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Die Masken Odins

12 – Hávamál

(Des Hohen Lied)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Des Hohen Lied ist schon ein Rätsel. Es hat drei ganz ausgeprägte und verschiedene Stile, jeder mit seinem inneren einheitlichen Charakter. Gelehrte sind verständlicherweise durch die nur wenig zusammenpassende Nebeneinanderstellung der Teile dieses langen Gedichtes verblüfft gewesen.

Der erste und längste Teil scheint ein Buch über elementare Etikette, eine Art von rustikaler Emily Post zu sein. Er legt Anstandsregeln für den Verkehr mit Menschen und für die Wahrung von Freundschaften nieder. Er erklärt die Pflichten eines Gastgebers und eines Gastes an der Festtafel. Er umreißt einige einfache Hausmittel für allgemeine Gebrechen; er beschreibt geeignete Trinkgewohnheiten, um eine gesunde und vernünftige Einstellung (unter Vermeidung von Katzenjammer) zu bewahren und gibt andere Informationen über einfache Ratschläge und praktische Weisheit in Worten, die geeignet sind, ein halbbarbarisches Volk zu lehren, das Gemeindeleben anzunehmen.

Die zweite Unterteilung, formell im Vers 111 angekündigt, richtet sich an den Zwerg Loddfáfnir. Hier liegt das Schwergewicht auf der rechten und ehrenhaften Handlung, auf der Rücksicht auf andere und einem freundlichen Verhalten. Loddfáfnir steht deutlich eine Stufe über der breiten Masse, die Anweisungen für die Wahrung der einfachsten Höflichkeiten benötigen, aber er ist noch ein Zwerg, weil er als Seele seine Menschlichkeit noch nicht in irgendeinem merklichen Ausmaß entwickelt hat. Dieser Abschnitt ist auf die meisten von uns anwendbar, und Loddfáfnir kann in diesem Stadium als Jedermann betrachtet werden. Die Zwergnatur kann sich gradweise, indem sie den Grundsätzen des Gottes folgt, in die volle Menschlichkeit entfalten. Loddfáfnir als eine Seele, die zu einem bestimmten Grad erweckt ist und danach strebt, ihren Zustand zu verbessern, kann schließlich als Schüler oder Jünger in dem dritten und Schlußabschnitt angesprochen werden, der in einer ganz anderen Stimmung abgefaßt ist. Seine Symbolik trotzt einer Analyse, während sie das innere Auge zu Bildern von unbeschreiblicher Größe richtet. Die kurzen lakonischen Verse weisen derart brillant auf Vorstellungen und derart gewaltige Einsichten hin, daß sie sehr wohl der Gegenstand sind, über die der Auserwählte im Streben nach göttlicher Weisheit nachdenkt.

Natürlich ist das Lied des Hohen für drei sehr verschiedene Zuhörer beabsichtigt: Der erste Teil ist für das Volk – ein ungeschliffenes Volk, nur an dem einfachsten Rat interessiert, der sich an seine tägliche Beschäftigung wendet; als nächster, die einfache Moral irgendeiner exoterischen Schule oder Kirche, allgemeine Sitten für ein anständiges Leben. Der dritte ist das mystische Wachrufen der strebenden Seele in einem Schüler, der sein Leben dem Dienst der göttlichen Bestimmung geweiht hat. Er richtet sich an jene Individuen, die in der Lage sind, dem Engagement der Götter nachzueifern, und die ihre Kraft und Entschlossenheit für die göttliche Aufgabe einsetzen: „die Runen“ durch Odin, den inneren Gott von allen, „aufzunehmen“ (138).

Dieselben drei natürlichen Unterteilungen können in jedem Gedankensystem oder in jeder Religion erkannt werden. Es gibt immer sehr viele, die phantasielos und auf sich selbst konzentriert sind, damit zufrieden, das Beste aus ihren Verhältnissen zu machen und sich des Lebens zu erfreuen. Sie hängen im allgemeinen an konventionellen Normen und beanspruchen und zeigen ein respektables Äußeres. Es gibt auch eine zweite, ziemlich zahlreiche Gruppe, die an der Spekulation über unsichtbare Ursachen von beobachtbaren Phänomenen Freude haben, und die sich nebenbei mit einer Vielfalt abergläubischer Praktiken beschäftigen. Unter ihnen sind viele, die nach größerem Wissen streben und erkennen, daß das Universum Geheimnisse enthält, die es zu entdecken gilt. Sie ermangeln aber häufig der notwendigen Einsicht und Ausdauer, die nur durch Selbstdisziplin erreicht wird.

Die dritte Gruppe übt nur eine geringe populäre Anziehungskraft aus. Sie setzt sich aus jenen zusammen, die in das Heiligtum ihrer Seele eingedrungen sind und aus erster Hand ein gewisses Maß an Wahrheit bestätigt erhielten. Diese sind die Auserwählten, die wenigen, die für die spirituelle Natur arbeiten, die gleichgültig gegenüber Lob und Tadel sind, die sich nicht um ihre eigenen Ziele kümmern, da sie wissen, daß diese mit dem größeren universalen Schicksal verbunden sind. Sie geben keiner persönlichen Befriedigung nach, obwohl paradoxerweise, ihr Altruismus das Rückgrat und das Durchhaltevermögen des menschlichen evolutionären Impulses für die gesamte Menschheit bildet, und dessen Förderung die größte Zufriedenstellung aller bringen muß.

Es ist für die Lehrer der Weisheit immer notwendig gewesen, einen Unterschied unter ihren Nachfolgern zu machen: Diejenigen, die sich unwiderruflich auf das edle Werk der Götter festgelegt haben, erhalten einen größeren Anteil an Wissen und mit ihm eine schwerwiegendere Verantwortung. Jesus sagte seinen Jüngern: „Euch ist es gegeben, das Geheimnis des Reiches Gottes zu wissen: denen aber draußen widerfahren alle diese Dinge durch Gleichnisse“ (Markus 4:11). Auch Gautama, der Buddha, hatte eine esoterische Schule, in der würdige Arhats weitergehende Instruktionen und Übungen empfingen. So verhielten sich auch Pythagoras und zahlreiche andere Führer und geistige Lehrer durch die Zeitalter hindurch.

