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Eine Lampe des wahren Lichtes – Jainismus, 2. Teil

Groß ist das Vermächtnis der erfahrenen und berühmten jainistischen Gelehrten und Künstler, und ebenso umfangreich ist der Beitrag der bescheidenen und eifrigen Aspiranten, deren Hingabe und Ausdauer ihr Bollwerk sind. Ohne Rücksicht auf Stellung oder Ausbildung ziehen beide aus drei grundlegenden Regeln oder Juwelen der Weisheit Inspiration und Stärke: aus rechtem Glauben, rechtem Wissen und rechter Lebensführung. Das ist leicht gesagt, aber in dem Ausmaße, wie das die Jainisten erwarten, nicht so leicht zu verwirklichen. Für sie sind, wie für die Râja-Yogis, diese drei Grundregeln untrennbar. Sie betrachten eine einseitige Entwicklung als Selbsttäuschung und gefährlich.

Wenn es auch erforderlich ist, den Tîrthankaras1 und ihren Lehren Vertrauen oder Achtung entgegenzubringen, so ist ein solcher Glaube doch wertlos, wenn er nicht auf Verständnis begründet ist. Und zwar auf einem dreifachen Verständnis: instinktiv, so daß man automatisch, ohne nachzudenken oder zu überlegen, reagiert; intellektuell, wobei der Verstand die schwierigen Punkte der Lehre klar erfaßt; und spirituell, wobei das Herz und das höhergeistige Bewußtsein ruhig und in Frieden ist. Aber auch eine solche Empfindung ist wertlos, wenn sie nicht in positivem und mitleidsvollem Handeln zum Ausdruck kommt, denn nur auf diese Weise beginnt man die Welt so zu erkennen, wie sie ist, und nur so wird man ein Vorbild und ein Lehrer. Nur in dieser Weise werden Aberglauben, blinder Glaube und Unwissenheit vernichtet. Die Jainisten finden es besonders störend, wenn jemand Verdienst sucht, indem er in einem "heiligen" Fluß badet, über glühende Kohlen schreitet, sich mit "heiligem" Wasser oder Weihrauch besprengt oder "von Menschen geschaffene Götter" sich geneigt machen möchte.

Diese drei Juwelen der Weisheit basieren auf dem Prinzip universaler Gleichheit - auf der gleichen und inneren Spiritualität von allem, was existiert. Bereits der junge Jainist "betrachtet kleine Wesen und große Wesen, die gesamte Welt als ihm gleichwertig; er erfaßt die unermeßliche Welt, und wenn er erwacht ist, dann zügelt er sich inmitten der Unbedachten."2 Er "verspricht" oder gelobt sich selbst drei Gelübde, die er sein ganzes Leben hindurch mit zunehmender Hingabe befolgen wird. Das erste Gelöbnis lautet, keinem lebenden Wesen ein Leid oder Gewalt anzutun; nicht zu töten oder zu veranlassen, daß getötet wird, oder damit einverstanden zu sein, wenn andere töten, sei es durch Taten, durch Worte oder in Gedanken; denn Gedanken des Tadels und der Zwietracht verursachen fast mehr Leid als Handlungen.

Vielleicht würden wir uns heute weniger fragwürdig verhalten, wenn wir dem Motiv mehr Wichtigkeit beimessen würden, wenn wir die gewaltigen Kräfte erkennen würden, die wir mit unserem Denken und Wünschen für das Gute und das Böse entwickeln. Die Jainisten verstehen das sehr gut und betrachten z. B. schon jenen als einen Mörder, der in Gedanken beschließt, jemanden zu töten, auch wenn er keine Gelegenheit findet, seinen Wunsch auszuführen. Für sie ist auch jeder einzelne für unbeabsichtigt begangene Vergehen verantwortlich, denn wenn man harmonisch lebt, wird man sich niemals irgendwo in Verhältnissen befinden, unter denen man, selbst unbewußt, etwas Lebendem ein Leid antun würde. So bemühen sie sich immer, zurückhaltend und beherrscht zu sein, keine schlechte Meinung zu haben und böse Gedanken zu vermeiden und mit Achtsamkeit, Weisheit und Güte zu leben.

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Bildtext: Jainistischer Tempel, Kalkutta.

Das zweite Gelübde bedeutet, keine Unwahrheit zu sagen; im Zorn, aus Habsucht oder aus Furcht keine Worte auszusprechen, die Schrecken verursachen könnten; die Wahrheit nicht durch langatmige Erklärungen zu verbergen oder zu verfälschen, indem man an seiner eigenen Meinung festhält oder wertlose Segenswünsche oder Zaubersprüche hersagt. Doch sollte man jederzeit eine gemäßigte und beherrschte Sprache sprechen, denn eine Wahrheit, die nicht freundlich und förderlich ist, ist für sie keine Wahrheit.

