat aber auch zu Begrenzungen geführt, denn es fördert die Verehrung der "Person" durch die Standbilder und die symbolische Ausschmückung der geschilderten "Ereignisse" ihres Lebens. All dies neigt mehr zur Schaffung einer Religion der Erlöser, als zur Verehrung ihrer Botschaften und hemmt dadurch das wahre spirituelle Wachstum.
In allen Religionen ist der innere Wert der ursprünglichen Lehren zu finden, welche diese grossen Weltgestalten der Menschheit für den täglichen Gebrauch gegeben haben. Aber ihre Lehren sind so einfach, es ist so leicht, nach ihnen zu leben, daß wir sie übersehen, da wir unsere Aufmerksamkeit zu sehr auf Äußerlichkeiten richten. Im Laufe der Zeit wären sie endgültig verloren gegangen, wenn es nicht Mittel und Wege gegeben hätte, sie für jene zu erhalten, welche "Ohren haben zu hören" und so ihren dauernden Wert erkennen. Die Botschaft war immer die gleiche, aber sie wurde auf verschiedene Weise übermittelt, um mit den mentalen und psychischen Eigenarten und Bräuchen der einzelnen Zivilisationen, in die der eine oder andere dieser Wohltäter kam, übereinzustimmen.
Immer, wenn eine Zivilisation gelebt hatte und wieder gestorben war, wenn ein großer Lehrer gekommen war, lehrte und von der Szene abtrat, erhoben sich wieder andere, um sie zu ersetzen. Ein neuer moralischer Genius erschien, ein anderer Lehrkörper ging aus dem großen Erbe hervor. Als die Evolution fortschritt, entwickelten sich neue Wege des Lebens, neue Neigungen und Gewohnheiten, so daß sich die Oberfläche der verschiedenen Religionen auf mannigfaltige Weise zu gestalten schien, weil das leichtverständliche Muster der zu dieser Zeit bekannten Allegorien und Symbole gewählt wurde. Gegenwärtig haben wir ein weites Panorama vor uns, und wenn auch die religiösen Ausdrucksformen beträchtlich variieren mögen, so finden wir doch in allen Religionen gemeinsame fundamentale Lehren. Außerdem sind in den meisten Fällen die "Ereignisse" im Leben der Weltlehrer keine biographischen Skizzen, sondern vielmehr allegorische Epen, welche die inneren spirituellen Erfahrungen dieser Auserwählten, die vom Menschtum zur Gottheit emporstiegen, beschreiben.
Seit unermeßlicher Zeit gibt es zwei Methoden, heilige Lehren zu verkünden: Für jene, die von äußerer Verehrung abhingen, und für die eine tiefere Erkenntnis wenig Anreiz bot, wurden sie in Form von Gleichnissen, Legenden und in symbolischer Sprache gegeben. Für die geschulten Jünger wurden "die Geheimnisse des Himmels" nach dem universalen Muster und der Stellung des betreffenden Menschen mitgeteilt. Manchmal erfolgte dies in kleinen Gruppen, wobei der Lehrer im Kreise einiger ernster Schüler saß. Das ist eigentlich die wörtliche Bedeutung der "Upanishaden" -: Die Lehren erfassen, während man "zu Füßen des Meisters" saß. Was bedurfte dieses Einfache noch der Gebäude und Zeremonien! Zu anderen Zeiten wurden Lektionen innerhalb von Gebäuden abgehalten, wo Schriften vorgelesen, studiert und wiederholt wurden. Wie auch immer die Methode war, das Prinzip der Schulung war in der einen oder anderen Form der Ausdruck von spiritueller-intellektueller Disziplin der archaischen Mysterienschulen, in der solche Schüler oder Neophyten, die sich nach spirituellem Fortschritt sehnten, vor allem gelehrt wurden, in der höchsten Ethik, der wichtigsten Vorschrift des Seins "für das Wohl der Menschheit zu Leben".