Das Lied des Hohen zeigt die verschiedenen Zuhörer, an die es einmal durch die Art und Weise der Ansprache und, mehr sogar, durch seinen Gehalt gerichtet ist. Der Teil, worin der Lehrer das allgemeine Publikum anspricht, endet mit einem Gleichnis, das von Odins früherer Frage nach Weisheit erzählt. Die Verse 104-110 erzählen in einer ziemlich obskuren Sprache, wie Odin mit der Hilfe des Eichhörnchens Rati (was auch ein Bohrer bedeuten kann) ein Loch in des Riesen Gebirge bohrt und in der Gestalt einer Schlange eintritt. Er überredet die Tochter des Riesen, ihm einen Schluck aus der Quelle der Weisheit zu geben, die von dem Riesen verborgen wurde. Durch die Geschichte sind zahlreiche Symbole miteinander verwoben, jedes mit verschiedenen Bedeutungen – ein typisches Beispiel für die in Mythen angewandte Methode, Wahrheiten zu erzählen. Rati, der Bohrer oder das Nagetier, gleich dem Eichhörnchen im Lebensbaum, stellt das Bewußtsein dar, das Zugang zu den Tiefen der materiellen Welt ermöglicht, wo Odin nach Weisheit verlangt, wie auch nach den Höhen seiner Krone. Gunnlöd, des Riesen Tochter – unfähig, die Höhen der Göttlichkeit zu erklimmen, wurde in Tränen zurückgelassen, obwohl der „kostbare Met Odraerirs“ – Gefäß der Inspiration – eine Sprosse auf der Leiter der Existenz emporgetragen, auf unseren eigenen „alten Schrein der Erde“ erhoben wurde. Die Frage wird von dem Eisriesen gestellt, ob der Gott als Sieger hervorgegangen sei oder ob er von dem Riesen Suttung, die frühere Verkörperung der Erde, überwunden wurde. Odin konnte versichern, daß er tatsächlich unbeschadet zu dem Reich der Götter zurückgekehrt sei.

Gunnlöd, „die gute Frau“, personifiziert ein Zeitalter, als inmitten des riesigen Materialismus ihres Vaters – des größeren Zyklus – wenigstens ein Teil von ihr die Gottheit willkommen hieß und fähig war, einen Schluck an Weisheit anzubieten. Es wird zudem der Eindruck vermittelt, daß „Odraerir hier jetzt zu der Erde altem Schrein hochgekommen ist“, angesichts der theosophischen Lehre, daß unser Planet (der den heiligen Met liefert) selbst seit seiner früheren Verkörperung auf einer niedrigeren, materielleren Ebene eine Stufe höher fortgeschritten ist, und daß das, was damals das Astralmodell des Mondes war, jetzt der Rest unseres gegenwärtigen, festen, physischen Satelliten ist. Dies läßt natürlich darauf schließen, daß die Menschheit eine Stufe aufwärts geschritten ist. Der „alte Schrein“ bezieht sich auf eine frühere Phase auf dem „abwärts führenden Bogen“ in Richtung Materie.

Unter den frühen göttlichen Lehrern der Menschheit gab es viele, die keine Spur ihres Auftretens hinterlassen haben; es scheint, daß Odin einer aus dieser Reihe war, denn in der Geheimlehre stellt H. P. Blavatsky fest, daß

der Tag, an dem vieles, wenn nicht alles von dem, was hier aus den archaischen Aufzeichnungen wiedergegeben ist, als richtig befunden werden wird, ist nicht sehr weit entfernt. Denn die modernen Symbologen werden die Gewißheit erlangen, daß selbst Odin … einer von diesen fünfunddreißig Buddhas ist; einer von den frühesten in der Tat, denn der Kontinent, zu dem er und seine Rasse gehörten, ist auch einer der frühesten.

– II, 423 (dtsch. Ausgabe II, 442)

Ob der Schlußteil von Hávamál seitdem ein so großes Alter erreichen konnte oder in seiner gegenwärtigen Form von späteren Lehrern rekonstruiert und weitergegeben worden ist, ist für uns heute unmöglich zu ermitteln. Man kann in diesen Versen die wahre Essenz der esoterischen Kosmogonie erkennen und eine tiefe Ehrfurcht und Dankbarkeit empfinden, wenn wir über das göttliche Opfer des dem Lebensbaum innewohnenden kosmischen Geistes nachdenken. Diese göttliche Verkörperung, die während der Existenz irgendeiner Welt stattfindet, treibt als bewußte Energie die Welt ins Dasein, und als aktives Bewußtsein nimmt sie ihren Schluck aus dem Brunnen der Weisheit, der von dem Riesen Mimir bewacht wird, der Materie, aus der die Welten geformt sind.

