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Stirb und werde

Nimmer vergeht die Seele,

Vielmehr die frühere Wohnung

Tauscht sie mit neuem Sitz

Und lebt und wirkt in diesem.

Alles wechselt, doch nichts geht unter.

- Giordano Bruno

 

 

 

Die großen Ereignisse in unserem Leben sind immer diejenigen, die dazu angetan sind, still zu stehen und - wenn auch nur für einen kurzen, schöpferischen Augenblick - über das Leben und unsere eigene Beziehung zu ihm nachzudenken: Was für einen Sinn hat unser Schicksal, und wo ist unser Standort im Weltall? Dadurch haben wir eine Gelegenheit, aufrecht mit uns und unserem Wollen Bilanz zu ziehen; sind es doch gerade die nachdenklichen Momente, die aus der Tiefe heraus eine gültige Antwort finden lassen.

Der Tod oder das, was wir Tod nennen - das letzte Ereignis unseres Aufenthaltes hier auf Erden -, stand zu allen Zeiten im Mittelpunkt grundlegender Betrachtungen über den Zweck des menschlichen Daseins. Philosophen, Männer der Wissenschaft und der Religion widmeten ihr Denken diesem Phänomen.

Die Naturwissenschaft hat nach gründlicher und methodischer Forschung mit Hilfe von Radar, Elektronenmikroskopie usw. die grobstoffliche Materie als Feld ihrer Untersuchungen verlassen und hat sich den Grenzgebieten zugewandt. Sie wird eines Tages die geistig-göttliche Herkunft des Menschen und mit ihm aller Kreatur anerkennen und bestätigen. Bei dem Versuch, ein besseres Verständnis für die biologischen Ursachen des Alterns zu gewinnen, steht z. B. augenblicklich die Theorie an erster Stelle, daß das Altern und damit folgerichtig auch der Tod Bestandteile des Lebens sind. Die Molekularbiologie hat experimentell festgestellt, zu wieviel Teilungen eine Zelle imstande ist und wann ihr Stoffwechsel aufhört. Das bedeutet, es kann mit großer Genauigkeit nachgewiesen werden, wann der Alterungsprozeß einsetzt. Doch damit ist die Frage 'Warum?" noch nicht gelöst.

Im Augenblick stehen zwei Theorien zur Erörterung:

1) die Mutationstheorie, die besagt, daß Zellen sterben, weil durch Veränderung im Erbgefüge entstehende Fehler nicht mehr korrigiert werden können; und

2) die Programmtheorie, die davon ausgeht, daß es in den Organismen ein angeborenes Lebensprogramm gibt - verankert in den Genen - und daß es gewissermaßen automatisch abläuft bis zum genetisch geplanten Tod.

Von besonderem Interesse ist für unsere Betrachtung die Programmtheorie, weil sie, sobald sie vertieft und vergeistigt wird, das esoterische Wissen vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus untermauert und bestätigt. Viele Steine fehlen noch in dem Mosaik, aber ein genaueres Bild wird nicht eher zustande kommen, bis ernsthafte Forscher und Wahrheitssucher anerkennen, daß wir das Licht des Wissens in der letzten Potenz niemals auf unsere Ebene herabziehen können, sondern daß wir uns zu ihm erheben müssen. Wenn wir mehr wollen als eine Sammlung einzelner Fakten, dann müssen wir alle Dinge von einem erweiterten Blickfeld aus betrachten. Nur Gleiches kann Gleiches erkennen: Nicht dem irrenden Verstand, sondern allein dem schauenden Geist offenbart sich das Wesen eines Atoms, des Menschen, der Welt. Die stoffliche Seite der Natur ist einigermaßen vorhersagbar, sie kann klassifiziert und intellektuell ergründet werden; dem spirituellen Teil müssen wir uns durch eine zunehmende intuitive Erkenntnis nähern.

Die Weisen aller Zeiten haben durch ihre intuitive Einsicht - nicht durch intellektuelle Spekulation, weil es keinen Lehrstuhl für Weisheit gibt - die universale Einheit alles Lebendigen erkannt. Sie lehnten es ab, reine Spekulationen anzunehmen, die zur Voraussetzung haben, daß "Nichts" der Anfang und das Ende allen Seins ist. Wenn dem so wäre, alle unsere Mühe, alle Pflichterfüllung, alles Streben nach Edlem und Gutem, nach Erkenntnis, ja, der gesamte Kosmos würde seinen Sinn und seine Aufgabe verlieren. Es war für sie unleugbar, daß die Essenz aller lebenden Wesen, die Wurzelnatur einer jeden Wesenheit, todlos ist, unsterblich, und daß im Sinn des Lebens der Schlüssel zum Mysterium des Todes liegt. Alles, was geschieht, so sahen sie es, wird von kosmischen Intelligenzen und einem allumfassenden Bewußtsein geleitet - nicht durch einen der Materie verhafteten Mechanismus. Das Universum in seinem ununterbrochenen Wandel ist die Schule des Lebens, durch die alle gehen müssen. Der Mensch ist, so gesehen, statt einer "Eintagsfliege" ein ewiger Pilgrim, eins mit dem universalen Sein und ewig wie das Weltall selbst.

