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Die neue Verständigung

Robert Muller ist Sekretär im Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen und im Ausschuß der Vollversammlung für eine Neue Internationale Wirtschaftsordnung. Er ist auch ein Essayist und der Autor von Most of All, They Taught Me Happiness (Doubleday, New York, 1978).

 

 

 

Es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß das Leben und die Empfindungen der Menschen insgesamt tief in unserer irdischen Umgebung verwurzelt sind. Wir sind Lebewesen, die geboren werden, sich entwickeln und ihre Bestimmung unter den spezifischen Bedingungen dieser Welt zu erfüllen versuchen. Diese Bedingungen sind ein bestimmter atmosphärischer Druck, eine Erdkruste, auf der wir stehen können, eine bestimmte Wärme, die von unserer Entfernung zur Sonne abhängt, und eine festgesetzte Aufnahme der Sonnenenergie durch Pflanzen und Tiere. Im gesamten Universum gibt es wahrscheinlich keinen anderen Planeten, der genau dieselben Bedingungen und denselben Stand der Entwicklung aufweist.

 

Eine der ersten grundlegenden Tatsachen dieser Umgebung, die den ersten Menschen unauslöschlich geprägt haben müssen, ist die Folge der Erdumdrehung und der Umlaufbahn der Erde um die Sonne, d. h. die Aufeinanderfolge von Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, Wärme und Kälte, der Wechsel der Jahreszeiten, das Werden und Vergehen in der Natur. Das menschliche Leben auf unserem Planeten war daher von Anfang an grundsätzlich von einer Dualität beeinflußt, von einem beständigen Ein- und Ausschalten, von einem Vor und Zurück, von der Betrachtung aller Dinge von einer hellen oder dunklen Seite aus, von einer optimistischen oder pessimistischen Stimmung, von Hoffen oder Verzagen, von Lebensbejahung oder Todesfurcht.

Dieser zweifache Mechanismus, der durch die Rotation unseres Planeten in unser Gehirn "eingebaut" wurde, muß durch den Lebensprozeß selbst noch vertieft worden sein. Das Kennenlernen des Lebens ist für jeden Neugeborenen tatsächlich ein Prozeß des Prüfens und Irrens, ein Herausfinden, was "richtig" und was "falsch" ist, sei es im Handeln, in der Nahrung, im Benehmen, im Denken, im Glauben oder in den Gefühlen. Die Geschichte des menschlichen Lebens und der Kultur ist größtenteils die Summe dieses Lernprozesses durch Prüfungen und Irrtümer der Menschen auf der ganzen Erde; und dieses Ergebnis wurde von Generation zu Generation mündlich und schriftlich weitergegeben. Was für das menschliche Leben als gut befunden wurde, behielt man, und was schlecht war, wurde verworfen. Seit die Menschen über die Erde verstreut wurden und in verschiedenartigen, von der Natur bedingten Umgebungen lebten, ohne viel Verbindung untereinander zu haben, entwickelten sich verschiedene Zivilisationsformen ("pockets" of civilisation), die sowohl gemeinsame wie unterschiedliche Merkmale haben: Wir alle essen, trinken, sprechen, lieben, gestalten etwas und glauben; aber wir essen viele verschiedene Nahrungsmittel, sprechen fünftausend Sprachen, haben eine Menge verschiedene Kunstrichtungen, unterschiedliche Glaubensbekenntnisse und leben in voneinander abweichenden sozialen Systemen.

Eines der grundlegendsten Ereignisse unserer Zeit ist, daß sich diese Lebenserfahrungen und Kulturen immer mehr näher kommen und dadurch ein gemeinsamer Nenner gefunden werden kann, was gut oder schlecht für die gesamte Menschenfamilie ist. Es dreht sich um die große Frage nach der Einheit in der Vielheit, erschwert durch die natürliche Tendenz jeder Gruppe, Kultur, Sprache und Lebensform, jeder Religion und jedes sozialen Systems, zu glauben, sie seien das beste in der Welt und die anderen täten gut daran, ihnen zu folgen. Einige sind vielleicht sehr aggressiv und achten auf äußere Dinge, während andere sich verteidigen müssen, um zu überleben und der Vernichtung zu entgehen. Darin liegt die Ursache für die großen Schwierigkeiten in der heutigen politischen, sozialen und kulturellen Szene. Die Menschen werden zwischen den verschiedenen Prägungen einzelner Gruppen und den mächtigen Bestrebungen nach einer größeren Einheit hin- und hergerissen; und wir sind erst am Anfang, um herauszufinden, was für die Menschheit insgesamt "gut" oder "schlecht" ist.