Die Verse 137 bis 142 vermitteln einen bemerkenswert genauen Ausdruck für einige Grundlehrsätze der alten Weisheit. Sie erklären die Periodizität des manifestierten Lebens und der karmischen Arbeitsweise, die auf jeder Existenzebene von jedem Ereignis, jedem Wort und jeder Tat zum nächsten Ereignis wandert, bzw. zur nächsten Tat führt. Der siebzehnte Galder (Zauberspruch) erzählt auch, daß diese Instruktionen unter dem Siegel der Verschwiegenheit gegeben wurden, während die Schlußverse klar zeigen, warum das so sein muß: Es ist nicht möglich, die Bedeutung dieser Lehren zu begreifen, bis die Natur im Verständnis ausreichend gereift ist. Sie sind „nützlich für die Menschenkinder, aber nutzlos für die Söhne der Riesen“ (163): Nur die spirituelle Intelligenz ist fähig, die innere Botschaft zu empfangen; die zeitliche, nicht inspirierte Riesen-Natur ist nicht dazu imstande, denn sie ermangelt der Einsicht, sie zu erkennen. Aus diesem Grunde ist wenig von den Mysterienschulen der alten Welt bekannt – oder eigentlich der modernen –, außer der einen Tatsache ihrer Existenz aus sehr entfernten Zeiten. Das Wissen, das sie vermittelten, konnte nicht an jede unqualifizierte Person preisgegeben werden, nicht eigentlich wegen eines Verbotes, sondern wirkungsvoller wegen der Notwendigkeit einer entwickelten Fähigkeit des Verstehens. Dieses Verständnis (das Wort bedeutet wörtlich Umarmung) innerhalb der eigenen Sphäre von Sympathie und Liebe des Menschen muß natürlich aktiv sein, ehe die tieferen Lehren empfangen werden konnten. Daraus folgt, daß es derart unmöglich sein muß, die Mysterien bis zu irgendeinem nennenswerten Grad zu verraten, wie höhere Mathematik einem Käfer zu erklären. Trotzdem, die Verletzung des Vertrauens ist ein ernsthafter Fehler beim Täter, der sich dem ungünstigen Karma der Rasse hinzufügt. Doch, so viel wie verstanden werden kann, wird von dem erleuchteten Wesen „zurückgebracht“ und mit jenen geteilt, die fähig sind, von dem, was er zu geben hat, zu profitieren. König Gylfi als Gángläri vollendete seine Aufgabe und erzählte die Dinge, die er gelernt hatte, die von da an von einem zum anderen weitergegeben wurden. (Siehe Schlußfolgerung von Gylfaginning)

Man kann bemerken, daß, gleich anderen mystischen Gedichten, Hávamál teilweise die Form eines Liebesliedes annimmt, das an das Rubaiyat oder den Gesang von Salomon erinnert, weil diese Form vielleicht der Ausdrucksweise am nächsten kommt, die der Mensch sich für die ergreifende Ekstase der Einheit mit dem göttlichen Selbst, dem inneren Gott, ausdenken kann, da es nichts Vergleichbares in der materiellen Existenz gibt. Die volle und wesentliche Expansion des menschlichen Bewußtseins bezieht sich natürlich auf jene, deren ganze Natur dem Gott im Inneren unterworfen ist und ihn widerspiegelt, das heißt, auf die Einherjer [Selbstbesieger] Odins, so genannt, weil ihr eigenes persönliches Ego des „Einen“ unter vollständiger Kontrolle steht.

Hávamál

1. Prüfe einen Eingang, ehe du hineingehst;
Denn ungewiß ist, wo Feinde weilen.

2. Heil den Großherzigen! Ein Gast ist eingetroffen. Weist ihm einen Platz.
Der ist in Eile, der sich selbst am Feuer bewähren muß.

3. Wärme braucht, wer aus der Kälte kommt;
Essen und Getränke braucht der Mensch, der aus dem Gebirge kommt.

4. Wasser braucht, wer zu seinem Gastgeber kommt, ein Handtuch und Begrüßung;
Einen freundlichen Empfang für den, der Worte begehrt und ein freundliches Gehör.

5. Witz und Verstand braucht der Wanderer in fremden Landen; Daheim ist alles leicht.
Rühme dich nicht deiner Taten unter jenen, die weise sind.

6. Hebe deine Klugheit nicht hervor; sei vorsichtig; der Weise schweigt
Auf fremdem Boden und erregt keinen Ärger. Einen besseren Freund hat kein Mensch als klugen Verstand.

7. Der vorsichtige Gast, der zum Festmahl kommt, schweigt, wenn geflüstert wird;
Er spitzt seine Ohren, mit seinen Augen späht er; so beobachtet der Weise.

8. Selig ist der Mensch, der sich Ehr und Achtung erwirbt;
Aber ungewiß der Nutzen, geboren in des andern Brust.

9. Glücklich ist, wer selbst Ehr und Lebensweisheit besitzt.
Anderer Rat ist oft schlechter Rat.

10. Keine bessre Bürde kann ein Mensch tragen als gesunden Menschenverstand und gute Manieren;
Besser als Gold nützen sie als starke Stütze in der Not.

11. Keine bessre Bürde kann ein Mensch tragen als gesunden Menschenverstand und gute Manieren;
Und kein schlimmerer Vorrat wird mitgenommen als ein Übermaß an Bier.

12. Bier ist nicht so gut, wie sie sagen, für die Menschenrasse;
Je mehr ein Mensch trinkt, desto weniger weiß er, wie er einen klaren Kopf behalten kann.

13. Im Delirium phantasiert, wer sich betrinkt, seine Besinnung wird geraubt;
Durch jenes Vogelgefieder wurde auch ich gefesselt an Gunnlöds Hof.

14. Trunken war ich, sinnlos trunken im Saal des friedfertigen Fjalar;
Am besten ist das Bierfest, wenn jeder heimgeht und Sinn und Vernunft bewahrt.

15. Liebenswürdig und heiter soll ein Menschensohn sein, und tapfer im Kampf;
Heiter und freundlich erweise sich ein Mann, wenn er seinen Tod erwartet.

16. Ein Feigling glaubt, ewig zu leben, wenn er das Gefecht flieht;
Doch das Alter verschont ihn nicht, obwohl die Speere ihn verschonen.

17. Ein Tor auf einem Fest sitzt gaffend da und murmelt vor sich hin;
Wenn er aber getrunken hat, sieht man seinen Geisteszustand stark enthüllt.

18. Wer weitgereist ist,
Äußert jeden Gedanken wohl überlegt.

19. Klebe nicht am Becher,1 trink mäßig, sprich gut oder schweig;
Niemand wird dein Benehmen tadeln, gehst du früh zu Bett.

20. Der Gefräßige ohne Manieren macht sich selber krank;
Einem Törichten wird sein Magen zur Zielscheibe des Gespötts in kluger Gesellschaft.

21. Herden wissen, wann Zeit zur Heimkehr und verlassen die Weide.
Ein Narr aber kennt nicht das Maß seines Magens.

22. Der Armselige von gemeiner Veranlagung verhöhnt alles;
Er weiß nicht, was er wissen sollte, daß er selbst nicht fehlerfrei.

