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Das undefinierbare Element

Seit die Ausbreitung des Darwinismus die alte religiöse Ansicht in Frage gestellt hatte, daß die Arten durch göttliche Verfügung entstanden seien, wurde viel über das Geheimnis der Entstehung des Lebens auf der Erde nachgedacht. Viele Theorien wurden aufgestellt, von der längst aufgegebenen Idee der Urzeugung oder Abiogenese (Entstehung aus Unbelebtem) bis zu der Theorie, die der schwedische Wissenschaftler Svante Arrhenius 1908 in seinem Buch Worlds in the Making (Welten im Werden) dargestellt hat, daß die ewig existierenden Lebenskeime durch die Antriebskraft des Lichts von Planet zu Planet und von Sonnensystem zu Sonnensystem getrieben würden. Noch jünger ist die Vorstellung, daß das Leben durch chemische Prozesse entstehe, sobald entsprechende Bedingungen vorherrschen. Aufgrund von Labortests wurden Theorien entwickelt, die davon ausgehen, daß im Frühstadium der Erde solche Bedingungen gegeben gewesen seien, als die Atmosphäre einen "Nährbrei" aus Ammoniak, Methan und Wasser hervorbrachte, in dem Sonnenbestrahlung oder elektrische Ladungen Leben entstehen ließen. Außerdem hat die Entdeckung von Formaldehyd und anderen Begleiterscheinungen organischen Lebens im fernen Weltraum den Gedanken bestärkt, daß die Bausteine des Lebens im ganzen Universum vorkommen.

Alle, die die verschiedenen Feststellungen, Experimente und Theorien unvoreingenommen betrachten, können nicht ausschließen, daß die Forscher möglicherweise vor kaum weniger weitreichenden Schlußfolgerungen stehen, wie es die von Darwin waren. Obwohl ich beeindruckt und interessiert bin, habe ich dennoch das Gefühl, daß in den gegenwärtigen Vorstellungen etwas fehlt. So wie ich es sehe, ergibt sich dieser Mangel aus der Tatsache, daß die Theoretiker und Experimentatoren die offenkundige Dualität allen Lebens außer acht lassen; sie betrachten das Leben ausschließlich vom physischen Aspekt aus, als nur von äußeren Prozessen und chemischen und elektrischen Reaktionen abhängig, ganz in der Art, wie sie in einer Glühbirne vor sich gehen oder wenn ein Metall mit einer Säure in Berührung kommt. Wie jeder bei der Prüfung seines eigenen Bewußtseins feststellen muß, ist das Leben jedoch nicht ausschließlich physikalischen, chemischen und elektrischen Vorgängen unterworfen, sondern es trägt in sich ein undefinierbares Element, das nicht gewogen, gemessen, berührt, gesehen oder gehört werden kann, ohne das jedoch nur unbelebte Materie vorhanden wäre - ein Element, das unterschiedlich bekannt ist als Seele, Geist und persönliches Bewußtsein.

In einfachen Organismen mögen diese nur in rudimentärer Form existieren; in einigen Fällen mag es sich um eine Art "Gruppenseele" handeln, wenn sich zum Beispiel einfache Zellen zu einem vielzelligen Organismus zusammenschließen. Anhaltspunkte für diesen immateriellen Bestandteil, den wir mangels besserer Bezeichnung psychisch oder psychologisch nennen können, wurden bereits in so niederen Lebensformen wie die Amöbe gefunden; er kann sich in Phänomenen wie Hunger, Angst, Abneigung und Zuneigung äußern und ist scheinbar ein Merkmal allen tierischen Lebens und vermutlich auch (wie viele Anzeichen erkennen lassen) des Lebens vieler Pflanzen.

