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Die augenlosen Drachen

Chang Seng-yu sollte der Künstler sein, deshalb war das Gedränge so groß. Die Höfe des Tempels des Friedens und der Glückseligkeit waren seit der Morgendämmerung voller Menschen, obwohl die Sonne zweifellos ziemlich hoch am Himmel stehen würde, bevor der große Chang das Gerüst besteigen und die Arbeit beginnen konnte.

Ganz Nanking war gespannt, seit sich die Nachricht verbreitet hatte, der Kaiser wünsche, daß auf beiden großen Mauerflächen des Tempels ein Drache gemalt werde. Und als dazu erzählt wurde, Chang Seng-yu sollte der Künstler sein, da war die Freude sehr groß. Seine mächtigen Pinselstriche waren bekannt, und seine Farben waren so zart wie die Abendnebel auf dem Yangtse, oder so rein und lieblich wie die Farben der Blumen. Immer wenn er in der Öffentlichkeit malte, standen Leute um ihn herum, um ihm zuzusehen, und von Zeit zu Zeit applaudierten sie begeistert zu seinen meisterhaften Pinselstrichen, den Einfällen seiner kühnen Phantasie, den Augenblicken, in denen die schöpferischen Funken sichtbar wurden. Und diese Menschen der chinesischen Renaissance - vor etwa vierzehnhundert Jahren - waren wirkliche Kenner.

Sie liebten Chang Seng-yu auch noch aus einem anderen Grund, abgesehen von seiner genialen Beherrschung des Pinsels. Viele glaubten, er könne den fliegenden Drachen lenken, die äußersten Enden der Erde besuchen, und auf dem ehrwürdigen Kranich reiten, um über den neun Stufen des Himmels zu schweben. Derartige Dinge wurden zu jener Zeit vollbracht. Es war eine bestimmte Kraft um Chang Seng-yu, die unbegrenzte Möglichkeiten andeutete. Man konnte nie genau sagen, was mit einem Bild geschehen würde, das er malte.

Plötzlich eine Stille im Hof des Tempels. Der Künstler ist gekommen und mit ihm eine kleine Gruppe von Schülern, die Pinsel und Farbtöpfe trugen. Er ist ein stiller, freundlicher alter Mann, der sich beim Hereinkommen tief vor den Leuten verbeugt. Er begrüßt sie höflich und formell, aber nicht unfreundlich, während er an ihnen vorbei zur Tür des Tempels geht. Die Angesprochenen antworten höflich und stolz auf das Zeichen der Ehre, das sie empfangen haben, denn er ist in den Augen der Öffentlichkeit ein allgemein anerkannter Held. Der Schneider und der Schuster haben sich vorsorglich einen freien Tag genommen und sind mit ihrer Familie gekommen, um den Tag im Tempel des Friedens und der Glückseligkeit zuzubringen und dem Meister beim Malen zuzusehen. Der Metzgerlehrling, auf einem Botengang, kann der Versuchung nicht widerstehen, hineinzugehen. Der Dienstmann berechnet genau alle Umstände und glaubt, er könne hineingehen und zusehen, wie so eine große Wandfläche plötzlich mit Leben bedeckt wird, denn wenn er sich nachher beeilt, werde er immer noch rechtzeitig mit seiner Last ankommen. - Für alle diese Leute ist Malerei sichtbar gemachte Dichtung. Sie weist auf die Geheimnisse des Tao hin, das größte Wunder und die größte Erhabenheit des Lebens. Und dieses Werk von Chang Seng-yu wird keine gewöhnliche Malerei sein.

