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Die zwei Eicheln

Es war einmal eine Rieseneiche. Ihre umfangreiche Krone hatte vielen Indianergenerationen Schutz geboten, während die Eicheln ihnen als Nahrung dienten. Eines Jahres, nachdem im Winter ungewöhnlich viel Regen gefallen war und es wieder einmal einen sehr schönen Sommer gegeben hatte, reifte an einem Ast dieser Eiche eine bezaubernd schöne Eichel heran. Natürlich wuchsen noch mehr Eicheln an diesem Ast, aber das waren nur einfache Eicheln. Nach einiger Zeit bemerkten die einfachen Eicheln, wie groß und schön ihre Gefährtin war, und sie nannten sie von jetzt an "Große Eichel". Unweit von dieser Eichel wuchs noch eine andere Eichel auf demselben Ast. Wenn die anderen sie gesehen hätten, wäre sie bestimmt "Arme Eichel" genannt worden. Aber sie war so klein und unscheinbar mit ihrer schiefen Mütze und dem schmächtigen, völlig glanzlosen Leib, daß man sie gänzlich übersah.

Die Arme Eichel schaute den ganzen langen Sommer hindurch zur Großen Eichel hinüber und bewunderte sie traurigen Herzens. Sie konnte nichts dafür, aber es gab Momente, da war ihr wirklich sehr traurig zumute, wenn sie ihren eigenen schmächtigen und reizlosen Leib besah. Manchmal, wenn der Spätnachmittag eine erquickende Brise brachte, wiegten sich die Eicheln auf ihrem Ast und hielten ein Plauderstündchen. Selbstverständlich sprach die Große Eichel oft über ihre Zukunft.

"Wenn meine Zeit da ist", sagte sie, "werde ich durch die Luft schweben. Wenn ich dann auf den Erdboden gefallen bin, werde ich Wurzel schlagen, und aus mir wird die größte Eiche im ganzen Wald wachsen." Die Arme Eichel hörte ehrfürchtig zu und dachte nicht an sich, wenn sie sich die Zukunft der Großen Eichel ausmalte.

"Sicherlich", dachte sie, "ist das das natürliche Schicksal, wenn man so ungewöhnlich schön ist wie sie. Auf die Erde zu fallen und von den Indianern aufgelesen zu werden und für ihre Nahrung zu dienen, mehr darf ich wohl kaum erwarten. ... Aber immerhin nützt man dann doch noch", stellte sie fest, als sie länger darüber nachdachte. Und damit wurde ihr auch viel wohler.

Als der Herbst kam, und die Eicheln nicht mehr so fest auf dem Ast saßen, erhob sich ein Sturm. Es regnete und ein kräftiger Wind schwang die Zweige und Äste des alten Baumes in alle Richtungen. So gut wie möglich klammerten sich die Eicheln an ihren Zweigen fest, aber die Große Eichel fiel zuerst hinunter, weil sie so schwer war. Als der Wind einmal aussetzte, stürzte sie senkrecht nach unten und landete auf einer harten Wurzel des Mutterbaumes. Die Arme Eichel hingegen konnte sich festhalten bis ein heftiger Windstoß sie durch die Luft wirbelte und sie weit entfernt vom Baum auf die Erde fallen ließ. Sie war so federleicht, daß der Wind sie ohne Mühe weit davontragen konnte. Am Boden sah sie sich um, sie lag in weichem Erdreich und Laub, trotzdem war ihr Herz trauriger als je zuvor.

"Schaut, was mir passiert ist", rief sie. "Ich bin so weit von den anderen abgetrieben, kein Indianer wird mich hier finden. Alles war umsonst, sogar zur Nahrung werde ich nicht taugen. Als Eichel bin ich ein Versager." Diese Gedanken quälten sie die ganze Nacht, bis die Sonne am nächsten Morgen wieder aufging und sich der Wind legte, nachdem er seine Arbeit vollbracht hatte.

Als die Sonne sie erwärmte und sie die sanfte Erde fühlte, dachte die Arme Eichel: "Gut, wenn es eben so sein soll, brauche ich das eigentlich nicht zu bedauern. Mutter Erde ist ja ganz tröstlich, die Sonne ist herrlich warm, und ich kann mir hier alle schönen Dinge in Ruhe ansehen." Es war merkwürdig, aber sie fühlte sich näher mit der Erde verbunden. Tatsächlich vergaß sie bald den Mutterbaum und die anderen Eicheln und war einfach glücklich.

Die Monate gingen ins Land und die verschmutzte Schale der Armen Eichel begann aufzuweichen. Sie merkte es selbst nicht, denn sie dachte nicht an sich - sie war zu glücklich und emsig damit beschäftigt, sich ihrer Umwelt zu erschließen. Sie fühlte, wie ihr Umfang größer wurde und wie sich ihre Liebe der Mutter Erde zuwandte. Tiefer und tiefer versank sie im Wesen der Mutter Erde und wurde von dieser genährt. Dann erinnerte sie sich an die Sonnenwärme und verspürte das Bedürfnis, sich liebevoll aufzurichten, und die Sonne hieß sie willkommen.

Viele Jahre danach, als Indianerkinder bei der Stelle spielten, wo die Arme Eichel in der Erde Wurzel gefaßt und sich zur Sonne emporgerichtet hatte, sahen die Kinder sich den Baum, der da wuchs, näher an und riefen: "Schaut mal, der junge Baum trägt jetzt Eicheln." Mit Freude sammelten sie die Eicheln und nahmen sie mit nach Hause.