23. Ein Narr durchwacht die Nächte und sorgt sich um alle Dinge;
Schwach ist er, wenn der Morgen anbricht, und die Dinge sind noch wie zuvor.

24. Der Narr meint, daß alle, die ihn anlachen, seine Freunde sind;
Er weiß nicht, wie sie über ihn sprechen.

25. Der Narr meint, daß alle, die ihn anlachen, seine Freunde sind;
Er findet es nur in der Versammlung heraus, wenn wenige für ihn sprechen wollen.

26. Ein Narr dünkt sich allweise in einer sichern Ecke;
Er weiß nicht, was er sagen soll, wird er durch kluge Menschen geprüft.

27. Ein Narr unter den Erfahreneren sollte schweigen;
Niemand bemerkt, wie wenig er versteht, wenn er still ist.

28. Weise dünkt sich, wer zu fragen weiß und zu antworten versteht;
Aber kein Fehler auf Erden kann verborgen bleiben.

29. Wer viel spricht, sagt schlecht gewählte Worte;
Eine ungezügelte Zunge spricht ihr eigenes Verderben.

30. Verspotte keinen andern, der zu deiner Sippe kommt;
Viele fühlen sich weise auf ihrem eigenen Berg.

31. Schlau dünkt sich, wer den Gast verläßt, der über andere gespottet hat;
Wer sich über einen andern lustig macht, erkennt nicht die Gefahr um sich.

32. Oft geraten Freunde beim Gelage aneinander und zanken sich;
Das kann zu Streitigkeiten unter den Gästen führen.

33. Beizeiten nehme man jedes Mahl zu sich und gehe nicht hungrig als Gast;
Sonst sitzt er würgend da, ohne eine Frage zu stellen.

34. Es ist ein langer Umweg zu einem untreuen Freund, wohnt er auch gleich am Wege;
Aber zu einem guten Freund, wie weit auch entfernt, gibt es manche Abkürzungen.

35. Ein Gast soll beizeiten gehen und nicht zu lange bleiben;
Die Freude verliert an Reiz, wenn er zu lange an eines anderen Tafel weilt.

36. Besser dein eignes Heim, wo jeder sein eigner Herr ist;
Zwei Ziegen und ein Strohdach sind besser als betteln gehen.

37. Besser dein eignes Heim, wo jeder sein eigner Herr ist;
Das Herz blutet jedem, der erbitten muß sein Mahl alle Mittag.

38. Von seinen Waffen weiche niemand mehr als einen Schritt auf dem Feld;
Ungewiß ist, wie bald man zum Speere greifen muß.

39. Niemanden sah ich so reich, daß er ablehnte, was geboten wurde;
Noch jemanden zu großzügig, dem Lohn unerwünscht war, wenn verdient.

40. Wer Geld hat, braucht nicht zu leiden;
Aber Sparen ist eine Tugend, die einen Makel nach sich ziehen kann.

41. Freunde sollen mit Waffen und Gewändern sich erfreuen;
Gabe und Gegengabe helfen eine Freundschaft ertragen.

42. Zu einem Freund sei ein Freund und gib Gabe gegen Gabe;
Spaß soll mit Spaß erwidert werden und List mit List.

43. Zu einem Freund sei ein Freund, zu ihm und seinem Freund;
Aber mit des Feindes Freunden sei nicht durch Freundschaft verbunden.

44. Wenn du einen Freund weißt, vertraue ihm und erstrebe sein Wohlwollen,
Teile seine Neigungen und tausche Geschenke aus; und besuche ihn oft.

45. Wenn du einen Mann weißt, der Schlechtes denkt, dessen Wohlwollen du aber wünschest,
Sprich freundlich zu ihm, obwohl du Falsches fühlst, Vergelte Lügen mit Schlauheit.

46. Dies gilt auch von ihm, dem du Übel zutraust, dessen Denkart verdächtig ist;
Begegne ihm mit Lächeln, wähle deine Worte gut; zahle Gaben mit gleicher Münze.

47. Als ich jung war, wanderte ich einsam und ging abseits vom Weg;
Ich fühlte mich reich, als ich einen anderen fand, denn ein Mann ist eine gute Gesellschaft.

48. Edle, mutige Menschen leben am besten; selten beschleicht sie Sorge.
Ein Törichter fürchtet viele Dinge und mißgönnt jede Gabe.

49. Ich gab meine Gewänder zwei Holzmännern auf dem Felde;
Sie fühlten sich in bester Form, in Lumpen gekleidet; nackt, schämt sich ein Mann.

50. Der Tannenbaum verdorrt auf einem trocknen Hügel ohne Schutz der Rinde oder Nadeln;
So geht es dem Mann, den niemand mag; warum soll er lange leben?

51. Heißer als Feuer brennt die Liebe eines friedliebenden Mannes für seinen treulosen Freund
Für fünf Tage; aber am sechsten stirbt seine Freundschaft.

52. Nicht immer groß muß die Gabe sein, oft erwirbt man mit wenig;
Mit einem halben Brot, einem Schluck aus dem Becher gewann ich einen treuen Gesellen.

53. Kleine Sandhaufen und winzige Bäche, gering ist der Verstand der Menschen;
Alle sind nicht gleich klar in der Weisheit; jedes Alter ist von zweierlei Art.

54. Mäßig weise sollte ein jeder sein – nicht allzuweise;
Das schönste Leben ist dem beschieden, der wohl weiß, was er weiß.

55. Mäßig weise sollte ein jeder sein – nicht allzuweise;
Denn eines Weisen Herz verliert die Freude, wenn er sich allzuweise dünkt.

56. Mäßig weise sollte ein jeder sein – nicht allzuweise;
Sein Schicksal kennt keiner voraus; so bleibt die Seele sorgenfrei.

57. Feuer wird durch Feuer angezündet, bis es stirbt, und Flamme wird durch Flamme angezündet.
Der Mann erkennt den Mann durch seine Rede, den Sprachlosen durch sein Schweigen.

