Der Baum des Schicksals
- Sunrise 3/1957
Gautama der Buddha soll seine Erleuchtung empfangen haben während er unter dem Bo-Baume saß - das Wort Bo stammt aus dem alten Sanskrit und bedeutet Weisheit - eine Weisheit, die nicht aus dem Intellekt, sondern aus dem Geist geboren wird.
Die Hindumythologie ist reich an Symbolen, die universale Wahrheiten verbergen. Der Banyanbaum, z.B. (der indische Feigenbaum) mit seinem auf- und abstrebenden Wurzelsystem, bedeckt, wenn er gewachsen und alt geworden ist, eine große Fläche mit seinem Netzwerk von Wurzeln und Ästen. Er ist ein schönes Symbol einer großen lebenden Hierarchie, der durch ein weites System von Wurzeln zusammenhängt und wegen seiner herabsteigenden Linie von Lehrern der ewig lebendige menschliche Banyan genannt wird, der Mitleid, Weisheit und Frieden über das Land verbreitet.
In der griechischen Mythologie wird die Tugend, Güte und Weisheit der Götter und Göttinnen oft mit Bäumen in Verbindung gebracht. Besonders zu erwähnen ist der Mythos von Athene, der Göttin der Weisheit, in Gestalt eines Olivenbaumes, der alle Bewohner in seiner Umgebung an seinen Früchten teilnehmen läßt.
Im alten Testament aßen Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Bedeutet dies buchstäblich das Kosten von der Erkenntnis des Bösen, wie es uns unsere dunklen Zeitalter glaubhaft machen wollen? Oder war es in allegorischer Form die uralte Geschichte jenes Zeitpunkts menschlicher Entwicklung, in dem das Licht der Vernunft, die Macht der Wahl, die Gabe des freien Willens und des vernunftgemäßen Denkens zu einer bedeutsamen Kraft wurde? Mit anderen Worten: Adam und Eva, welche die kindliche Menschheit verkörpern, hatten in ihrem langen Kreislauf der evolutionären Erfahrung das Stadium des Wachstums erreicht, in dem in der Seele das spirituelle Sehnen erwachen konnte. Unter diesem Zwang stehend, genossen sie den Apfel, die Frucht vom Baume der geistigen Erkenntnis. Von diesem Zeitpunkt an fühlte der Mensch die Macht der spirituellen Wahrnehmung und wurde zu einer verantwortlichen Einheit mit der Fähigkeit und Kraft, sein ferneres Schicksal zu meißeln. Aus einer unbeholfenen, mühseligen, ins Fleisch geborenen Kreatur wurde ein Mensch, der erkannte, daß er das Leben nach seinem eigenen Geist gestalten konnte.
Auch in den alten Nordischen Legenden können wir sehen, daß der Baum eine wichtige Rolle spielt. Von Odin, dem Vater der Götter, wird berichtet, daß er "neun Tage und Nächte an einem Baum hängen" mußte, während sein Geist in die kosmischen Tiefen stieg, um von dort den Menschen das Erwachen der Weisheit und der Erkenntnis zurückzubringen. In der skandinavischen Edda haben wir Yggdrasil, die große Esche oder den Weltenbaum, der manchmal auch der Baum des Hauses genannt wird. Er wächst aus dem Boden des Hauptraumes durch das Dach, um mit seinen Ästen und Zweigen die Hausbewohner zu beschützen. Im religiösen Symbolismus ist das "Haus" oft der physische Körper. Wir haben hier wieder den Begriff des Geistes, der mit seinen Wurzeln und Fühlern die Materie durchdringt, um das physische Leben mit dem Licht des Geistes zu erleuchten und der ringenden Menschheit das Wissen zu geben.
Richard Wagner benutzte diesen Mythos vom Baume des Lebens besonders in seiner Walküre. Der ganze erste Akt behandelt das Ringen der menschlichen Seele, dargestellt durch die Gestalt des Sigmund, der die Leidenschaft, die Schlacken und das Ungestüm des emotional-physischen Lebens abstreift und gegen den Frieden und das Behagen am Herd von Hunding's Hütte eintauscht. Hier haben wir wieder das Haussymbol mit dem in der Mitte der Bühne stehenden Baum und der darunter stehenden, mit einem reinen, weißen Gewande bekleideten Sieglinde, die Sigmund's höheres Selbst verkörpert. Hunding repräsentiert natürlich die niedere Seite der menschlichen Natur, die schließlich überwunden wird.
Zu Beginn der Oper ist es auf der Bühne Nacht. Sigmund betritt in höchster Erschöpfung die Hütte und wirft sich am Herd zu Boden, wo ihn Sieglinde findet, die aus einem Nebenraum kommt. Sie hilft ihm, sich zu erheben und erkennt in ihm bald den lange vermißten Zwillingsbruder. Später betritt Hunding, der schlief und nun aufgewacht war, den Raum und will mit dem Eindringling kämpfen. Sieglinde aber beruhigt ihn, gibt ihm einen Schlaftrunk und er zieht sich zurück. Nun beginnt Sieglinde ihre lange Arie, in der sie ihm von vergangenen Verbindungen und von ihrer Liebe zu Sigmund erzählt und versucht, ihn zu zwingen, sie wieder zu erkennen. Sie dringt in ihn, seine früheren Wege zu vergessen und ihr in ein Leben voll Wonne zu folgen. Währenddessen kehrt Sigmund's Kraft, als er aufmerksam ihren Argumenten lauscht, wieder zurück. Sie berichtet ihm von dem Schwert, (dem Symbol des spirituellen Willens), welches von Wotan (Odin) im Stamme des Baumes begraben worden ist, und mit dem er (Sigmund) seine Feinde erschlagen und sie aus der Knechtschaft befreien könne.
Von Zeit zu Zeit blitzt indessen ein Licht im Baumstamm auf - vielleicht ein Symbol der spirituellen Intuition? Im Besitze seiner vollen Kraft erhebt sich schließlich Sigmund wieder und mit einem herrlichen Ruf des Triumphes zieht er das Schwert aus dem Stamme des Baumes. Als die Morgendämmerung anbricht, umarmt er Sieglinde und mit dem Schwert umgürtet, verlassen beide die Hütte und stehen dem Sonnenaufgang aus dem Tore des Ostens gegenüber. Könnte es nicht sein, daß hier der Sonnenaufgang das Licht des Geistes symbolisiert, welches die Dunkelheit der materiellen Nacht durchbricht und die Erde mit seinen Strahlen erwärmt? Die Seele, niedergeschlagen von den Stürmen der Nacht, kämpft mit den üblen Mächten und erhebt sich nun siegreich im Geist. Der nordische Mythos des Hauses, die Seele, das niedere Selbst, das durch die Macht des spirituellen Willens zu Fall gebracht wird, und das Verschmelzen des Menschlichen mit dem Geistigen - das ist die alte Geschichte des Menschen, der endlich die Fesseln abstreift und Erleuchtung und Weisheit unter dem Baume der Erkenntnis erlangt.
"Ich bin der Baum, Ihr seid die Äste" - um der Menschheit zur Geburt der inneren geistigen Kraft zu verhelfen, um den inneren Christus zu erwecken, wurde Jesus auf der Erde geboren: uns, wenn Weihnachten kommt, wieder daran zu erinnern, daß der Mensch seine physischen Wurzeln zwar in der Materie hat, seine Zweige und Blätter sich aber der Sonne zuwenden, da sein spiritueller Urquell der Universale Baum ist, der seine Zweige nach allen Richtungen hin ausbreitet.