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Das Meer der Theosophie

VI – Kāma – Begierde

Der Verfasser von Esoteric Buddhism – ein Buch, das von allen Interessenten für Theosophie zu Rate gezogen werden sollte, weil es aus Anregungen entstand, die einige Adepten selbst beitrugen – gab dem vierten Prinzip der menschlichen Konstitution die Bezeichnung Kāma-Rūpa. Der Grund lag darin, dass das Wort Kāma im Sanskrit ‘Begierde’ bedeutet. Da mit dieser Idee auch vermittelt werden sollte, dass das vierte Prinzip ‘der Körper oder die Ansammlung der Begierden und Leidenschaften’ ist, fügte Mr. Sinnett noch das Sanskritwort für Körper oder Form – Rūpa – hinzu, woraus die Zusammensetzung Kāma-Rūpa entstand. Ich werde dieses Prinzip aber mit unseren deutschen Entsprechungen – Leidenschaften und Begierden – bezeichnen, weil diese Begriffe seine Natur genau kennzeichnen. Ich tue das auch, um den starken Unterschied zwischen der westlichen und östlichen Psychologie und mentalen Philosophie hervorzuheben. Der Westen unterscheidet im Menschen Intellekt, Wille und Gefühl. Daraus lässt sich aber nicht erkennen, ob die Leidenschaften und Begierden ein selbstständiges Prinzip bilden oder ob sie nur durch den Körper bedingt sind. Tatsächlich glauben die meisten Menschen, diese seien fleischlichen Ursprungs, denn sie werden oft als ‘Fleischeslust’ und als ‘fleischliche Begierden’ bezeichnet. Die alten Weisen und die Theosophen wissen jedoch, dass sie ein eigenständiges Prinzip bilden und nicht nur körperliche Impulse sind. Die westliche Psychologie kann uns in dieser Sache nicht helfen, weil sie noch in ihren Kinderschuhen steckt und noch keinerlei Kenntnis über die innere, nämlich die psychische Natur des Menschen besitzt. Dieser Punkt bildet auch die größste Divergenz zwischen der Psychologie und der Theosophie.

Die Leidenschaften und Wünsche werden nicht vom Körper erzeugt. Im Gegenteil, der Körper wurde durch eben diese verursacht. Wunsch und Leidenschaft sind es, die unsere irdische Geburt zuwege bringen und uns immer und immer wieder zu neuen Verkörperungen in diesem Körper oder einem anderen 1 veranlassen. Durch Leidenschaften und Begierden werden wir dazu gebracht, durch die Wohnungen des Todes – auf Erden als die Leben bezeichnet – zu evolvieren. Durch das Aufkeimen der Begierde in der unbekannten ersten Ursache, in der einen absoluten Existenz, hat sich die ganze Ansammlung von Welten manifestiert. Und durch den Einfluss der Begierde in der jetzt manifestierten Welt wird diese in Existenz gehalten.

Dieses vierte Prinzip ist von den sieben das Prinzip des Gleichgewichts. Es steht in der Mitte und von ihm führen die Wege auf- oder abwärts. Es ist die Basis der Handlung und der Beweger des Willens. Treffend sagten die alten Hermetiker: „Hinter dem Willen steht die Begierde.“ Denn ob wir nun Gutes oder Böses tun wollen, für jeden Weg muss zuerst die Begierde in uns geweckt worden sein. Der gute Mensch, der schließlich zum Weisen wird, musste irgendwann einmal in einem seiner vielen Leben die Begierde nach dem Umgang mit Heiligen erweckt und seinen Wunsch nach Fortschritt lebendig erhalten haben, um auf seinem Weg zu bleiben. Selbst ein Buddha oder ein Jesus musste zuerst ein Gelübde – was einem Wunsch entspricht – ablegen, dass er die Welt oder einen Teil von ihr erretten wolle, und musste dieses Verlangen während ungezählter Leben in seinem Herzen aufrecht erhalten. Genauso ist es umgekehrt. Der übelgesinnte Mensch ließ Leben um Leben nur niedere, selbstsüchtige, bösartige Begierden in sich wirken, wodurch er das Kāma-Prinzip herabwürdigte, anstatt es zu veredeln. Vom materiellen oder wissenschaftlichen Okkultismus aus gesehen, kann die gebietende Kraft der Imagination nicht zur Anwendung der inneren, verborgenen Kräfte unseres Wesens eingesetzt werden, wenn dieses Wunschprinzip nicht stark ist. Zwar erzeugt die Imagination einen Eindruck oder eine Form, der Wille kann jedoch erst dann aktiviert werden, wenn er durch ein Verlangen bis zum Äußersten bewegt, geführt und angetrieben wird.