Es gibt noch einen anderen Grund, warum das Problem von gut oder schlecht nur zögernd verglichen werden kann. Während der letzten Jahrhunderte und besonders seit dem Zweiten Weltkrieg hat die menschliche Natur auf Grund der Erweiterung der Kenntnisse über den Kosmos durch die Technik ihr körperliches und ihr geistiges Bewußtsein und ihre Fähigkeit zum Handeln außerordentlich verstärkt. Das Ergebnis: Die Menschen haben eine ungeheure, aus mehreren Teilen bestehende Tatsache entdeckt, die schon immer um uns existiert hat, aber unseren Sinnen verborgen geblieben war. Daher kommt die verblüffende Anzahl neuer Probleme, die durch unsere eigenen Entdeckungen und die physische Veränderung des Planeten enthüllt wurden. Sind zum Beispiel die chemischen Verbindungen, die zu Tausenden jährlich erfunden und hergestellt werden, für die Ernährung unseres Körpers gut oder schlecht? Sind neue Ideen, Überzeugungen, Schriften, Medien, Möglichkeiten der Nachrichtenübermittlung und der Reklame zur Befriedigung unseres Geistes gut oder schlecht? Sind die schnelleren Beförderungsmittel gut oder schlecht? Und so weiter. Jahrhundertelang waren wir überzeugt, daß neue Entdeckungen, veränderte Lebensumstände, neue Industriezweige und wirtschaftliche Entwicklung wertvoll sind; plötzlich erscheinen ernsthafte Fragezeichen: Sollen wir unsere Erde überhaupt noch verändern? Wenn wir so weitermachen, wie wird sie dann aussehen, und wie wird es dem Menschen in einer Zukunft ergehen, die die Astrophysiker auf sechs bis acht Milliarden Jahre schätzen, bis, wie sie sagen, unser Sonnensystem explodiert und wieder in dem Universum verschwindet?

Während also gegenwärtig großartige Fortschritte in der Erweiterung der menschlichen Kenntnisse gemacht werden und der menschliche Einfluß sich nach jeder erdenklichen Richtung ausdehnt, gibt es auch riesige Fragezeichen, die von großer Angst begleitet werden. Was müssen wir unter diesen Umständen tun?

Ich glaube, daß wir vor allem erst einmal aus dem Schock, der durch die vielen verwirrenden wissenschaftlichen Entdeckungen und aus der immer größer werdenden menschlichen Aktivität entstanden ist, erfolgreich herauskommen müssen. Zweitens müssen wir nun von unserer irdischen Umgebung bewußt Kenntnis nehmen und erkennen, daß wir in einem in sich geschlossenen, voneinander abhängigen, äußerst vielfältigen und zerbrechlichen Verband auf dieser Erde leben. Drittens müssen wir aus der immer größer werdenden falschen Vorstellung von Gut und Böse herauskommen, wie sie von bestimmten Gruppen, sei es eine Rasse, eine Nation, eine Glaubensform, eine Ideologie oder ein Beruf, gesehen wird, und neue Begriffe für das, was für die ganze menschliche Familie gut oder schlecht ist, festlegen. Das ist unbedingt die Hauptsache. Die jüngste Entdeckung, daß alles auf unserem Planeten eng zusammenhängt, muß von der Erkenntnis begleitet werden, daß die menschliche Rasse eine voneinander abhängige Einheit ist.

Die Frage, ob die ganze menschliche Spezies, abgesehen von irgendeiner einzelnen Macht oder Gruppe, als solche überleben kann, ist klar gestellt worden. Viele Wissenschaftler, die sich mit großen Zeiträumen beschäftigen, geben der menschlichen Spezies keine große Überlebenschance. Der Astronom Sir Fred Hoyle glaubt zum Beispiel, daß die menschliche Rasse wenig Aussicht hat, zehntausend Jahre zu überleben; das ist lediglich ein kleines Zeitpünktchen in der Vorstellungswelt eines Astronomen. Einige Politiker auf dieser Erde wagen dagegen nicht viel weiter als über die nächsten hundert Jahre hinauszudenken! Nach Hoyles Ansicht führt die menschliche Intelligenz, die der Ausgleich für den Mangel an Körperkraft für unsere Spezies war, jetzt mehr und mehr zu unserer Selbstzerstörung. Andere, wie der Biologe Vernadsky, der die Idee der Biosphäre gefördert hat, und der Archäologe Teilhard de Chardin, glauben, die menschliche Spezies sei dabei, eine evolutionäre Veränderung durchzumachen und entwickle Metaorgane oder eine "Noosphäre" [Geistsphäre], die ihr helfen würde, zu überleben und eine bessere Beziehung zu ihrem Planeten zu finden. Nachdem ich gesehen habe, wie im System der Organisation und der Weltprogramme der Vereinten Nationen mehrere Metaorgane der Diagnose, der Überwachung, der Warnung und des gemeinsamen Handelns entstanden sind, habe ich mich selbst dieser Gruppe angeschlossen.