Wer zornig ist und alles bei seinem wahren Namen nennt, wer einen geschlichteten Streit von neuem entfacht, wird sich wie ein Blinder mit einem Stock seinen Weg entlangtasten, sich selbst Leid zufügen, denn er ist noch den Leidenschaften unterworfen und besitzt übles Karma.

- Sûtrakritânga, I, 13 (5)

Rishabhadeva hatte als letzte und geringste seiner Gaben die Kenntnis über Vorzeichen (Omen) gebracht, aber spätere Tîrthankaras verwarfen sie als "unwürdig" für Studium und Praxis, und zwar trotz der Tatsache, daß zu jener Zeit von "heiligen" Schamanen die mannigfachsten Zaubersprüche angewandt wurden, um wunderbare physische und psychologische Vorteile zu erwirken. Die jainistischen Ermahnungen sind klar: wer "magische Sprüche anwendet, um zu bewirken, daß jemand umfällt, aufsteht oder gähnt, daß er bewegungslos ist oder an irgend etwas festhaftet, um ihn krank oder gesund zu machen; wer veranlaßt, daß jemand vorwärts geht, verschwindet (oder kommt) ... diese unwürdigen, irrenden Menschen praktizieren eine falsche Wissenschaft."3

Das dritte Gelübde besagt, daß man nichts annehmen soll, das gegeben oder gefunden wurde, wenn es nicht das rechtmäßige Eigentum des Gebenden ist. Diese Gelübde, "die nach der Lehre des letzten Tîrthakara4, Mâhâvîra, verkündet wurden", die denen des ersten Tîrthakara entsprechen, gelten für den Laien. Zwei weitere Gelübde werden später abgelegt, wenn die Mitglieder Mönche werden.

Der jainistische Hausherr, der seine Gelübde erfüllt und seinen Pflichten der Familie und der Gesellschaft gegenüber nachkommt, ist sich bewußt, daß eine solche Schulung für diese Periode seines Lebens unbedingt notwendig ist. Man sagt ihm, daß diese kleinen Verpflichtungen und Dienstleistungen anderen gegenüber eine einmalige Gelegenheit darstellen, um die Selbstbeherrschung, die Verantwortung und das Mitleid zu entwickeln, die für den späteren Fortschritt notwendig sind. In der Tat, auch wenn jemand "noch im Hause lebt" und sich gewissenhaft seinem Glauben entsprechend verhält, wird er dadurch letztendlich auch von Unwissenheit, von den Strudeln des Geborenwerdens, befreit und "die Welt der Götter" erreichen.

Da er jedoch weiß, daß der lange Evolutionsprozeß beschleunigt werden kann, sieht er, ohne zu zweifeln, der Zeit entgegen, in der er seine spirituelle Laufbahn ohne Widerstände beginnen kann. Mittlerweile bezähmt er seine Ungeduld und bereitet sich durch regelmäßiges Fasten vor, er gibt Almosen, verzichtet innerlich auf weltliche Besitztümer und Bindungen und studiert in verstärktem Maße die metaphysischen Lehren. Wenn dann die Kinder das Haus verlassen und die Verpflichtungen den Hausherrn und seine Frau weniger beanspruchen, dann sind beide bereit. Natürlich und ohne Zögern folgen sie dem Drängen der Seele. Da sie nun nicht mehr durch die unmittelbaren Gegebenheiten der alltäglichen Angelegenheiten eingeschränkt sind, richten sie jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit und ihre Interessen auf das weite Gebiet des Studiums und der Schulung, die notwendig sind, um die Entwicklung jener höheren Fähigkeiten zu beschleunigen, die es ihnen ermöglichen, das "beständige, dauernde, ewige, wahre Gesetz" zu erkennen und dadurch fähig zu sein, allem, was lebt, zu helfen, es zu belehren und zu beschützen.

Die Unweisen schlafen, die Weisen sind immer wach ... Hitze und Kälte nicht beachtend, gleichmütig gegen Freude und Schmerz, fühlt der Nirgrantha [Jainist] die Härte des Leidens nicht. Wachsam und frei von Feindseligkeit, ein weiser Mensch, befreit er (sich selbst und andere) vom Leid.