Tag für Tag versammelte sich die Menge im Hof, und wenn Chang Seng-yu ankam, folgte sie ihm in den riesigen Tempel. Tag für Tag löste sich die gespannte Stille immer wieder in Gemurmel auf, und das Gemurmel wurde zu leicht bewegtem Beifall. Ein Pinselstrich, und das Maul eines Drachen war zu sehen; und nun wuchs die wunderbare Form und wurde mit jedem Strich, Glied für Glied mit allen Windungen des riesigen Körpers bis zum letzten Ende des Schwanzes vollendet. Alles glänzte in leuchtendem Gelb, als ob es das über die große Mauer fallende Licht des Sonnenuntergangs wäre: Es war ein Wesen von erlesenen Kurven, edlen Linien, fließend, großartig und harmonisch, an dem alle Teile die höchsten menschlichen Vorstellungen und Bestrebungen auszudrücken schienen. Es anzuschauen war, als höre man plötzlich den Klang einer großartigen und Ehrfurcht einflößenden Musik. Die Seele jedes aufrechten Menschen wurde dadurch gebeugt und gleichzeitig erhoben. Die Zuschauer erwarteten jeden Augenblick, durch die langgestreckte Gestalt des Drachen eine Bewegung zittern zu sehen und daß er, sich windend, die mächtigen Schwingen schüttelnd, aus der Wand hervortretend und durch das Dach hindurchbrechend, sich einen Weg in den blauen Himmel bahnen würde. Etwas Furcht mischte sich in ihr großes Entzücken: Bestimmt bedient sich der Meister der Magie.

"Herr", sagte Lu Chao, "aus welchem Grund hast Du das ehrenwerte Auge nicht gemalt?"

"Könnte dieser heilige Drache sehen", antwortete Chang Seng-yu, "dann würde nichts seine Lordschaft abhalten, seine Heimat auf dem Tummelplatz der Blitze aufzusuchen."

"Wie ist das möglich?", sagte Lu Chao. "Der Drache ist wundervoll, aber es ist nur eine Abbildung in Farbe. Wie könnte ein derartiges Bild in den Himmel entschweben? Es gefällt dem Meister, sich auf Kosten dieses Elenden in Späßen zu ergehen."

"Durchaus nicht, Lu Chao", sagte der Meister. "Du hast bis jetzt nur wenig Verständnis für die Mysterien der Kunst."

Aber Lu Chao zweifelte, und es bereitete ihm Kummer, daß Chang Seng-yus Schöpfung unvollendet bleiben sollte.

Der gelbe Drache war fertig und seine prächtige Gestalt bedeckte den oberen Teil der südlichen Mauer. Die Leute konnten es kaum unterlassen, ihn zu verehren. Sie erblickten in ihm eine Göttliche Kraft, das Element des Licht-Bringens, das vollkommene Symbol der Inspiration, des heiligen und belebenden Gedankens vom Himmel. "Wenn der Meister sein Geschöpf nicht ohne Augen gelassen hätte", sagten sie, "dann wäre seine Lordschaft nie damit zufrieden, sich auf Erden aufzuhalten. Der richtige Wohnort für so jemanden ist der Himmel." Aber Lu Chao zweifelte weiterhin.

Chang Seng-yu kam auf diese Angelegenheit nicht mehr zurück; aber wenn Lu Chao an der Reihe war, den frisch in den Farbtopf getauchten Pinsel an Chang Seng-yu weiter zu geben, dann blickte dieser auf ihn herab, schüttelte den Kopf und ein Schatten zog über sein Gesicht. "Obwohl Lu Chao eine gute Veranlagung besitzt, wird er niemals ein Maler werden", dachte er seufzend.

Das Gerüst kam an die gegenüberliegende Wand, und dort begann ein purpurroter Drache zu entstehen. Gelegentlich besuchte auch der Sohn des Himmels, der Kaiser Wu-ti, den Tempel, um das voranschreitende Werk zu besichtigen. Dann stieg der Künstler jedesmal herab und verbeugte sich, aber Wu-ti, ein heiliger Mann, wollte keine Ehrbezeugung vom Schöpfer jener Drachen haben. "Verbeuge Dich mit mir vor diesen zwei königlichen Boten des Himmels", sagte er. "Aber aus welchem Grund hat der ehrwürdige Meister die Augen ausgelassen, um sie zuletzt zu malen?"