58. Früh aufstehen soll, wer dem andern nach seinem Leben oder seinem Gut trachtet;
Der schlafende Wolf gewinnt selten einen Knochen oder ein schlafender Mann den Sieg.

59. Früh aufstehen soll, wer wenig Arbeiter hat, und selbst zu Werke gehn;
Viel wird versäumt durch einen, der verschläft; der Emsige ist halb reich.

60. Von Anmachholz und Dachschindeln weiß ein Mann das Maß;
Gleichermaßen von Feuerholz, womit er ausreicht für eine ganze oder halbe Jahreszeit.

61. Rein und gesättigt reit’ er zum Ting, obwohl arm gekleidet;
Keiner schäme sich der Flecken auf den Schuhen noch des minderwertigen Reittiers.

62. Frage und Antwort werden mit Vorbedacht gestellt und gegeben von einem, der weise genannt wird;
Ziehe nur einen in dein Vertrauen, was drei wissen, weiß die Welt.

63. Er forscht und späht, wenn er über die Wellen schweift, der Seeadler auf der ewigen See;
So ergeht es dem Mann in einer Menge, wo wenige für ihn sprechen wollen.

64. Ein weiser Mann bleibt in seinem Recht und seiner Autorität innerhalb der Grenzen;
Im Zusammentreffen von Kriegern wird er finden, daß keiner der Tapferste ist.

65. Für jedes Wort, das er spricht, wird einem Mann in gleicher Münze zurückgezahlt.

66. An manchen Orten kam ich allzufrüh, allzuspät an andern;
Das Bier war getrunken oder noch nicht gebraut; unziemlicher Gast kommt ungelegen.

67. An manchen Orten wäre ich eingeladen worden, käme ich ohne Nahrung aus;
Oder zwei Schinken hingen bei meinem Freund, als ich gerade gegessen hatte.

68. Unter den Menschenkindern ist Feuer das Beste und die scheinende Sonne,
Wenn der Mensch die Anlage zur Gesundheit besitzt und ohne Laster lebt.

69. Kein Mensch ist in allen Dingen unglücklich, obgleich seine Gesundheit schwach ist; einer ist mit Söhnen gesegnet,
Ein anderer mit Freunden, ein dritter mit vollen Scheunen, ein vierter mit guten Taten.

70. Besser leben und glücklich leben; ein guter Mensch kommt noch zur Kuh;
Ich sah das Feuer in eines Reichen Haus erlöschen; der Tod stand vor der Tür.

71. Ein Lahmer kann reiten; ein Handloser Rinder hüten, ein Tauber kann ein edler Krieger sein;
Besser blind sein als auf dem Scheiterhaufen zu brennen; niemandem nützt ein Toter.

72. Ein Sohn ist besser, sogar spät geboren nach des Vaters Lebensende;
Denkmale werden selten errichtet, es sei denn, durch die Familie.

73. Zweie sind Kampfgefährten, aber die Zunge ist der Fluch des Kopfes;
Unter jedem Gewand erwarte ich eine Faust.

74. Eine Nacht magst du deinem Vorrat trauen, aber karg ist der Schiffszwieback, und rasch ändert sich eine Herbstnacht;
Das Wetter wechselt oft im Laufe von fünf Tagen, wieviel mehr in einem Monat.

75. Wer nichts weiß, der weiß auch nicht, daß viele für andere nur Narren sind;
Einer mag reich sein, ein anderer arm. Niemand gebe ihm die Schuld dafür.

76. Vieh stirbt, Verwandte sterben; du mußt auch sterben;
Doch nimmer stirbt ihm die Stimme der Hochachtung, wer sich einen guten Namen verdiente.

77. Vieh stirbt; Verwandte sterben; du mußt auch sterben;
Doch eines weiß ich, das nimmer vergeht: eines Toten Ruf.

78. Viele Schafhürden sah ich bei den Söhnen des Reichen; sie tragen jetzt den Bettelstab;
Reichtum ist wie das Zwinkern eines Auges, der unbeständigste der Freunde.

79. Wenn ein Narr Güter oder einer Frau Gunst gewinnt, so wächst sein Stolz, doch nicht sein Verstand;
Hin geht er in närrischer Blindheit.

80. Dieses also ist bekannt; wenn du nach den Runen fragst, die nur den herrschenden Mächten bekannt sind,
Nach jenen; die von den Barden des Geheimwissens niedergeschrieben wurden, hätte man besser geschwiegen.

81. Der Tag soll abends gelobt werden, eine Frau auf ihrem Scheiterhaufen; des Schwertes Schneide, wenn geprüft;
Das Mädchen, wenn verschmäht, das Eis, wenn überquert, das Bier, wenn es getrunken ist.

82. Bäume sollen gefällt werden, wenn der Wind bläst, segle, wenn die Brise günstig ist;
In der Dunkelheit schäkere ich mit dem Mädchen, denn viele Augen sehen bei Tag;
Du brauchst Schnelligkeit von einem Schiff, Schutz von einem
Schild, Hiebe von einer Klinge, Küsse von einem Mädchen.

83. Beim Feuer trink Bier, auf Eis ziehe Linien mit Schlittschuhen, kaufe ein Pferd, wenn es mager ist, und eine Klinge, wenn sie rostig ist.
Das Pferd ernähre gut und den Hund dressiere.

84. Vertraue nicht den Worten eines Mädchens, noch einer Frau,
Denn auf einem wirbelnden Rad wurden ihre Herzen geboren und Wankelmütigkeit wurde in ihrer Brust verankert.

85. Traue keinem brechenden Bogen, keiner flackernden Flamme, keinem schnappenden Wolf, keiner geschwätzigen Krähe,
Keinem grunzenden Eber, keiner wurzellosen Weide, keiner anschwellenden Flut, keinem sprudelnden Kessel;

86. Fliegendem Pfeil, hereinbrechender Woge, einnächtigem Eis, geringelter Schlange,
Bettrede der Braut, brüchigem Schwert oder verspieltem Bär, noch den Kindern eines Königs;

87. Siechem Kalb, sturem Knecht, der Seherin schönen Worten, eben erschlagenem Wal,2
Solch allen soll keiner voreilig trauen.