- Âkârânga Sûtra, I, 3, I (1-2)

Traditionsgemäß erhält jeder Anhänger des Jainismus, der ein Mönch oder eine Nonne wird, als Zeichen dafür, daß diese Entscheidung von seiner Familie und von den Oberen ihrer Gemeinschaft anerkannt wird, die Erlaubnis dazu, seinen Besitz zu verteilen, sein Haupt kahl zu scheren und auf Schmuck und Kleidung zu verzichten - er tauscht das alles gegen die einfachen weißen Gewänder des Ordens aus, die er hinfort trägt. Die Digambara, die "himmlisch Gekleideten", geben diese totale Verzichtleistung theatralisch dadurch bekannt, daß sie gänzlich auf Kleidung verzichten. Sie befolgen den Vers buchstäblich: "Jene werden nackt genannt, die in dieser Welt ... meine Religion den Geboten entsprechend (befolgen)."5 Sie legen den Text genauso wortwörtlich aus wie jene Anhänger, die Gaze vor ihrem Mund befestigen, ihr Wasser durchseihen und ihren Weg kehren, damit sie nicht dem geringsten Geschöpf unabsichtlich Leid zufügen.

Dieser Auffassung liegt jedoch ein tieferer Sinn zugrunde, der weit philosophischer ist als die wohlwollende "Rücksicht auf das Leben." Er wurde durch Beispiele von Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi oder dem Hl. Franziskus erläutert. Die Lehren des Jainismus erklären ausführlich, daß die Natur in kosmischer Verwandtschaft vereint ist, in einer Bruderschaft, einer Einheit von Mensch und Sonne, von Insekt und knospendem Baum. Das Fegen des Weges, das Durchseihen des Wassers und das Verschleiern des Mundes sind nur äußere Anzeichen dieses intensiven inneren Bewußtseins und der Vergegenwärtigung, daß "die Seele, die für ihre Unachtsamkeit leidet, durch gutes und schlechtes Karma im Universum herumgewirbelt wird."6 Ihre Lehren über Karma sind kompliziert und schwer zu verstehen.

Nackt, "himmlisch gekleidet", deutet auf die Reinheit des alten Jainismus hin, als seine Anhänger Nirgranthas, "die Nichtgebundenen", genannt wurden - Nir-grantha bedeutet "kein Knoten", also jemand, der durch keine persönlichen Neigungen gebunden ist. Nacktheit deutet auch die von Mahâvîra wiederhergestellte Klarheit der jainistischen Überlieferungen an, als er "das Gesetz wie durch eine Lampe ins richtige Licht stellte"7; wobei er das, was den Lichtstrahl verdunkelt, den Aberglauben und das zeremonielle Ritual, entfernte. 'Himmlisch gekleidet' schließt auch das vierte und fünfte Gelübde ein, das der Nirgrantha ablegt. Keuschheit - das Aufgeben allen sinnlichen Vergnügens, physisch und mental: Verzicht auf Besitz und Genuß, die von den Sinnen abhängen.

So wie der Kranich aus einem Ei kommt und das Ei aus einem Kranich, so nennen sie den Wunsch den Ursprung der Täuschung, und die Täuschung den Ursprung des Wunsches ...

Das Elend hört auf, wenn keine Täuschung mehr vorhanden ist. Täuschung verschwindet, wenn kein Wunsch mehr da ist. Der Wunsch hört auf, wenn es keine Habgier mehr gibt, und die Habgier verschwindet, wenn kein Besitz mehr vorhanden ist.

- Uttarâdhyayana, XXX (6, 8)

Mehr technisch betrachtet bezieht sich dieses Ablegen der "Illusions-Gewänder" - unseres dieser Welt angehörenden Denkens und Fühlens - und das Anlegen des "Windes als Gürtel" - der ätherischen Gewänder des Geistes - auf die Zeit, in der das Selbst (Âtma)8 vorübergehend oder für immer die drei niederen Körper ablegt; und in den zwei höheren "subtileren", in seinem Bewußtsein zu entfernten Orten und zu der Welt der Götter wandert und "sich dort zu seinem natürlichen Wesen entwickelt; Vollkommenheit, Erleuchtung, Befreiung und schließlich Glückseligkeit erlangend."9 Diese durchscheinenden Gewänder können auch den drei "Hüllen" des Buddhismus entsprechen, jenen Bewußtseinsvehikeln, die von sehr weit fortgeschrittenen Menschen, von den Bodhisattvas, benützt werden, wenn sie in irgendeiner anderen Sphäre eine Erfahrung machen oder in den unsichtbaren Bereichen unserer Erde wirken möchten, um der Menschheit zu helfen.

In den Sûtras des Jainismus wird wiederholt davor gewarnt, das Selbst mit irgendeinem seiner Körper zu identifizieren, denn das wirkliche Selbst überragt die Begrenzungen des persönlichen falschen Selbst millionenfach.

