Geben und Empfangen
- Sunrise 3/1957
Wenn wir wirklich innehalten, um nachzudenken, werden wir sehen, daß das, was er sagte, in einem konstruktiven Sinn absolut wahr ist. Jeder, dem wir zwischen dem Aufstehen am frühen Morgen und dem Zubettgehen am Abend begegnen, gibt uns Gelegenheit, ihm etwas zu geben. Es kann gar nicht anders sein, weil im Verlauf der menschlichen Begebenheiten und jener natürlichen Verbindung, die von Tag zu Tag zwischen uns und unseren Mitmenschen vorhanden ist, ein beständiges Geben und Empfangen, Empfangen und Geben stattfindet. Meistens tun wir es unbewußt. Entweder haben wir gegeben oder empfangen. Wir wollen dies aber nicht auf seine materielle Anwendung beschränken - wenn wir auch einem Mann, der uns um eine Tasse Kaffee bittet, ein Zehnpfennigstück schenken, dem Rotkreuz-Sammler etwas geben oder ein Geschenk materieller Art erhalten. Wir wollen hinter die Bedeutung dieses Gebens und Empfangens kommen und versuchen, deren wahren Sinn, ihre gegenseitige Beziehung und ihren Wechsel zu erforschen. Ist es nicht in Wirklichkeit die tatsächliche Basis, auf der das Leben beruht und auf der Du und ich und wir alle zusammen unsere Stärke und unser Wachstum, besonders unsere innere Stärke und unser inneres Wachstum errichten? Wenn wir wirklich ernsthaft über dieses einfache bißchen Philosophie nachdenken, werden wir nicht nur praktische Hilfe bei der Lösung der Probleme und Situationen finden, denen wir Tag für Tag gegenüberstehen, sondern dabei auch erkennen, was das Leben wertvoll, interessant und anregend macht. Wir werden die Kraft jener spirituellen Erkenntnis fühlen, die uns sagt, was das Leben wirklich sein soll.
Die meisten von uns kennen die Erfahrung, die man macht, wenn man jemandem, der es nicht - und schon gar nicht von uns - erwartet hat, ein wenig Güte entgegenbringt, und haben die Reaktion auf diese Güte darin gefühlt, daß wir uns stärker vorkamen und glaubten, wir hätten in Wirklichkeit mehr erhalten als wir gaben. Andererseits, hoffe ich, hatten wir auch die Erfahrung gemacht, von irgendjemandem ganz unerwartet ein gütiges Wort zu empfangen, von einem Menschen, von dem wir am allerwenigsten erwartet hatten, daß er uns ein gütiges Wort, ein bißchen Beistand oder Verstehen schenken würde. Wir können uns der Wärme und des tiefen Gefühls der Größe und Würdigung erinnern, das dabei durch unser ganzes Bewußtsein floss. Für einen flüchtigen Moment, vielleicht auch etwas länger, fühlten wir etwas, was undefinierbar und doch uns allen eigen ist - jene hohe Qualität der Güte, die in jedem Menschen wohnt, ganz gleich, wie sie sich äußert. Eine solche Erfahrung zu machen, bedeutet einen Segen, nicht nur einen Segen für den Augenblick, sondern das Glück an unserer Tür, jenes Glück, das unser ist, wenn wir erkennen, daß uns alle ein gemeinsamer Faden von hoher Qualität verbindet, die in jedem von uns schläft und auf Offenbarung wartet.
Wir haben schon viele hochtönende Phrasen gehört und gelesen, viele philosophische Betrachtungen und Ermahnungen dieser und jener Art, die uns sagten, was wir tun sollten und was nicht, wie wir leben sollten usw. Aber wir dürfen darüber nicht die einfachen Dinge des Lebens vergessen, jene sehr einfachen Dinge, über die wir Tag für Tag stolpern und die ein Schlüssel für ein volleres Verständnis und für eine vollständigere Vorstellung von dem sind, was dieses unser Leben wirklich ist. Oft werden wir von allen unseren persönlichen und anderen Verantwortlichkeiten ganz verwirrt. Auf Grund der vielen Fehlschläge, die wir erfahren, sind wir geneigt, mutlos zu werden und zu sagen: "Was ist das Leben überhaupt wert". Aber ist es nicht wahr, daß wir an einigen dieser tatsächlichen Wahrheiten vorübergehen, die uns helfen würden, nicht nur das Leben zu verstehen, sondern uns Stärke und Fähigkeit geben, mehr von diesen Wahrheiten zu erkennen, indem wir die Straßen des Lebens weiter gehen?