88. Verlasse dich nicht auf ein früh gesätes Feld, noch zu früh auf einen Sohn;
Noch auf einen Töter des Bruders, sogar auf einen breiten Weg;

89. Noch auf ein halbverbranntes Haus, ein windschnelles Pferd (es würde mit einem gebrochenen Bein unbrauchbar sein);
Keiner ist so überzeugt, daß er diesen vertraut.

90. So ist die Frauenliebe, unbeständig gleich dem Reiten auf glattem Eis mit einem unbeschlagenen Pferd,
Einem lebhaften, zweijährigen, schlecht dressierten, oder einem steuerlosen Schiff auf stürmischer See oder gleich der Rentierjagd eines Lahmen auf glatter Bergwand.

91. Offen bekenne ich, denn ich weiß beides, wie trügerisch des Mannes Stirn gegenüber Frauen ist;
Wenn wir am freundlichsten sprechen, denken wir am schlechtesten; dies ködert selbst die Schlaueste.

92. Du sollst freundlich sprechen und Geschenke bieten, wenn du des Mädchens Liebe gewinnen willst;
Lobe den Liebreiz der Schönen, die Wünsche eines jungen Verehrers werden erfüllt.

93. Seiner Liebe soll kein anderer Vorwürfe machen!
Oft ist ein Weiser, nicht ein Narr, von einem hübschen Gesicht betört worden.

94. Noch soll niemand einen anderen dafür tadeln, was vielen widerfährt;
Ein Weiser wird oft durch überwältigendes Verlangen in einen Narren verwandelt.

95. Das Gemüt weiß nur, was dem Herzen nahe liegt, es allein sieht die Tiefe der Seele;
Kein schlimmeres Übel überfällt den Weisen, als ohne inneren Frieden zu leben.

96. Dabei lernte ich, als ich im Schilfe kauerte und auf meine Liebe wartete,
Mein Körper und meine Seele schienen mir klug. Gleichwohl erwarb ich sie nicht.

97. Billings Maid3, weiß wie die Sonne, wurde von mir schlafend gefunden;
Alle fürstliche Freude schien mir nichts neben dem Leben mit ihrer Schönheit.

98. „Am Abend, Odin, sollst du kommen, wenn du die Maid gewinnen willst;
Es wäre unschicklich, wenn nicht wir allein davon wüßten.“

99. Zurück lief ich und glaubte mich glücklich, hoffte, die Lust des Weisen zu erfahren.
Ich hatte gehofft, ihre Zärtlichkeit und Wonne zu erringen.

100. Als ich zurückkehrte, da war die ganze tapfere Kriegerschar aufgeweckt;
Mit brennenden Fackeln und lodernden Lichtern war der Weg gefährlich für mich.

101. Am Morgen kehrte ich zurück, die Wächter schliefen;
Einen Hund fand ich ans Bett der heiligen Frau gebunden.

102. Manch süße Maid, nach der du begehrst, ist treulos;
Das erkannte ich klar, als die schlaue Maid, die ich mit List zu verführen hoffte, mich lächerlich machte; ich gewann nicht das reizende Weib.

103. Ein Mann, heiter in seinem Haus und fröhlich unter Gästen, sollte stets einen einsichtigen Standpunkt einnehmen;
Ein gutes Gedächtnis und eine ungezwungene Sprache, wenn er klug sein und weise sprechen will;
Ein Idiot hat nichts zu sagen; das ist das Merkmal des Narren.

104. Ich besuchte den alten Riesen, nun bin ich zurück: mit Schweigen gewann ich dort wenig;
Viele Worte sprach ich zu meinem Gewinn in Suttungs Saal.

105. Gunnlöd auf goldenem Thron reichte mir einen Trunk des kostbaren Mets.
Übel vergalt ich ihre Schmerzen.

106. Ratis Mund schaffte Raum für mich, nagte durch den Fels;
Über und unter mir erstreckten sich des Riesen Wege. Groß war meine Gefahr.

107. Eines wohlverdienten Schlucks erfreute ich mich; dem Klugen mangelt wenig;
Odraerir ist hier jetzt aufgestiegen zu der alten heiligen Stätte der Erde.

108. Ich zweifelte, ob ich sogar jetzt der Riesen Wohnstätte entkommen wäre,
Hätte ich nicht Gunnlöd, die gute Frau, die ich in meinen Armen hielt.

109. Die Eisriesen eilten des andern Tags, Odins Rat in des Hohen Halle zu hören;
Sie fragten nach Bölwerk [Unheilstifter],
Ob er seine Freiheit erbettelt habe oder von Suttung bezwungen wurde.
Den Ringeid, sagt man, hat Odin geschworen.

110. Wer vertraut noch seiner Treue?
Suttung, seines Mets beraubt, Gunnlöd in Tränen!

. . .

111. Es ist Zeit, vom Rednerstuhl zu sprechen
An der Quelle Urds;
Ich sah und schwieg,
Ich beobachtete und dachte,
Ich hörte, was gesagt wurde,
Von Runen hört ich reden,
Es mangelte nicht an Wissen
In des Hohen Halle.
In des Hohen Halle
Hört ich es sagen.

112. Ich sage dir, Loddfáfnir, höre auf den Rat;
Du wirst gewinnen, wenn du ihn beobachtest, Nutzen ziehen, wenn du ihm folgst.
Stehe nachts nicht auf, wenn nichts geschieht,
Es sei denn, du müßtest das Klosett [außerhalb des Hauses] aufsuchen!

113. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Schlafe nicht in den Armen, gelockt von einer Zauberin;
Sie kann zuwege bringen, daß du nicht zum Ting oder zur Versammlung gehst;
Nahrung wird dich nicht erfreuen, noch menschliche Gesellschaft; traurig wirst du schlafen gehen.

114. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Niemals verführe eines anderen Weib mit sanften Worten.

115. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Wenn du Gefahr im Gebirge oder im Fjord erwartest, versorge dich gut mit Lebensmitteln.

116. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Eröffne keinem üblen Mann dein Mißgeschick; von einem Mann mit schlechter Gesinnung erfährst du keinen Dank für dein Vertrauen.

117. Ich sah einen Mann Schaden nehmen durch die Worte einer verräterischen Frau;
Ihre giftige Zunge verwundete ihn zu Tode und war ohne Wahrhaftigkeit.

118. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Wenn du einen Freund weißt, dem du vertraust, besuche ihn oft;
Dornengestrüpp und Gras wachsen hoch auf unberührten Wegen.

119. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Gewinne gutmütige Menschen mit glücklichen Runen, singe fröhliche Lieder solange du lebst.

120. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Beeile dich nicht, den Bund der Liebe mit deinem Freund zu brechen;
Kummer wird dein Herz zerreißen,
Wenn du dich nicht mehr traust, alle deine Gedanken einem anderen zu sagen.

121. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat;
Wechsle keine Worte mit einem Dummkopf.

122. Von übelgesonnenem Mann wirst du keinen guten Gewinn erlangen,
Aber ein edler Mann mag dich mit seiner Größe ehren.

123. Eine Freundschaft ist gefestigt, wenn jeder seine Gedanken dem anderen mitteilen kann;
Alles ist besser als zerrissene Bande; kein Freund ist derjenige, der schmeichelt.

124. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Verschwende keine drei Worte im Streit mit einem Schurken:
Oft gibt der Bessere nach,
Wenn der Schlechtere Schläge austeilt.

125. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Mache dir deine eigenen Schuhe und den Schaft für deinen Speer.
Ein Schuh mag schlecht geformt, ein Speer verbogen sein, wenn man dir übel will.

126. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Wenn dir Ärger begegnet, nimm es als für dich bestimmt an;
Gib deinem Feind keinen Frieden.

127. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Niemals erfreue dich über aufgedecktes Übel, aber stets erfreue dich über Gutes.

128. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Starre nicht in die Luft während der Schlacht – Menschen können Ebern gleich wüten –
Auf daß du nicht deinen Verstand verlierst.

129. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Wenn du eine gute Frau zur Ehe verpflichten und ihre Gunst gewinnen willst,
Mußt du Großmütigkeit versprechen und dein Wort halten;
Niemand ist verdrießlich wegen einer guten Gabe.

130. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Sei vorsichtig; am meisten beim Bier,
Bei eines andern Weib, und zum dritten,
Hüte dich vor Dieben.

131. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Verspotte nicht einen Wanderer oder einen Gast.

132. Sie, die drinnen sitzen, wissen oft nicht, welche Art von Mensch eintritt;
Keiner ist so gut, daß er keine Fehler hat, keiner so miserabel, daß ihm alle Tugenden mangeln.

133. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Lächle nicht über den grauhaarigen Geschichtenerzähler; oft ist gut, was die Alten sprechen;
Runzlige Lippen können gewählte Worte sprechen.
Aus ihm, dessen Haupt gebeugt, dessen Haut welkt und der zwischen Stöcken humpelt.

134. Ich sage dir Loddfáfnir, befolge den Rat:
Beschimpfe keinen Gast noch weise irgendeinen ab; heiße den Armen willkommen.

135. Es bedarf einer starken Türangel, um die Tür für alle offenzuhalten;
Spende deine Almosen, damit nicht einer dir Unheil wünscht.

136. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Wenn du Bier trinkst, suche die Hilfe der Erdkraft, denn Erde wirkt ihm entgegen wie Feuer der Seuche;
Eiche ist ein Laxativ, Getreide wirkt gegen Zauberei,
Das Heim gegen Gezänk, der Mond gegen Haß,
Beißen hilft gegen Schlangenbiß,
Runen gegen üble Absichten,
Felder aus Erde lassen Hochwasser zurückgehen.

. . .

137. Ich weiß, daß ich hing am windigen Baum,
Neun lange Nächte, vom Speer verwundet,
Dem Odin geweiht, mein Selbst meinem Höheren Selbst in dem Baum,
Dessen Wurzel niemand kennt, woraus er entsprang.

138. Niemand brachte mir Brot, niemand versorgte mich mit Getränk;
Ich erforschte die Tiefen, fand Runen der Weisheit,
Nahm sie unter Singen auf und fiel von da noch einmal nieder.

139. Neun machtvolle Lieder lernte ich,
Von dem weisen Sohn Bölthorns, Bestlas Vater;
Ich trank einen Trank des kostbaren Mets
Geschöpft aus Odraerir.4

140. Ich begann zu gedeihen, weise zu werden,
zu wachsen, und fühlte mich wohl;
Worte aus Worten führten mich zu neuen Worten;
Taten aus Taten führten mich zu neuen Taten.

141. Runen wirst du kennenlernen und gut lesbare Stäbe,
Sehr starke Stäbe, mächtige Stäbe,
Gezeichnet von dem Mächtigen, der spricht,
Gefertigt vom weisen Wanir, geschnitzt von den höchsten Herrschern.

142. Odin unter Aesir, Dwalin unter Elfen,
Dáin5 unter Zwergen,
Allwitter6 unter Riesen.
Ich selbst habe auch einige geschnitzt.

143. Weißt du zu schreiben?
Weißt du zu erklären?
Weißt du zu verstehen?
Weißt du zu prüfen?
Weißt du zu beten?
Weißt du zu opfern?
Weißt du zu übermitteln?
Weißt du zu sühnen?

144. Besser nicht zu beten als im Übermaß geopfert, die Gabe neigt stets dazu, zurückgegeben zu werden.
Besser nichts geschickt als zuviel verschwendet.
So schrieb es Thund für den Verlauf der Zeit,
Wo er aufstand. Wo er wiederkam.

145. Ich kenne Lieder, unbekannt der Königin oder irgendeinem Menschensohn;
Hilfe heißt eines, und es kann dir helfen
In Traurigkeit und Sorgen und großen Schwierigkeiten.

