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Tausend Lichter entzünden

13 – Die Pāramitās

In der Stimme der Stille beschreibt H. P. Blavatsky den mitleidsvollen Weg wie folgt:

Für das Wohl der Menschheit zu leben, ist der erste Schritt. Die sechs glorreichen Tugenden auszuüben, ist der zweite.

– S. 50

Die sechs glorreichen Tugenden sind die Pāramitās, die der Neophyt meistern muss, während er auf dem zur höchsten Initiations-Erfahrung führenden Pfad wandert. Der Terminologie des Mahāyāna-Buddhismus entsprechend, stellte HPB diese „transzendenten Tugenden“ oder „Vervollkommnungen“ in ihrer Stimme der Stille (S. 68) als die „goldenen Schlüssel“ dar, welche die Pforten zur Meisterschaft öffnen. Buddhistische Texte sowohl der nördlichen als auch der südlichen Schulen zählen unterschiedlich viele in verschiedenen Reihenfolgen auf, manchmal mit einer anderen Auswahl von ‘Tugenden’. Die für diese oder jene ‘Tugend’ gewählten Worte, ihre Anzahl oder ihre Anordnung sind nicht so wichtig; was zählt, ist das Festhalten am Bestreben, die Begrenzungen des gewöhnlichen Selbst zu überwinden.

Was sind diese Parāmitās? Von den sieben in der Stimme aufgezählten ist die erste Dāna, „Geben“, Sorge für andere, altruistisch sein im Denken, Sprechen und Handeln. Die zweite ist Śīla, „Ethik“, die hohe Moral, die von dem ernsthaften Schüler erwartet wird; die dritte, Kshānti, „Geduld“, Nachsicht, Dauerhaftigkeit, ist die gütige Einsicht, dass die Verfehlungen anderer nicht schlimmer und vielleicht weniger gravierend sind als die eigenen.

Was die vierte Parāmitā betrifft, Virāga, „Leidenschaftslosigkeit“, Gleichmut in Bezug auf die Wirkungen vom Auf und Ab des Lebens auf uns: Wie schwierig finden wir das, und doch – wenn wir in unserem tiefsten Innern das Bodhisattva-Ideal hegen – billigt die Entwicklung von Virāga keinesfalls Gleichgültigkeit gegenüber der Notlage anderer. Sie verlangt vielmehr ein weises Ausüben von Mitleid. Es ist interessant, dass unseres Wissens diese Parāmitā in den gewöhnlichen Sanskrit- und Pāli-Aufzählungen nicht angeführt wird. Dass die Stimme Virāga aufzählt, ist insofern bedeutsam, als die vierte Position zentral ist, die Mitte in der Reihe von sieben. Wir werden hier an die sieben Stufen des Initiations-Zyklus erinnert, von denen die ersten drei vorbereitend sind und hauptsächlich aus Unterweisung und innerer Disziplin bestehen.1 Bei der vierten Initiation muss der Neophyt das werden, was er gelernt hat, das heißt, er muss sich mit den inneren Reichen in sich selbst und der Natur identifizieren. Wenn er erfolgreich ist, kann er die drei höheren Grade versuchen, die zum Erleiden des Gottes im Innern führen, der von seiner Menschlichkeit Besitz ergreift.

Gleichmütig gegenüber allen Umständen, gegenüber Freude und Schmerz, Erfolg und Versagen zu werden, bedeutet, die Ruhe eines Muni, eines ‘Weisen’, erreicht zu haben; es bedeutet, sich vollständig mit der Wahrheit zu identifizieren, nämlich dass – obwohl alles, was geboren wird, in sich die Saat seines Verfalls trägt – das innewohnende Wunder, der unvergängliche Geist, wie er so gewandt in der Bhagavad-Gītā besungen wird, todlos ist, ungeachtet aller Gegensatzpaare. Womöglich erscheint uns der Status eines Weisen weit entfernt; der Versuch aber, Virāga ernsthaft auszuüben, verspricht eine große Befreiung von der Last der Spannung, die wir uns selbst unnötigerweise aufbürden – und leider auch anderen.