Die Begierden und Leidenschaften haben daher zwei Aspekte: einen hohen und einen niederen. Der niedere Aspekt zeigt sich in einer ständigen Bewusstseinsverlagerung gänzlich nach unten in den Körper und den Astralkörper. Der höhere Aspekt entsteht aus dem Einfluss und dem Streben nach der höheren Dreiheit – Denken, Buddhi und Geist. Dieses vierte Prinzip entspricht dem Zeichen Waage im Weg der Sonne durch den Tierkreis. Wenn die Sonne (der wirkliche Mensch) dieses Zeichen erreicht, vibriert sie im Gleichgewicht. Ginge sie zurück, dann würden die Welten zerstört werden. Sie geht aber vorwärts und die ganze Menschheit wird zu Vollkommenheit angehoben.

Während des Lebens sind die Begierden und Leidenschaften – erworben mit dem Astralkörper – im gesamten niederen Menschen eingebettet, und sie können, wie das etherische Gegenstück unserer physischen Person, vergrößert oder verkleinert, geschwächt oder gestärkt, verschlimmert oder veredelt werden.

Beim Tod tritt das Kāma-Prinzip in den Astralkörper ein, der dann zur bloßen Hülle wird, da ja, wenn ein Mensch stirbt, sein Astralkörper und sein Prinzip der Leidenschaften und Begierden gemeinsam den physischen Körper verlassen und miteinander verschmelzen. Erst jetzt kann die Bezeichnung Kāma-Rūpa angewandt werden, denn Kāma-Rūpa ist in Wirklichkeit die Verbindung des Astralkörpers mit Kāma. Die Verbindung der beiden schafft eine Gestalt oder eine Form, die zwar gewöhnlich unsichtbar, aber dennoch materiell ist und sichtbar gemacht werden kann. Obwohl kein Verstand und kein Gewissen im Kāma-Rūpa enthalten sind, besitzt er doch eigene Kräfte, die betätigt werden können, wenn es die Bedingungen zulassen. Diese Bedingungen werden von dem spiritistischen Medium geschaffen. In jedem Séance-Raum sind diese Astralhüllen verstorbener Personen stets anwesend und täuschen die Teilnehmer des Zirkels, deren Urteilsfähigkeit durch die Täuschung getrübt wurde. Diese Astralhülle ist der ‘Teufel’ der Hindus. Einen schlimmeren Feind könnte das Medium nicht haben, denn das Astralgespenst oder der Kāma-Rūpa ist nur eine Masse von Begierden und Leidenschaften, die der wirkliche, in den ‘Himmel’ geflohene Mensch zurückgelassen hat. Dieser hat an den hinterbliebenen Personen kein Interesse mehr, am allerwenigsten an Séancen und Medien. Weil die edlere Seele fehlt, beeinflussen diese Begierden und Leidenschaften auch nur den niedersten Wesensteil des Mediums und regen keine guten Elemente an, sondern nur dessen niedere Neigungen. Daher müssen selbst die Spiritisten zugeben, dass in den Reihen der Medien viel Betrug vorkommt. Medien haben oft erklärt: „Die Geister haben mich versucht und ich habe auf ihren Wunsch betrogen.“

Dieses Kāma-Rūpa-Gespenst ist auch ein Feind unserer Zivilisation. Sie lässt es zu, dass an Menschen, die ein Verbrechen begangen haben, die Todesstrafe ausgeübt wird. Dadurch werden die von der Last des Körpers befreiten Leidenschaften und Begierden in den Ether hinausgeworfen und können beständig von jedem sensitiven Menschen angezogen werden. Durch diese Anziehung werden dann die beklagenswerten Eindrücke der Verbrechen und die Bilder der Hinrichtung mit allen Verwünschungen und Rachegedanken in lebende Menschen eingepflanzt, die das Übel nicht erkennen und deshalb auch nicht abwehren können. Auf diese Weise werden in den Staaten mit Todesstrafe Verbrechen und Anregungen zu neuen Verbrechen tagtäglich vorsätzlich begünstigt.