146. Ein zweites weiß ich, das allen jenen bekannt sein sollte,
Die Heiler sein wollen.

147. Ein drittes weiß ich, dessen ich bedarf, um jeden Feind zu fesseln.
Ich kann ihre Klingen stumpf machen,
So daß Schwert oder Täuschung nicht schaden können.

148. Ein viertes weiß ich: wenn Krieger Kettenglieder um meine Gliedmaßen legen;
Ich kann einen Zauber singen, der mich befreien wird.
Fesseln fallen von meinen Füßen und das Schließband von meinen Händen.

149. Ein fünftes weiß ich: wenn ich Pfeile nahe auf meine Horde zufliegen sehe;
So rasch ihr Flug auch sei, ich kann sie in der Luft aufhalten,
Wenn ich sie deutlich sehe.

150. Ein sechstes Lied sing ich: wenn jemand mir mit harten Unkrautwurzeln schaden will
Oder ein Hel-Mensch mich haßt, so fügt er sich selber Schaden zu, nicht mir.

151. Das siebte sing ich: wenn ein furchterregendes Feuer in der Halle, wo die Krieger sitzen, lodert;
Wie hell einer auch brennt, bereits brennt,
Ich kann ihn bergen; diesen Zauber kann ich singen.

152. Das achte, das ich singe, ist für jeden
Das glückbringendste Wissen, das er lernen kann;
Wenn Hader unter den Kindern des Anführers gehegt wird,
So kann ich ihn rasch schlichten.

153. Das neunte, das ich weiß, wenn es notwendig ist,
Mein Boot auf der Woge zu retten,
Ich kann den Wind auf dem Meer beruhigen
Und die stürmische See beschwichtigen.

154. Ein zehntes weiß ich, wenn Hexen
Hoch oben in der Luft reiten;
Ich kann sie vom rechten Weg abbringen,
Sie ihrer Gestalt, ihres Verstandes berauben.

155. Ein elftes weiß ich; es ist hilfreich im Krieg,
Alte Freunde führe ich im Kampf; ich singe es unter dem Schild,
So daß sie mit Stärke heil in den Kampf ziehen,
Heil aus dem Kampf,
Heil, wo immer sie gehen.

156. Ein zwölftes weiß ich: wenn ich einen Baum sehe
Mit einem hoch aufgehängten Mann,
Ich kann Runen schnitzen und zeichnen, So daß der Gehängte zu mir zu sprechen sich beeilt.

157. Ein dreizehntes weiß ich: wenn sie wünschen,
Daß ich eines Bürgers Sohn mit Wasser weihe,
So soll er nicht fallen, wie unterlegen er auch sei, er soll Durch kein Schwert fallen.

158. Ein vierzehntes weiß ich: ich kann der Kriegerhorde die Namen wohltätiger Götter nennen;
Die Aesir und Elfen,
Ich kann alle unterscheiden,
Was ein unweiser Mann nicht kann.

159. Ein fünfzehntes weiß ich, das der In-Gang-Bringer
Bei Tagesanbruch sang;
Er sang den Aesir Stärke, den Elfen Fortschritt,
Verstandesstärke dem Gott der Götter.

160. Ein sechzehntes kann ich singen,
Wenn ich Glück und Gunst der klugen Maid begehre,
Die Liebe der weißarmigen Frau kann ich gewinnen,
Und daß sie ihren Sinn mir zuwendet.

161. Ein siebzehntes singe ich, damit die geliebte Maid
Mich nicht bald wieder verläßt,
Für eine lange lange Zeit magst du, Loddfáfnir,
Dieser Lieder ledig bleiben.
Es wäre gut, wenn du sie behältst,
Du kannst dich glücklich schätzen, wenn du sie lernst,
Es wäre nützlich, sie gut zu beachten.

162. Ein achtzehntes weiß ich, das ich aber niemals
Vor einer Maid oder eines Mannes Weib gesungen habe.
Alles was am besten ist, sei nur einer bekannt, ihr, die mich Wie eine Schwester umarmte.
Das ist der Lieder Schluß.

163. Jetzt ist des Hohen Lied gesungen in des Hohen Halle:
Nützlich den Menschenkindern; nutzlos den Riesensöhnen.
Heil ihm, der es singt! Heil ihm, der es kennt!
Glücklich ist der, der es erhält!

(Schlußfolgerung von Gylfaginning)

(König Gylfi, der sich selbst Gángläri nennt, hörte alle diese Dinge.)

Schließlich sprach der Hohe: „Wenn du noch weiter fragen kannst, ich weiß nicht, woher du die Fragen nimmst, denn ich hörte seitdem keine weiteren Berichte über die Bestimmungen der Zeitalter. Erfreue dich daher dessen, was du gelernt hast.“

Gángläri hörte danach einen starken Donner von allen Seiten und schaute durch den Eingang nach draußen; und als er um sich schaute, fand er sich selbst auf einem ebenen Flachland ohne Hof oder Halle in Sicht.

So kehrte er zu seinem Land zurück und erzählte diese Botschaften, die er gehört und gesehen hatte. Und nach ihm wurden diese Sagen von einem zum anderen weitergegeben.

Fußnoten

1. Der Becher war oft das Horn einer Kuh oder eines Widders und wurde um die Tafel weitergereicht. Ein solches Horn konnte nur leer wieder abgesetzt werden. [back]

2. Walroß? [back]

3. Billings Maid: die weiße schneebedeckte Erde, auch Rinda genannt [back]

4. Bölthorn ist wahrscheinlich der Trudgälmir, die erhaltende Lebenskraft eines vorherigen Lebenszyklus; Bestla ist die Schwester von Bärgälmir, die Frau von Bur und das weibliche Gegenstück der karmischen Samen des vorherigen Lebens und der Anfangsimpuls des gegenwärtigen; Odraerir ist der Brunnen von Mimir, die Quelle der Weisheit, die von den Göttern in der Manifestation aufgesucht wird. [back]

5. Tod [back]

6. Allwissender [back]