Die fünfte Pāramitā ist Vīrya, „Kraft“, Mut, Entschlossenheit; der Wille und die Energie, unerschütterlich für das einzustehen, was wahr ist, und ebenso energisch dem entgegenzutreten, was falsch ist. Mit der sechsten, Dhyāna, „Meditation“, tiefe Kontemplation, sich selbst von allem leer machen, was geringer als das Höchste ist, kommt ein natürliches Erwachen latenter Kräfte, die schließlich in dem Einssein mit der Essenz des Seins gipfeln.

Schließlich die siebente, Prajñā, „Erleuchtung, Weisheit“ – „der Schlüssel, der aus einem Menschen einen Gott macht, ihn in einen Bodhisattva, einen Sohn der Dhyānis, verwandelt“. Wir werden „von einem Sterblichen zu einem Gott“ geworden sein, wie der orphische Kandidat diesen heiligen Augenblick der siebenten Initiation beschreibt, wenn Transzendenz und Immanenz eins werden.

Die volle Beherrschung der Pāramitās, wie sie auch immer aufgezählt werden, ist natürlich ein Langzeit-Unternehmen, und doch birgt das beharrliche Bemühen, sie auszuüben, den Verdienst, ohne das Risiko eines Kurzschlusses der Psyche mehr unmittelbare Leistungen hervorzubringen. Der Entschluss zu beginnen verändert unsere Haltung und Betrachtungsweise und auch unsere Beziehung zu anderen. Könnten wir unser gewöhnliches Selbst vom Standpunkt unseres weiseren Selbst aus beurteilen, würden wir erkennen, dass ein feines, inneres Erwachen ständig vor sich geht; zu fein, um es zu registrieren, aber kumulativ in seiner Wirkung auf unser gegenwärtiges und künftiges Karma. Wir müssen nicht spirituell ‘fortgeschritten’ sein, bevor wir bewusst die tägliche Wahl treffen, welche den Bodhisattva-Pfad vom Pratyeka-Pfad unterscheidet. Wenn wir getreulich versuchen, diese Pāramitās zu leben, werden wir nicht nur der Verwirklichung der universalen Bruderschaft näherkommen, nach der wir uns alle sehnen, sondern wir werden dem Weg der Mitleidsvollen folgen.

Zusammen mit der täglichen Übung der Pāramitās müssen die Sämlinge des Altruismus durch den Regen des Mitleids bewässert werden, trotz der karmischen Hindernisse in der Natur, die zu Trägheit neigen. Tsong-kha-pa, der Weise Tibets, erklärte, dass die ehrfürchtige Ausübung von Mitleid „der erhabenste Grund von Buddhaschaft ist, die den Charakter von fürsorglichem Schutz für alle verletzlichen Wesen in sich birgt, die im Gefängnis zyklischer Existenz gefangen sind“.2 Das ist der Amṛita-Yāna oder der ‘todlose Pfad’ in seiner reinen Interpretation. Wenn schließlich ein Schüler in ‘der Familie der Tathāgatas’ geboren wird, erfährt er überwältigende Freude – und doch unermessliches Leid wegen der geistigen Trägheit eines so großen Teils der Menschheit.

Die Gegenwart ist schwer beladen mit dem Karma vergangener Saaten von uns allen, aber wir sollten die Saaten kreativen guten Willens, die durch viele Leben gehegt wurden, nicht außer Acht lassen. Auch wenn letztere eine lange Zeit zur Reife zu brauchen scheinen, erinnern wir doch daran, dass Prinz Siddhārta nicht sofort zu einem Buddha wurde: ‘vor vier Ewigkeiten’ – vor derart langer Zeit – gelobte er, um der leidenden Menschheit willen ein Bodhisattva zu werden. Für Tausende folgende Leben danach behütete er die Pflanze des Mitleids, bis sie schließlich während seiner letzten Geburt im indischen Kapilavastu ‘zu völliger Reife’ gelangte.

Wir wollen einen Sprung zurückmachen in die ferne, ferne Vergangenheit – zu jenem ‘Augenblick’ in der Ewigkeit, als Gautama die erste Regung der Liebe zur gesamten Menschheit verspürte und die Vision hatte, was sein könnte und sollte – nicht nur für ihn selbst, sondern für alle Lebewesen. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Same der Bodhisattvaschaft zum Leben erweckt, und, die Samenkapsel sprengend, sandte er eine winzige Wurzel in den jungfräulichen Boden seines erwachenden Bewusstseins hinunter. Er fällte die folgenschwere Entscheidung, an Weisheit und Herzensgröße zu reifen. Seine Vision weit in die Zukunft richtend, baute er willentlich ein Floß für das Dharma, damit er zahllose Millionen über das Meer von Illusion und Schmerz zum anderen Ufer von Freiheit und Licht führen konnte.