Die Erziehung in diesen Schulen war derart, daß keine Anlage und kein Teil des Individuums auf Kosten eines anderen Teiles oder einer anderen Veranlagung überentwickelt wurde. Es war ein umfassendes Erziehungssystem, in dem man Inspiration für den Geist in der Religion, Nahrung für die höheren Bereiche der Philosophie und die Ausbildung des Intellekts in den Wissenschaften finden konnte. Dadurch war die Gelegenheit für eine harmonische Entwicklung der physischen, psycho-emotionalen, mentalen und spirituellen Kräfte gesichert. Das Resultat war eine "ganze" Persönlichkeit, das Endziel ein "vollkommener Mensch" zu sein, der in den höchsten Ausdehnungen seines Seins lebte, jeder Punkt bedeutete eine innere "Geburt" einer neuen Fähigkeit oder Kraft. Jesus selbst war ein Eingeweihter, der eine gewisse Zeit in Zurückgezogenheit in Alexandrien und an anderen Orten lebte, für die die Welt den Blick verloren hatte, und trat dann in Erscheinung, um das "Evangelium" zu verkünden. Könnte dies nicht sein geheimnisvolles Verschwinden für eine so lange Zeit erklären?
Im antiken Mysterien-Zyklus folgten die Prüfungen, Zeremonien und Einweihungen in den höheren Pfad des Lebens dem Kreislauf der Jahreszeiten. Die der "Geburt" wurde zur Zeit der Wintersonnenwende am 21./22. Dezember vorgenommen, (später, als der Kalender zurückgestellt wurde, am 25. Dezember). Die der "Jugend" zur Frühlings-Tag und Nachtgleiche am 21./22. März, die des "Mannesalters" oder der Reife in der spirituellen Entwicklung zur Sommer-Sonnenwende bzw. am 21./22. Juni, während der Höhepunkt des erworbenen Wissens durch das große Scheiden oder die Verklärung zur Herbst-Tag und Nachtgleiche am 21./22. September symbolisiert wurde. Ein reiches Vermächtnis an spirituellen Werten wurde somit der christlichen Religion hinterlassen, die noch geboren werden mußte. Einiges davon ist noch in der Gegenwart erhalten, wenn auch sein innerer Wert im Laufe der Zeit zum größten Teil verloren gegangen ist.
Um das Interesse des Volkes anzuregen oder solche, die bereit waren, weiter zu forschen, aufzurufen, wurden besondere Mysteriendramen aufgeführt, um etwas bildlich darzustellen, was der Jünger auf dem Pfad zu seinem spirituellen Selbst zu durchlaufen hatte. Im Laufe der Jahrhunderte nahmen diese dramatischen Allegorien verschiedene Formen an, die manchmal gefährliche Abenteuer, Kraft und Mut von dem Neophyten verlangten, wie wir sie in der Geschichte von Herkules und seinen zwölf Arbeiten finden, oder sie wurden als gigantischer Kampf zwischen gegnerischen Mächten dargestellt, welche die niederen und höheren Kräfte symbolisierten, so z.B. in der Bhagavad-Gîtâ, wo Dhritarashtra den Körper, Arjuna die menschliche Seele und Krishna das höhere Selbst darstellen. Zu anderen Zeiten wurden Geschichten von langen, herzbrechenden Wanderungen in fremde Länder erzählt, wo eventuell irgendwann ein geistiger Hafen erreicht wurde - wie bei den Fahrten des Odysseus oder in der Geschichte von Moses, wenn dieser sein Volk aus einem Land der Gefangenschaft in ein Land der Verheißung führt. Ferner gibt es die Legende vom allwissenden König Salomon, dessen viele Frauen spirituelle Fähigkeiten symbolisieren, und dessen reiche Bergwerke und Juwelen die vielfältigen Flächen der Lehren der antiken Tradition darstellen. Erzählungen von grossen Abenteuern oder langen Reisen, die schließlich belohnt werden, spielen eine Hauptrolle in spirituellen Unterweisungen, besonders in dem Griechisch-Romanischen Zyklus der Mysterien-Erziehung, deren Einfluß den westeuropäischen Geist weit stärker durchdrungen hat, als sich kirchliche Autoritäten einzugestehen wagen. Die Arbeit Orestes in den Eumeniden, von Jason und dem goldenen Vlies und später das Suchen des Ritters nach dem heiligen Gral, das alles berichtet von dem Kampf der Seele mit den materiellen Kräften und ihrem Sieg im spirituellen Leben.