Die astralen Hüllen erzeugen gemeinsam mit dem noch lebenden Astralkörper des Mediums, unterstützt von gewissen Naturkräften, die von den Theosophen als ‘Elementale’ bezeichnet werden, nahezu alle Phänomene des nicht-betrügerischen Spiritismus. Der Astralkörper des Mediums, der sich ausdehnen und heraustreten kann, bildet das Gerüst für die sogenannten ‘Geistermaterialisationen’. Er ermöglicht die Bewegung von Gegenständen ohne physischen Kontakt, vermittelt Nachrichten von verstorbenen Verwandten, die aber nichts anderes beinhalten als Rückerinnerungen und Bilder aus dem Astrallicht. Für diese Aktivitäten werden die Astralhüllen von Selbstmördern, hingerichteten Mördern und solcher ‘Geister’ benutzt, die naturgemäß eng mit dieser Lebensebene verbunden sind. Die Anzahl der Fälle, bei denen eine Mitteilung von einem echten körperlosen Geist stammt, ist so gering, dass man sie fast an einer Hand abzählen kann. Manchmal besucht auch der Geist lebender Menschen, deren Körper im Schlaf ruht, die Séancen und nimmt daran teil. Dieser Teilnehmer kann von den Medien auch nicht von den übrigen astralen Hüllen unterschieden werden. Die Tatsache, dass solche Dinge vom inneren Menschen ausgeführt werden können, ohne dass er sich daran erinnert, ist kein Beweis gegen diese Theorien, denn auch ein Kind kann sehen, ohne zu wissen, wie die Augen funktionieren, und der Eingeborene, der keine Ahnung von der Funktionsweise der komplizierten Mechanismen in seinem Körper hat, führt trotzdem den Verdauungsprozess vollständig durch. Dass der ganze Prozess für ihn unbewusst abläuft, stimmt ganz mit obiger Theorie überein, denn bei diesen Handlungen des inneren Menschen handelt es sich um die unbewussten Tätigkeiten des Unterbewusstseins. Die Worte ‘bewusst’ und ‘unbewusst’ werden natürlich nur in relativem Sinn gebraucht. Die Unbewusstheit bezieht sich nur auf das Gehirn. Die hypnotischen Experimente haben diese Theorien schlüssig bewiesen, was eines nicht allzu fernen Tages voll anerkannt werden wird. Außerdem sind die Astralhüllen von Selbstmördern und Hingerichteten die kompaktesten und langlebigsten, die uns von allen Schatten des Hades am nächsten sind. Sie müssen deshalb auf Grund der Sachlage notwendigerweise die wirklichen ‘Kontrolleure’ der Séance-Räume sein.

Leidenschaft und Begierde gemeinsam mit dem astralen Modellkörper sind sowohl Menschen und Tieren wie auch dem Pflanzenreich zu eigen, wenn auch in letzterem nur schwach entwickelt. In einer bestimmten Evolutionsperiode waren noch keine weiteren materiellen Prinzipien entwickelt. Die drei höheren – Denkvermögen, Seele und Geist – waren nur latent vorhanden. Bis zu diesem Punkt standen Menschen und Tiere auf der gleichen Stufe, denn das Tierische in uns besteht aus den Leidenschaften und dem Astralkörper. Die Entwicklung der Keime des Denkens ergab dann den Menschen, weil mit der Entwicklung die große Differenzierung einsetzte. Der innere Gott fängt bei Manas oder dem Denkvermögen an, und es ist der Kampf zwischen diesem Gott und dem Tierischen in uns, von dem die Theosophie spricht und vor dem sie uns warnt. Das niedere Prinzip wird böse genannt, weil es das im Vergleich mit dem höheren ist, trotzdem ist es die Grundlage der Aktivität. Wir können nicht emporwachsen, ehe das niedere Selbst nicht den Wunsch bekräftigt, besser zu handeln. In diesem Aspekt wird es Rajas genannt, die aktive und böse Qualität, im Unterschied zu Tamas, der Qualität der Finsternis und Gleichgültigkeit. Ein Emporwachsen ist erst möglich, wenn Rajas anwesend ist, um den Impuls zu geben. Durch die Anwendung dieses Prinzips der Leidenschaften werden alle höheren Eigenschaften schließlich so verfeinert und unsere Wünsche so erhöht, dass sie ununterbrochen auf die Wahrheit und das Spirituelle eingestellt werden können. Die Theosophie lehrt damit nicht, dass unsere Leidenschaften gepflegt oder befriedigt werden sollen – eine verderblichere Lehre könnte nie gelehrt werden. Die Forderung lautet vielmehr, dass die vom vierten Prinzip gewährte Aktivität stets zur Erhebung verwendet wird und nicht zur Versklavung durch die finstere Qualität, die mit Selbstsucht und Gleichgültigkeit anfängt und mit Vernichtung endet.