Und das Mysterium Tod, dem die gesamte Natur unterworfen ist und das der Menschheit so tiefe Trauer und Angst einflößt? Das Aufhören der Tätigkeit des pulsierenden Herzens, was für uns das Ende des Lebens bedeutet, ist mit dem Ablegen eines unbrauchbar gewordenen Kleides gleichzusetzen. Es betrifft nur den Körper und die anderen kurzlebigen Hüllen des Geistes. "Was sind wir schon, wir Flüchtigen?" fragt Pindar, der große griechische Lyriker um 500 v. Chr., und er gibt die Antwort: "Ein Traum eines Schattens, das ist der leibliche Mensch. Wir sind ja nicht die Welt an sich, sondern nur der Ausdruck des einen Augenblicks, hinter dem das Wahre lebt und webt."

Der Tod hat nur Macht über die Welt der Formen, über eine objektive und vergängliche Welt, nicht aber über das wahre, unvergängliche Sein, dem Urquell des geistig-göttlichen Menschen und aller Wesenheiten. Im Hinblick auf das Endziel - die Vollkommenheit - ist der Tod eine Notwendigkeit und lediglich eine Episode auf der zeitalterlangen Pilgerschaft der Seele. Es ist ein Abschiednehmen - auf Zeit -, nicht mehr. Der Tod, dieser ernstere Bruder des Schlafes, ist Finale und Ouvertüre zugleich. Plotin (205?-270 n. Chr.), der Hauptverfechter des Neuplatonismus, drückt es in folgendem Gedanken aus: "Es ist schwer zu sagen, welches der Geburtstag ist, denn der Tag der Geburt in dieser Welt ist der Tag des Todes in einer anderen Welt; und der Geburtstag in der anderen Welt ist der Todestag in dieser." Und in jedem Naturreich, auf allen Daseinsebenen, ob Mikroorganismus oder Milchstraßensystem, gibt es kein Atompartikelchen, das nicht diesem Gesetz - Stirb und Werde - unterworfen ist.

Vom Standpunkt der Persönlichkeit aus betrachtet, bleibt das Phänomen "Tod" ein leidvolles Ereignis, raubt es uns doch den Weggenossen, den Gefährten und Freund. Tiefer beleuchtet aber ist es, wie wir sehen, ein ewig sich wiederholendes Opfer für das Höhere. Kein Samenkorn kann zur Pflanze werden und Blüten und Früchte tragen, ohne die Samenhülse zu sprengen. Kein Schmetterling kann in die Lüfte steigen ohne das vorausgegangene Opfer von Ei, Raupe und Puppe. Kein Mensch kann sich zu dem entfalten, was er seinem Wesen nach ist: zu einem reinen Gefäß göttlichen Bewußtseins, ohne die Pforten des "Todes" viele Male durchschritten zu haben. Friedrich Nietzsche schreibt in Ewige Wiederkehr:

Lebe so, daß du von neuem leben möchtest - das ist deine Pflicht, denn du wirst auf jeden Fall wieder leben! Und in jedem einzelnen dieser Kreisläufe menschlichen Lebens wird es eine Stunde geben, wo zum ersten Male ein Mensch und dann viele den Gedanken der ewigen Wiederkehr aller Dinge fassen werden - und das wird dann für die Menschheit die Stunde des Mittags sein.

Der Gedanke an eine zyklische Wiederkehr gibt dem Leben und dem Sterben neue Perspektiven, Äonen der Entwicklung liegen vor uns. Lebensangst und Todesfurcht schwinden. Jede Stunde bringt eine Gelegenheit zu säen und zu ernten: neue Saaten für die Zukunft, Ertrag aus vergangenen Zeiten. Auf diese Weise sind wir die Gestalter unserer zukünftigen Leben, und auf diese Weise haben wir uns den Platz gewählt und ausgebaut, auf dem wir jetzt stehen. Das Bewußtsein, diesem ewigen Kreislauf anzugehören, schenkt uns unendliche Hoffnung und den unzerstörbaren Glauben an den endlichen Sieg des Guten.

Wir sind erfüllt von Ehrfurcht vor dem waltenden Geschick, und Schmerz hinterläßt niemals einen bleibenden Eindruck. Wahrlich, der Tod mit seinen Mysterien ist ein Meisterwerk des Lebens, ein Ausdruck einer höchst aktiven Schöpferkraft.