Wo befanden sich diese Zentren? Die über die ganze Erde verstreuten Überreste sind so zahlreich, daß man lieber fragen sollte: "Wo gibt es keine?" Archäologen finden ihre Spuren in Ur in Mesopotamien, Sippar in Assyrien, Carnak in der Bretagne, in den herrlichen Felsenhöhlen von Karli und Elephanta in Indien, sie wurden in Eleusis und Samotrake in Griechenland, Ephesus in Kleinasien, in Theben, Karnak und anderen Stellen Ägyptens so wie auch in den gigantischen Überresten zu Stonehenge und Avebury in Großbritannien entdeckt; Judäa, Ostasien und auch beide Amerikas sind reich an Religionen, denn jedes Land hat seine heiligen spirituellen Impulse, seine großen Lehrer und seine Tempel.
Wenn wir in der Geschichte zurückblättern finden wir Krishna, der fünftausend Jahre vorher in Indien lebte und Inspiration von einigen der erhabensten Schriftstücke hinterließ. Im selben Land, Gautama den Buddha, der den edlen achtfachen Pfad lehrte und dessen Lehren in den Buddhismus überleiteten, welcher nach vielen Jahrhunderten die friedvollste Geschichte aller Religionen gehabt hat. Fast zur gleichen Zeit bereisten Lao-Tse und Confuzius China und legten erneut auf eine straffe Moral und Ethik Nachdruck und rotteten nicht nur in der Regierung sondern auch im individuellen Leben ihres Volkes verderbliche Einflüsse aus. Am Tempel zu Karnak in Ägypten, 1500 Jahre vor Christi sind Szenen von der "Geburt" Horus', des Sohnes der Sonne eingemeisselt, auf welchen wir eine Darstellung in ägyptischen Trachten finden, die der christlichen Geburtsszene ähnelt. Ungefähr 1375 vor Christi folgte ihm der große Reformer Akhnaton, der entartete Formen der Anbetung verwarf und damit die priesterlichen Anordnungen umstürzte. Diese und andere der gleichen Struktur beleben die Seiten der Geschichte und Vorgeschichte, denn in jedem Lande und in jeder Zeitepoche war und wird "eine Inkarnation" der Wahrheit sein, wenn auch verschieden in der Form und für die jeweilige Zeit schwer zu erfassen.
So wie die Evolution fortschreitet und sich die Erde immer um ihre Achse dreht erkennen wir, daß die ganze Menschheit durch ein spirituelles magnetisches Band zusammengehalten wird, ein Band, gebildet durch die Bruderschaft der Weltlehrer. Sie sind verschieden bezeichnet worden, aber alle sind wahre "Söhne der Sonne", Weise der Erde, die weder Vaterland, Rasse noch Zeit kennen. Sie erscheinen in feststehenden Intervallen, um dem trägen menschlichen Geist neuen Auftrieb zu gehen. Jesus brachte, ihren Fußstapfen folgend, wieder einmal dieselbe Botschaft der Hoffnung: daß in jedem Menschenherzen ein schlafendes "Christus-Kind" wohnt; daß durch immerwährendes Bemühen, durch starken Willen und hohen Entschluß eines Tages dieses "Kind durch uns zum Leben erweckt werden kann", und "Du sogar noch größere Dinge als diese tun wirst."