Nachdem wir nun dieses Gebiet durchstreift und die niederen Prinzipien des Menschen erläutert haben, verstehen wir die theosophische Lehre, dass der Mensch in der gegenwärtigen Evolutionsphase eine vollentwickelte Vierheit ist, während die höheren Prinzipien erst teilweise entwickelt sind. Daher wird gelehrt, dass der gegenwärtige Mensch von den Leidenschaften und Begierden angetrieben wird. Das beweist ein Blick auf die Zivilisationen der Erde, auf Länder wie Frankreich, England und Amerika – sie alle werden von diesem Prinzip bewegt – wo alles auf die Verherrlichung dieses Prinzips eingestellt ist, wie es sich in der Freude an Prunksucht, an sinnlichem Genuss, im Kampf um Macht und Rang zeigt, wo die Befriedigung der Sinne manchmal als höchstes Gut angesehen wird. Da aber im Verlauf unserer menschlichen Evolution das Denkvermögen mehr und mehr zur Entfaltung gelangt, kann man in allen Ländern im Hintergrund den langsamen Übergang vom keimhaft vernunftbegabten Tier zum vollvernünftigen Menschen beobachten. Diese Zeit ist den Meistern, die einige der alten Wahrheiten wieder herausgaben, als ‘Übergangsperiode’ bekannt. Die stolze Wissenschaft und die noch stolzere Religion geben das nicht zu, sie glauben, wir seien wie wir immer sein werden. Seinem Lehrer glaubend, sieht der Theosoph in seiner Umgebung jedoch den Beweis, dass sich das Bewusstsein der Menschheit durch Erweiterung verändert. Er erkennt, dass die alten Tage des Dogmatismus vorbei sind und das ‘Zeitalter der Fragen’ gekommen ist und dass die Fragen Jahr für Jahr lauter werden und dass Antworten erforderlich werden, die das stetig wachsende Denken befriedigen, bis schließlich jeder Dogmatismus verschwunden und die Menschheit bereit sein wird, alle Probleme anzupacken – jeder seine eigenen, im gemeinsamen Streben für das Wohl des Ganzen, was mit der Vervollkommnung jener Menschen enden wird, die an der Überwindung des Rohen in sich arbeiten. Aus diesen Gründen werden die alten Lehren wieder veröffentlicht, und die Theosophie regt jeden zu der Überlegung an, ob er dem niederen Tier nachgeben oder zu dem inneren Gott aufblicken und sich von ihm leiten lassen will.

Eine eingehendere Behandlung des vierten Prinzips unserer Konstitution würde uns zur Untersuchung aller Fragen zwingen, die sich aufgrund der Wunderwirker des Ostens, der spiritistischen Phänomene, der Hypnose, der Erscheinungen, des Wahnsinns und dergleichen ergeben. Diese Probleme müssen jedoch einer besonderen Behandlung vorbehalten bleiben.

Fußnoten

1. [In The Theosophical Forum, Juni 1894, Seite 12 korrigierte das Judge so: „In einem Körper auf dieser Erde oder auf einem anderen Globus.“] [back]