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Über das Altern

Es wird Leute geben, die sagen, daß es in dieser Zeit des Wohlstandes gar kein Älterwerden gibt. Nicht selten trifft man Hundertjährige; und Menschen über achtzig sind rüstig und stehen noch fest im Leben. Dennoch kommt das Ende natürlich näher; wir empfinden es nur nicht unbedingt als das Ende, weil das Gefühl der Unsterblichkeit, bewußt oder unbewußt, immer in uns ist. Daher ist alles, was wir sehen, wenn wir in reifem Alter stehen, lediglich das Ende dieser einen Episode; wir erkennen, daß sie sich ihrem Abschluß nähert, aber es beunruhigt uns nicht. Im Gegenteil, eine neue durchdringende Klarheit scheint über uns zu kommen. Wir wenden unseren Blick zurück und sehen den Weg, den wir gingen. Wir sehen ihn jedoch in einem klareren Licht und wissen, daß diese Jahre nicht vergeblich, sondern Sprossen auf der Leiter der Erfahrung waren. Es war ein wechselvoller Pfad, dem wir gefolgt sind, es war ein ständiges Lernen, doch zum Schluß führte uns dieser Weg zu dem Punkt, an dem der Sinn des Ganzen klar zu werden beginnt.

Während wir uns in der Jugend und in den mittleren Lebensjahren Sorgen über die Zukunft machten und hofften, daß dieses oder jenes eintreffen und uns in unserem materiellen Kampf unterstützen würde, fühlen wir uns jetzt überraschend sorgenfrei, so als wäre eine Last von uns abgefallen, und die Zukunft birgt nur die Erhabenheit, die Gewißheit von Freiheit und Erfüllung. Auch die kleinen Unannehmlichkeiten, die im Alltag vorkommen, beunruhigen uns nicht mehr in dem Maße, wie sie es einst taten oder getan hätten, weil wir sie nun in einem größeren Zusammenhang sehen, der uns in unserem Bewußtsein klarer wird.

Als kleines Mädchen war ich schwächlich und konnte deshalb oft nicht mit den anderen Kindern spielen. Deshalb verbrachte ich viel Zeit in der Gesellschaft Älterer. Während sie mir das Nähen beibrachten, wobei Teile einer Flickendecke zusammengesetzt wurden, sprachen wir über alle möglichen Dinge, die mit dem Leben und seinen Erfahrungen zusammenhängen. Diese lieben und würdevollen Damen antworteten auf meine Fragen und übermittelten mir viele weise Beobachtungen über das Leben im Allgemeinen. Daraus gewann ich eine Ahnung, auf was für ein großes umfassendes Ziel die Menschheit zugeht und daß von Anbeginn unseres Lebens ein wirkliches Selbst da ist, das den Sinn aller Erfahrung versteht, und daß es die Seele gibt, die das lernende Kind dieses Selbstes ist. Sie sagten mir auch, daß es keine Rolle spiele, ob ich als Junge oder als Mädchen geboren sei, weil der Mensch in den verschiedenen Leben beide Erfahrungen machen müsse, damit die Eigenschaften zum Ausdruck kommen können, die bereits ein Teil seiner inneren Natur sind.

Kinder und alte Leute scheinen von Natur aus eine Vorliebe für die Idee zu haben, daß wir zurückkehren und wiedergeboren werden, so oft wir es nötig haben. Sie wissen es, genauso wie sie wissen, daß, wenn wir abends schlafen gehen, wir morgens wieder aufwachen. Genauso wurden wir viele Male alt; das ist eine vertraute und glückliche Erfahrung - eine "zweite Kindheit" -, denn wir kommen der Wirklichkeit, die uns in unseren jungen Jahren so nahe war, wieder näher.

Das Nahen des Alters ist als ein allmähliches Loslösen von den Interessen des weltlichen Lebens beschrieben worden. Und ganz bestimmt findet tatsächlich ein Übergang statt, so wie der Wechsel der Tonart in einer Symphonie von Beethoven: die Klangfarben vermischen und ändern sich wie in einem Schmelztiegel des Lichts, und erneut wird Schönheit geboren, wenn die Harmonien sich auflösen und uns in einen anderen Raum des Bewußtseins führen. Wir alle kennen diese Erfahrung, wenn wir Musik hören; aber jetzt geschieht es wirklich in uns selbst. Die feinen Fähigkeiten werden in uns entfacht, um uns auf jenen Augenblick der erweiterten Wahrnehmung vorzubereiten, die ein Leben krönt, wenn wir seine volle Bedeutung ganz verstehen.