Körper, Haus, Reichtum und Weib,

Söhne und Freunde und Feinde -

alle sind kein Teil der Seele,

nur der Tor betrachtet sie als zu ihm gehörig.

 

Der Tod berührt mich nicht. Warum sollte ich mich deshalb fürchten?

Krankheit berührt mich nicht. Weshalb sollte ich daher verzweifeln?

Ich bin kein Kind, kein Jüngling, noch bin ich ein alter Mann -

Alle diese Zustände betreffen nur meinen Körper.

 

Immer wieder habe ich mich in meiner Torheit an den verschiedenen Körpern erfreut und sie wieder abgelegt.

Jetzt bin ich weise!

Warum sollte ich nach Wertlosem verlangen?

 

Die Seele ist ein Ding, die Materie etwas anderes -

das ist die Quintessenz der Wahrheit.

Was sonst noch darüber gesagt werden mag ist nur gelehrte Diskussion.

- Ishtopadesa, 8, 29, 30, 50

In bezug auf die jainistischen Bettelmönche, die den heiligen Weg betreten haben und nun den Rest ihres Lebens entweder in einem Kloster oder als Wanderer in selbstloser Dienstleistung verbringen, wird gesagt, daß -

so wie das Wasser nicht an einem Kupferkessel hängen bleibt oder das Augenwasser an der Perlmutter (so finden auch die Sünden keinen Platz in ihnen); ihr Weg ist ohne Hindernisse, desgleichen ihr Leben; wie das Firmament brauchen sie keine Stütze; wie der Wind kennen sie keine Hindernisse; ihr Herz ist rein wie das Wasser (der Flüsse oder Zisternen) im Herbst; wie die Blätter eines Lotus können sie durch nichts beschmutzt werden.

- Sûtrakritânga, II, 2 (70)

Allwissend, heimatlos wandert der Mönch umher, den Strom (von Samsâra) überquerend, weise und mit unbegrenzter Wahrnehmung ohne seinesgleichen leuchtet er ... wie die Sonne, und er erleuchtet die Dunkelheit wie ein leuchtendes Feuer.

- Ebenda, I, 6 (6)

Wie anschaulich wird damit die von den Großen jeden Zeitalters erlebte "Vereinigung mit Gott" beschrieben. Andere - Dichter, Künstler und Philosophen wie William Blake, Fra Angelico, Plotin und Jakob Böhme - haben das, wenn auch in geringerem Grade, aber genauso erhaben, erfahren. Selbst die Geringsten können dieses Wunder erleben, können für einen Augenblick diese Vision der Wahrheit erfassen - und für sie, wie für die Jainisten wird dadurch das Leben in eine bestimmte Richtung gelenkt. Danach wird in jedem Augenblick jeder Gedanke, jede weltliche Handlung durch ihre Bedeutsamkeit geheiligt, denn jeder Gedanke, jede Handlung wird von nun an bewußt geleitet und beeinflußt verstärkt nicht nur ihr individuelles Schicksal, sondern auch alles Leben.

 

(Schluß folgt)

Fußnoten

1. Siehe "Die vierundzwanzig 'Buddhas' des Jainismus", Sunrise, deutsche Ausgabe Heft 2/1979. [back]

2. Sûtrakritânga, I, 12 (18). [back]

3. Ebenda, II, 2 (27). [back]

4. Die Rechtschreibung ist unterschiedlich. In wörtlichen Zitaten wird die orthographische Wiedergabe des Übersetzers gebraucht. Sonst wird die allgemein übliche Schreibweise benützt. [back]

5. Âkârânga Sûtra, 1, 6, 2 (3). [back]

6. Uttarâdhyayana, X (15). [back]

7. Sûtrakritânga, 1, 6 (4). [back]

8. Die fünf Vehikel des Selbst (Âtma), die der Jainismus aufzählt, sind: (1) der audârika oder physische Körper; (2) der kârmana oder der Träger von Karma, das Gesetz von Ursache und Wirkung, das die Verhältnisse und Erfahrungen bewirkt, durch die sich das reinkarnierende Ego von Leben zu Leben entwickelt; (3) der taijasa oder der aus feurigen Partikeln zusammengesetzte Körper, wo alles koordiniert wird, oder der in einem erweiterten Sinne der Körper des Denkens ist, zusammengesetzt aus dem glänzenden Licht der Intelligenz; (4) der âhârika oder der Träger für die Seele, wenn sie zu weit entfernten Orten reist; und (5) der vaikriya, "ein subtiler Körper der Seele, der vom Willen verändert werden kann." Literaturhinweis: Jaina Sutras, übersetzt von Hermann Jacobi, II, 406 n. [back]

9. Uttarâdhyayana, XXIX (73). [back]