"Herr", sagte Chang Seng-yu, "die göttlichen Augen ihrer Lordschaften werden nicht gemalt werden. Es besteht die Gefahr, daß sie mit der Erde nicht zufrieden wären, wenn sie sehen könnten, und in ihren angestammten Feuerhimmel entschweben würden. Kein Mensch könnte ihre Augen mit soviel Mitleid ausstatten, daß sie den Wunsch haben könnten, hierzubleiben."

"Es ist gut", sagte der Kaiser. "Ihr Bestreben, sich emporzuschwingen, ist deutlich zu sehen. Laß sie hierbleiben, um die Hüter des Friedens und der Glückseligkeit meines Volkes zu sein."

Lu Chao hörte das, aber auch der Glaube des Sohnes des Himmels konnte ihn nicht überzeugen. "Es mag so sein, wie der Meister sagt", dachte er, "aber derartige Dinge gehen über mein Verständnis. Wie könnten Gestalten, die aus Farbe gemacht sind, den Wunsch oder das Verlangen nach himmlischen Räumen haben? Mir scheint, der ehrwürdige Chang macht sich lustig, wenn er davon spricht, ihre Augen so zu malen, daß sie Mitleid ausdrücken."

Die Arbeit näherte sich dem Ende, und Lu Chao zweifelte immer mehr. Freilich machte er im Malen Fortschritte, und die Geschicklichkeit, die er bei seiner Arbeit zeigte, wurde von vielen gelobt. Der Tag, an dem die Einweihungsfeier für die Drachen stattfinden sollte, war bereits festgesetzt worden, und es blieb bis dahin noch etwas Zeit. An bestimmten Tagen war der Tempel nun geschlossen, und der Meister und seine Schüler arbeiteten im Atelier. Chang Seng-yu ging dort von einem zum anderen und äußerte sich kritisch zur Arbeit eines jeden. Bei den Bildern von Lu Chao schüttelte er ein wenig betrübt den Kopf. "Du hast Fertigkeit und Ausdauer", sagte er gewöhnlich, "aber es fehlt der Glaube."

Lu Chao grübelte darüber nach, er hatte aber nicht den Wunsch, Glauben zu erlangen. "Viele sagen, daß ich Fortschritte mache", dachte er, "und auch mir scheint es so. Der Meister ist wirklich hart in seiner Beurteilung. Wenn ich ihm zeigen könnte, daß er sich irrt, ..." Er überdachte die Angelegenheit und machte einen Plan.

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Der Tag der Einweihung kam; das große Werk war vollendet. Priester und Propheten, Weise und Doktoren kamen aus ganz Liang zusammen und auch aus den Königreichen jenseits des Yangtse und der Westlichen Berge. Den ganzen Tag über fanden Opferhandlungen im Tempel des Friedens und der Glückseligkeit statt; Prozessionen gingen hindurch und huldigten freudig den Drachen. Schließlich kam die Nacht und in der großen Halle und in den Höfen war es still.

Für Lu Chao war die Zeit gekommen; jetzt wollte er beweisen, daß der Meister sich geirrt hatte: daß die gemalten Formen sich nicht selbst von der Wand abheben konnten, auf die sie gemalt waren, und daß er trotz des fehlenden Glaubens Fortschritte gemacht hatte. "Möglicherweise hat es mit Magie zu tun", sagte er, "obwohl ich nie etwas davon gesehen habe. Aber der Verstand verbietet mir, daran zu glauben."

Er nahm eine Laterne, einen kleinen Pinsel und etwas Farbe, soviel wie nötig sein würde, und ging durch die dunklen Straßen zum Tempel. Er wußte, er würde ohne Schwierigkeit hineinkommen. Sollte irgend jemand eine Frage stellen, so hatte Chang Seng-yu etwas vergessen und hatte ihn deswegen hergeschickt. Es war jedoch ganz unwahrscheinlich, daß er irgend jemand treffen würde, und er hoffte ungesehen hineinzukommen. "Niemand wird wissen, daß ich es tat", dachte er. "Man wird annehmen, daß die Geister die Augen gemalt haben, weil es ihnen nicht gefiel, daß der Meister das Werk nicht vollendet hatte.