Vor langer Zeit also war der historische Buddha ein gewöhnlicher Mensch, strebsam, jawohl, aber auch so wie wir mit Charakterschwächen und karmischen, noch nicht gelösten Hindernissen aus früheren Leben. Wir können annehmen, dass er ab und zu stolperte und verlorenes Terrain wieder gutmachen musste und dass auch seine Gefährten im einen oder anderen Leben aus seinen Fehlurteilen und auch aus seinen Siegen über sich selbst unterschiedliche karmische Impulse empfingen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, sich der allgemeinen Strömung entgegenzustellen, weil sein Motiv selbstlos war und sein Entschluss einem stabilisierenden Einfluss diente – Leben um Leben war das Bodhisattva-Ideal seine Inspiration und Führung. Sicherlich hat sein schließlicher Triumph und Verzicht all diejenigen dreifach gesegnet, deren Karma er während seines langen Heranreifens von einem gewöhnlichen Menschen zu einem Buddha beeinflusst hatte.

Jeder Lebensfunke ist ein Bodhisattva, ein Christos, ein Gott im Prozess des Werdens. Hui-neng aus China, der einfache Diener im Tempel, verstand das, und als sein inneres Auge erwachte und er ein Meister des Ch’an-Buddhismus wurde, brachte er es folgendermaßen zum Ausdruck:

Wenn Buddhas nicht erleuchtet sind, sind sie nicht anders als gewöhnliche Wesen; wenn es zu Erleuchtung kommt, verwandeln sich gewöhnliche Wesen augenblicklich zu Buddhas.3

Wir haben dieselbe Möglichkeit: jetzt zu beginnen, die Samen der Liebe und Fürsorge zu säen – trotz der selbstsüchtigen und widerspenstigen Eigenschaften, die unsere Natur entstellen. Vollständige Erleuchtung mag in ferner Zukunft liegen, und obwohl auch wir die erhabene Wahl im letzten Schicksals-Augenblick treffen müssen, wird sie die ganze Zeit über entlang des Weges vorbereitet. In jeder Sekunde unseres Lebens arbeiten wir in unseren Charakter entweder die Selbstzentriertheit ein, die zu Pratyekaschaft führt, oder die Großzügigkeit des Geistes, die uns dazu antreiben wird, den ersten Schritt auf dem Bodhisattva-Pfad zu tun. Beide Pfade verlaufen auf der Lichtseite der Natur, aber es gibt dennoch eine klare Unterscheidung: Wie in buddhistischen Schriften aufgezeichnet, wird der Pratyeka mit „dem Licht des Mondes“ verglichen im Gegensatz zu dem Tathāgata, welcher „der tausend-strahligen Scheibe der Herbstsonne gleicht“.4

Jedes Lebewesen ist die Frucht eines anfang- und endlosen Hervorfließens aus dem göttlichen Samen, denn in der Samenessenz liegt das Versprechen dessen, was sein wird: eine ungeheure Potenz, träge bis zu dem mystischen Augenblick, in dem die Lebenskraft durchbricht und Blume und Frucht hervorbringt. Sobald ein Same in einer geeigneten Umgebung gesät ist, schützen und stimulieren die Naturelemente Erde, Wasser, Luft und Feuer sein Wachstum. So ist es mit uns selbst: Unterstützt durch die unsichtbaren Gegenstücke dieser Elemente, hinterlassen die Gedankensamen, die wir Tag und Nacht säen, ihren Eindruck in den feinen Energien, die durch unseren Planeten zirkulieren. Da wir eine Menschheit sind – wie getrennt voneinander wir uns zeitweise auch fühlen mögen –, teilen wir mit allen anderen, was wir sind, sowohl unser Edelstes als auch unser Unedelstes. Welche Verantwortung wir haben, aber auch welch eine erhabene Gelegenheit! Geradeso wie wir für die niederen Schichten der Gedankenkräfte empfänglich sind, wenn wir mutlos sind, so können wir mit den höchsten Bereichen der aurischen Atmosphäre mitschwingen und vielleicht – wenn wir ruhig sind – die feinen Einflüsterungen hören, die zu Staunen und edlen Taten inspirieren.