Genau an dieser Stelle übersehen diejenigen, die nach dem Ursprung des Lebens suchen, etwas, das zwar die derzeitigen Forschungsergebnisse nicht ungültig macht, aber ihre Bedeutung weit überbewertet. Ich will damit nicht sagen, daß die Forscher in ihren Schlußfolgerungen, wie das Leben als eine körperliche Wesenheit entstand und sich entwickelte, unrecht haben; auch habe ich keinen Grund zu bezweifeln, daß sie mit ihren Grundlehren recht haben, wie zum Beispiel mit der DNS, dem "genetischen Code", von dem man annimmt, daß er der Mechanismus zur Übertragung von Eigenschaften von Eltern auf Nachkommen ist. Ich meine jedoch, daß die Wissenschaftler in derartigen Dingen merkwürdig einseitig sind, indem sie ganz unkritisch die mechanistische Auffassung akzeptieren, die in der westlichen Welt seit Descartes vorherrscht, obgleich sie in diesem Jahrhundert durch die Kernforschung ernstlich ins Wanken gebracht wurde.

Diese Anschauung ordnet das Geistige der Materie unter. Die Wissenschaftler, die die Entstehung des Lebens erforschen, verfolgen hauptsächlich die rein physische Entwicklung; sie zeigen nur den Mechanismus und nicht das Agens, die mächtige Kraft, die dahinter steht. Sie befassen sich nie mit der überaus wichtigen Frage: Wieso entstand aus Urgestein und Schlamm und Feuchtigkeit und siedenden atmosphärischen Gasen Gefühl und Bewußtsein? Woher kamen individuelle Wesen? Woraus entstand diese Lebenskraft, die uns schließlich nach hundert Millionen oder vielleicht Milliarden Jahren Plato und Aristoteles, Phidias und Praxiteles, Homer, Milton und Shakespeare, Bach und Mozart und Beethoven, Gautama und Jesaia und Christus und die gesamte kleinere Schar schenkte, die einen hellen Schein über unsere kämpfende Menschheit warfen? Was sagt uns die Theorie vom Ursprung des Lebens aus einem chemischen Gebräu über die Entstehung dieser großartigen Menschen? Was war es, was in der Luft und dem Meer der Frühzeit die Elemente dafür lieferte, die den Menschen mit dem Denken und seinen Fähigkeiten begabten? War da nicht in der Tat eine unbekannte Kraft, ein unbekannter Wille und Zweck vorhanden, die den Weg zum Philosophen, zum Dichter und zum Seher bahnten? Und nicht nur für diese und die große Masse der Menschheit, sondern auch für das einfache Bewußtsein der Eidechse oder des Frosches, des Käfers oder der Eintagsfliege - war da nicht etwas vorhanden, das über das Physische hinausging und schon unentbehrlich war, ehe Leben entstehen und sich entwickeln konnte?

Vielleicht ist eine Beantwortung dieser Fragen beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse nicht möglich. Aber es wäre für die Wissenschaft möglich, zu erkennen, daß dieses Problem existiert. Wenn wir den Menschen nicht entstellt sehen wollen, wenn wir ihm einen Sinn und eine Würde zuerkennen wollen, die mit materiellen Begriffen nicht gänzlich beschrieben werden können, und wenn wir infolgedessen eine Welt aufbauen wollen, in der materielle Besitztümer und Ziele nicht an erster Stelle stehen, dann müssen wir anerkennen, daß das Leben auch an seinem Anfang auf physikalischem Wege nicht vollständig erklärt werden kann. Wir müssen nicht nur unsere physischen Ursprünge erforschen, sondern auch die Antezedenzien, die Ursachen des Geistes. Und wenn wir uns dieser Mühe unterziehen und weit und tief genug forschen, werden wir sicher Beweise dafür finden, daß das Leben selbst, wie die Sporen, die Arrhenius von Welt zu Welt wandern sah, älter ist als das Sonnensystem, älter als alle Sonnensysteme und daß es die Bereiche zwischen den Milchstraßen seit endlosen Zeitaltern durchwandert hat.