Den östlichen Lehren entnehmen wir, daß, wenn die Seele hinweggeht, das ganze Panorama der zu Ende gegangenen Episode rückschauend überblickend vor dem inneren Auge vorüberzieht und in seiner gesamten wesentlichen Bedeutung gesehen wird. Dieser Einblick in die Wahrheit beginnt wahrscheinlich schon lange vor dem Moment des Abschieds. Es ist, als ob das Licht des sich öffnenden Tores das immer noch erdgebundene Bewußtsein erreicht und in einer neuen Klarheit und Weisheit zum Ausdruck kommt.

Große Geister haben sich stets mit dem Alter befaßt - nicht im Sinne von Shakespeares "gebeugtem und pantoffeltragenden Alten", sondern so, wie es in seinem herrlichen Sonett 73 zum Ausdruck kommt:

In mir siehst Dämmrung du von bleichen Tagen,

da trüb im West verschimmert letztes Rot,

von schwarzer Nacht allmählich weggetragen,

die alles fest umschließt, ein anderer Tod.

 

In mir siehst du des Feuers letztes Sprühen,

das, wie auf kalter Totenbahr,

auf seiner Jugend Asche muß verglühen,

verzehrt durch das, was seine Nahrung war.

(Übersetzung: Therese Robinson)

Cicero nennt in seinem würdigenden Essay über das Alter eine Anzahl berühmter Männer aus seiner eigenen Zeit und aus früheren Tagen; Römer, Griechen und Perser, die die Schärfe ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten bis ins höchste Alter bewahrten und durch die Reife ihrer Erfahrung imstande waren, ihr spirituelles Gut an die jüngere Generation weiterzugeben. Und Marcus Cato, der selbst ein ehrwürdiges Alter erreichte, soll gesagt haben: "Die besten Waffen des Alters ... sind die Aneignung und Ausübung der Tugenden, die, wenn sie in jeder Periode des Lebens kultiviert wurden, wunderbare Früchte tragen, wenn man ein hohes Alter erreicht hat." Eine umfassende Selbsterziehung auszuüben wird überall als die Grundlage eines qualifizierten und würdigen Alters zitiert. Daher kann Rabbi ben Ezra sagen, "das Ende des Lebens, für das der Anfang geschaffen wurde", und kann uns versprechen, "das Beste ist, noch da zu sein", in den sogenannten absteigenden Jahren.

Es wird allgemein angenommen, Ermüdung oder Tod komme dadurch, daß die Vitalität im körperlichen Organismus abnimmt. In Wirklichkeit ist es jedoch so, daß die Wogen der Lebenskraft, die unseren Körper erhalten, in ihrer Intensität während der Stunden des Tages oder in den Jahren unseres Lebens anwachsen, bis der Körper ihre Kraft nicht mehr länger ertragen oder aufnehmen kann, so daß der Schlaf oder der Tod eintritt. Daher könnte man sagen, daß unser Körper tatsächlich "durch das zerstört wurde, was seine Nahrung war." Und Schlaf oder der vollkommene Schlaf des Todes ist die Durchgangsstation, die die Gelegenheit zur Assimilation und Anpassung bietet, um für den neuen Tag oder die neue Lebenszeit bereit zu sein.

Der Vogel der Unsterblichkeit nistet in uns, erkannt oder unerkannt, bereit, seine (unsere) Schwingen auszubreiten, wenn das Signal zum Aufbruch ertönt, und er folgt "den Gezeiten eines Stroms, der immer und ewig fließt." Walt Whitman spricht für die gesamte Menschheit, wenn er bekennt:

Ich weiß, ich bin todlos.

 

Und ob ich zum meinigen heute gelange oder in zehntausend oder in zehn Millionen Jahren,

Ich kann es fröhlich heute nehmen oder ebenso fröhlich warten.

(Grashalme, Übersetzung Hans Reisiger, Rowohlt Verlag)

Die Zukunft ist in der Tat voller Verheißung, und es ist ein unschätzbares Glück, alt zu werden.