Bei ihrer hingebungsvollen Arbeit, das Leid von Millionen von Menschen zu erleichtern, manifestieren viele Menschen heutzutage eine Qualität von Mitleid, welche vielleicht in vergangenen Leben durch eine Geste der Freundschaft und des Verständnisses von einem künftigen Bodhisattva entfacht wurde. Vielleicht wurden auch wir auf ähnliche Weise bewegt. Der Gedanke macht zutiefst demütig und führt umso mehr zum Entschluss, dem Beispiel der Erleuchteten, die unendlich geduldig und empfänglich sind, zu folgen. Es ist kein Wunder, dass ein Buddha des Mitleids zurückkehrt, um zu lehren. Er wird durch das Karma all jener, deren Schicksale sein eigenes in früheren Zyklen kreuzten, angetrieben, so zu handeln; aber noch mehr wird er angetrieben durch eine allumfassende Liebe, welche die Gesamtheit der Naturreiche einschließt – eine Liebe, die neue Aspiranten und jene, die in einem künftigen Leben die ersten Regungen der Fürsorge um das Wohl anderer erfahren können, bestärkt.

Das buddhistische Glaubensbekenntnis bringt die Essenz der buddhistischen Philosophie und Praxis in knappen Worten zum Ausdruck:

Buddhaṃ śaraṇaṃ gacchāmi
Dharmaṃ śaraṇaṃ gacchāmi
Saṅghaṃ śaraṇaṃ gacchāmi

Ich nehme meine Zuflucht zu Buddha
Ich nehme meine Zuflucht zu Dharma
Ich nehme meine Zuflucht zur Gemeinschaft
(Verehrer, Anhänger)

Wir setzen unser Vertrauen in Buddha als die Verkörperung des ‘Großen Opfers’, den höchsten Initiator und Beschützer der Menschheit, der es Avataras und Bodhisattvas ermöglicht, periodisch die Felder des menschlichen Bewusstseins zu erleuchten.

Wir setzen unser Vertrauen auf Dharma, auf die obersten Wahrheiten, die uns in Bezug auf die universale Natur und die Seele erleuchten; wenn wir uns damit identifizieren, erhaschen wir unseren kosmischen Zweck.

Wir setzen unser Vertrauen auf Sangha, die Bruderschaft oder Gemeinde der Suchenden, eine Gemeinschaft, welche die Gesamtheit der menschlichen Lebenswoge einschließt.

Indem wir Vertrauen und Loyalität aufeinander als Brüder-Aspiranten setzen, teilen wir eine Gemeinschaft, die uns magnetisch mit dem spirituellen Herzen unseres Planeten verbindet – der Bruderschaft der Adepten. Insofern wir unsere Gefolgschaft ihrem Zweck widmen, sind wir Partner in dieser universalen Bruderschaft, die sich der Aufgabe verschreibt, die Last von Sorge, Elend und Unwissenheit, welche die Geißel der Menschheit ist, zu beheben – so weit es das Weltkarma zulassen wird. Wenn eine ausreichende Anzahl von Männern und Frauen nicht nur an ihre Intuition glauben, sondern ihr auch folgen und ihr Schicksal mit der Sache des Mitleids verbinden, gibt es allen Grund darauf zu vertrauen, dass unserer Zivilisation eines Tages der Sprung aus der Selbstzentriertheit gelingen wird – in aufrichtige Brüderlichkeit in jeder Phase der menschlichen Unternehmung.

In suchenden Menschenherzen das alte Gelöbnis zu beleben, das Licht ihrer Lampen an der Flamme des Mitleids zu entzünden, ist das edelste und schönste Ideal und eines, das – wenn es unbeirrt hochgehalten wird – die Aspiration stimuliert und ihr Tiefe verleiht.

Fußnoten

1. Siehe Die Mysterienschulen, S. 45-63. [back]

2. Compassion in Tibetan Buddhism, S. 101. [back]

3. Siehe The Sutra of Hui-neng, engl. Übers. von Thomas Cleary, S. 20. [back]

4. Buddhaghosa, zitiert in World of the Buddha, S. 160. [back]