Schließlich müssen wir in diesem großartigen Prozeß, der vor uns liegt, den Optimismus wieder herstellen und ferner unseren angeborenen Lebensinstinkt für das Positive, für die Selbsterhaltung, für das Überleben und für die menschliche Erfüllung auf immer höheren Ebenen des Bewußtseins anregen. Wir müssen die Dualität überwinden, das Finstere, das Schlechte, das Negative, das Selbstmörderische. Alle enthalten gefährliche, sich selbst nährende Prozesse der Selbstzerstörung. Wir müssen uns vielmehr den geheimnisvollen, sich selbst erneuernden Mächten der Hoffnung, des schöpferischen Denkens und der Lebensbejahung zuwenden.

Die Welt der menschlichen Gesellschaft unterscheidet sich nicht viel von derjenigen des einzelnen Menschen. Jeder von uns ist eine unermeßlich komplexe Einheit, und innerhalb eines jeden von uns ist jede kleine Zelle selbst wieder ein ungeheuer komplexes, in sich geschlossenes System. Die Trillionen Zellen und viele automatische Prozesse in unserem Körper werden vom leitenden Prinzip des Lebens selbst zusammengehalten und veranlaßt, in Harmonie zu wirken: Wenn wir optimistisch sind, positiv, voll Zuversicht, glücklich, daß wir leben, dann ist alles gut - dann arbeiten die Myriaden kleiner Fabriken in Harmonie zusammen. Geben wir aber auf, lassen alles gehen, verzweifeln wir, dann treten Krankheit, Versagen und oft der Tod ein. Es kann nicht anders sein. In allen Lebewesen muß vor allem ein Wille zum Leben vorhanden sein. Die größte Freiheit des Menschen besteht darin, daß es ihm möglich ist, an das Leben und an sich selbst zu glauben und somit ein wesentlicher Bestandteil im ewigen Strom der Schöpfung und der Entwicklung zu sein. Die Allgemeinheit hat diesem fundamentalen zweiseitigen Mechanismus, dieser "Tag-und Nacht-Seite" im Menschen und in den Körperschaften der Gesellschaften nicht immer genügend Aufmerksamkeit gewidmet. Die Natur hat etwas Wunderbares für uns getan: Während der Nacht drängt sie uns zum Ruhen, und wenn es Tag wird, weckt sie uns wieder zu bewußtem Leben.

Es ist eine grundlegende Erziehungsaufgabe, jedes neue Mitglied der menschlichen Familie zu lehren, wie es seinen wunderbaren Körper, seinen Geist, sein Herz und seine Seele hoffnungsvoll durch die Vielfalt der wundersamen Wirklichkeit, die uns umgibt, führen kann. Dieses Sich-selbst-erwecken muß in einer selbsterwachten, friedlichen, gesamten menschlichen Gesellschaft stattfinden, die gleichfalls durch den Glauben an unsere wunderbare, lichtvolle Reise auf einem unglaublichen Planeten im unergründlichen Universum geleitet wird.

Es ist nicht das erste Mal, daß die Menschen einer verwirrenden Schwierigkeit gegenüberstehen. Für den primitiven Menschen war die ihn umgebende furchteinflößende und feindliche Welt - der Himmel, die Sterne, die Sonne, Blitz, Donner und der Winter - mindestens ebenso schreckenerregend, wie für uns die heutigen Schwierigkeiten. Das menschliche Auge empfängt in jedem Augenblick mehr als hundert Millionen Einzelinformationen, und doch reduzieren die Sehnerven, das Gehirn und das Herz diese verwirrende Vielfalt zu einfachen Vorstellungen und Objekten, zu schlechten oder guten, zu nützlichen oder schädlichen, häßlichen oder schönen Gefühlen. Die Menschen werden immer neue einfache Mittel und Wege finden, die ihnen helfen, jede nur vorstellbare Schwierigkeit zu überwinden. Am dringendsten ist es heute, die Zauberkräfte der Liebe, des Vertrauens und des Glaubens an den weiteren Aufstieg und die Fähigkeit zur Vervollkommnung des Menschen wieder herzustellen.

Zum ersten Mal in ihrer Entwicklung hat die menschliche Spezies die gemeinsame Verantwortung für den Erfolg des Planeten Erde im Universum übernommen. Das Erkennen der gegenseitigen Abhängigkeit, weltweite Beziehungen, und eine alles mit einschließende Betrachtung unseres Planeten und seiner Umgebung sind jetzt lebensnotwendig. Noch notwendiger ist jedoch, zu beachten, daß der Mensch auch in eine universale Umwelt einbezogen ist, in den Kosmos, in den gesamten Strom der Zeit. Wir müssen uns als Teil von Zeit und Raum empfinden. Vielleicht wird das die neue Verständigung und Moral der Spezies Mensch.