Haben wir uns jemals Zeit genommen, darüber nachzudenken, was die Anwendung dieser einfachen Wahrheiten bedeuten würde, wenn eine größere Anzahl von Leuten versuchte, sie in ihrem täglichen Leben anzuwenden? Die meisten von Ihnen haben schon ein Fußballspiel besucht, bei dem eine ungeheure Menschenansammlung war, sechzig, siebzig, tausend oder mehr. Wenn der richtige Spielgeist und der Geist echter Sportkameradschaft vorherrschte, die Musik spielte und die Darbietungen wie ein Akkord zusammenklangen, wenn Sie das alles bemerkten, dann, denke ich, können sich die meisten von Ihnen einen Begriff davon machen, was sich ereignen könnte, wenn Tausende und Abertausende Tag für Tag, mit einem ähnlichen Geist in ihren Herzen tätig wären, um eine solche einfache Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, die das spirituelle Licht enthält, nach dem wir suchen. Es läßt sich leicht erkennen, welchen Einfluß, welche Wirkung solch eine positive und konstruktive Kraft auf die ganze Welt und auf die Gedanken und Handlungen der großen Masse der Menschheit haben würde.
Was hat es z.B. mit Weihnachten auf sich, wo es so leicht für uns ist, Geschenke zu geben und zu empfangen, und zu empfangen und zu geben? An sich sind die Geschenke unwichtig, es kommt vielmehr auf den Geist des Austausches an. Er ist für das Leben jedes Menschen das Maßgebende. Und tatsächlich liegt zur Weihnachtszeit etwas in der Luft, was kaum zu definieren ist, das aber ohne Zweifel die universale Einsicht, in das, was sowohl das Empfangen als auch das Geben wirklich bedeutet, wenn wir es umkehren, das Geben ebenso wie das Empfangen. Die Geschenke, die wir austauschen, sind die Symbole für jene schlafende Qualität in der Natur jedes Einzelnen von uns, die jetzt noch ruhig ist, aber sicherlich nach Ausdruck verlangt - nach Ausdruck in den einfachsten Ereignissen des Lebens.
Weshalb kann dieser brüderliche Geist, der zur Weihnachtszeit herrscht, nicht das ganze Jahr hindurch andauern? Nun, auch hier müssen wir wieder auf dem Boden der Wirklichkeit bleiben. Die Menschheit als Ganzes hat in ihrem Wachstum noch nicht den Punkt erreicht, an dem sie die Stärke erworben hat, diesen Geist beständig, Tag für Tag und Jahr für Jahr anzuwenden. Eines Tages wird die Zeit kommen, wo dies der Fall sein wird. Aber wir müssen dem Leben und seinen Wirklichkeiten, wie sie heute existieren, ins Gesicht sehen. Wir können uns von dem Punkt, an dem wir augenblicklich stehen, nur fortbewegen, wenn wir zunächst den ersten Schritt tun und dann weitere Schritte folgen lassen. Vor allen Dingen wollen wir heute dafür dankbar sein, daß es den Geist der Weihnacht gibt, den Geist des Gebens und Empfangens und Verstehens, und daß er heute seinen Ausdruck findet. Wenn es auch scheinen mag, daß dies keine Dividenden in materiellem Sinne bringt, so können wir den Wert der Wärme des Sonnenscheins doch nicht leugnen, der sich in unseren Herzen bemerkbar macht, wenn der Geist des echten Weihnachtens durch unser Bewusstsein fließt. Wenn wir dies alles überlegen, so können wir auch weiterhin nicht leugnen, daß in dem Grade, in dem wir versuchen, diesen Geist in einer praktischen Weise jeden Tag zum Ausdruck zu bringen, wir auch erkennen werden, daß jede Person, die wir treffen - gleichgültig, ob sie sich dieser Tatsache bewußt ist oder nicht - mit uns zusammentrifft, um etwas von uns zu erhalten, was nur wir allein ihr geben können oder, wenn sie der Geber ist, daß sie uns begegnet ist, weil sie uns etwas zu geben hat, was lediglich sie allein uns geben kann.
Dieser natürliche Umstand kann sich, wenn wir ihm in unseren Gedanken und Beobachtungen Aufmerksamkeit schenken, als die größte Hilfe im Leben und im Fortschritt der Menschheit erweisen. Es wird dann nicht lange dauern, bis seine Anwendung in einem viel größeren Maße erfüllt werden wird. Und dann wird der Geist des Weihnachtsfestes durch alle Jahreszeiten hindurch andauern.