Er traf niemanden, und es gelang ihm über das Tor zu klettern. Im Hof fand er eine Leiter. Er stellte sie an die südliche Mauer beim Kopf des gelben Drachen, kletterte hinauf und machte sich an die Arbeit. Als er durch die Stadt gekommen war, war es eine stockdunkle, aber ruhige Nacht gewesen. Jetzt, beim ersten Pinselstrich, gab es einen Donnerschlag, einen Blitzstrahl. In seiner plötzlichen Verwirrung fiel ihm der Pinsel hinunter, und er mußte hinabsteigen, um ihn aufzuheben. Waren die Geister beleidigt? Er zögerte und dachte daran, nach Hause zu gehen. "Aber nein", sagte er, "das ist Angst, das ist ausgesprochener Aberglaube." - Und er stieg die Leiter wieder hinauf. Die Laterne, die an einer Sprosse nahe beim Kopf des Drachen hing, warf ihr Licht darauf: Ein kleiner Kreis warmer Helligkeit, die sich in der Dunkelheit verlor. Sie genügte, die Absicht Lu Chaos auszuführen. Nun ein paar Pinselstriche, mehr würde nicht nötig sein.

Der erste, und er verspürte Furcht. Der zweite, und die Mauer schien zu wanken. Der dritte, und Schweiß trat ihm auf Stirn und Rücken, seine Hand zitterte heftig. Er nahm sich zusammen und redete sich gut zu. Er überwand das Zittern seiner Hand und setzte den letzten Strich. Das Auge des gelben Drachen war gemalt.

Lu Chao klammerte sich an die Leiter. Im spärlichen Licht der Laterne sah er, wie sich der herrliche Kopf drehte, bis er dem Tempel das ganze Gesicht anstatt nur das Profil zuwandte. Er hatte das linke Auge gemalt: jetzt waren beide da, blickten hierhin und dahin, stolz, unruhig, sandten feurige Strahlen durch die tiefe Dunkelheit. Die Leiter wackelte, schwankte. Plötzlich richteten sich die zwei wundervollen Augen voll auf ihn, auf Lu Chao. Ein Schatten von Abscheu glitt über sie, dann füllten sie sich mit maßloser Trauer, mit Leid, das tiefer war, als daß man es ertragen konnte. Der Hals wandte sich zurück; im übernatürlichen Licht der Drachenaugen sah Lu Chao, wie der Drache sich krümmte und von der Wand löste. Ein Krachen, und er sah, wie die ungeheuren Schwingen geschüttelt wurden. Die Welt schwankte schrecklich, ein zerreißender Lärm, ein Zerren und Krachen, eine blendende Flamme. ... Ganz Nanking war erwacht und auf den Straßen. Was die Leute sahen, war ein goldenes Wunder, das in den Himmel entschwebte, eine kometenhafte Pracht, die aufstieg, bis sie sich in der Dunkelheit des Himmels verlor.

Am Morgen besuchte der Kaiser die Ruinen des Tempels des Friedens und der Glückseligkeit, und mit ihm ging Chang Seng-yu, der Meister. Nur die nördliche Mauer stand noch. Das Dach war mit einem einzigen Schlag, wo die feurigen Schwingen es gespalten hatten, zerbrochen. Von der südlichen Mauer stand nur der untere Teil, der Rest war zusammengefallen. Unter den Trümmern fanden sie die Leiter, verkohlt und zerbrochen, und die zerschmetterte Leiche von Lu Chao.

"Ach", sagte Chang Seng-yu traurig, "er wäre nie ein Künstler geworden."