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Die grosse Notwendigkeit

Der Kurzbesuch eines Freundes aus den USA in unserer Stadt war der Anlaß, daß eine kleine Gruppe von uns zu einem Gedankenaustausch zusammenkam. Das ist nun schon über zwei Jahre her, und doch ist mir unsere Unterhaltung noch so lebendig und bedeutsam, als wäre es erst gestern gewesen. An diesem Tage schien es, als würde die Sonne heller scheinen als sonst. Sie wärmte und öffnete unsere Herzen und rief in unserem Gemüt und in unserer Seele eine solche Harmonie hervor, daß man versucht war, unsere Unterhaltung als eine Zwischensprache der Seelen zu bezeichnen.

Das Gespräch drehte sich um unsere individuelle Weltanschauung und ihre praktische Anwendung im Alltag. Damit waren naturgemäß auch die weltweiten Probleme angesprochen und die vielen Versuche, sie zu entwirren und zu lösen. Wie sich in der Praxis aber immer wieder von neuem zeigt, sind die Resultate - ungeachtet aller ernsthaften Anstrengungen um sozialen Fortschritt und trotz aller menschenfreundlichen, in der besten Absicht gestalteten Bemühungen - selten dauerhaft und lebensfähig. Und warum? Sie sind echte Kinder unserer Zeit, meistens auf Kompromissen aufgebaut, auf Konzessionen, auf Ausgleich der Interessen. Nur in den wenigsten Fällen sind die tatsächlichen Bedürfnisse der einzige entscheidende Faktor. Da die Probleme selbst ihre Priorität verlieren, leiden die Lösungen an Atemnot, - die spirituelle Luft fehlt - sie sind asthmatisch, leistungsschwach und unzulänglich.

Die Probleme von heute sind im Grunde nicht neu, sie präsentieren sich nur anders. Sie beschäftigten Generationen vor uns, und werden noch viele Geschlechter nach uns in Not und Bedrängnis bringen. Das wird sich so lange fortsetzen, bis wir gelernt haben, den Universalschlüssel anzuwenden: "Ihr seid Götter, lebt danach." Was deshalb wirklich not tut, ist - neben der Einsicht, daß Abhilfe geschaffen werden muß - eine Grundhaltung der Nächstenliebe, die sich mit der Bergpredigt deckt, die echte Bruderschaft und wahre Spiritualität atmet. Nur die Reform aller Reformen, die Reform der Gesinnung, verändert grundlegend den Alltag.

Tagesereignisse, die heute Schlagzeilen machen, morgen aber schon überholt und wesenlos geworden sind, waren Anlaß für uns, die Frage zu stellen: "Was ist eigentlich in diesem hektischen, sich überstürzenden Ablauf für den einzelnen wichtig?" Und die übereinstimmende Meinung war: "Zu lernen." Einfacher konnte es nicht ausgedrückt werden, aber auch nicht treffender. Hier war kein Hinweis auf Gebote und Verbote, auf Verhaltensweisen oder auf Lehrmeinungen, sondern auf ein innerliches Verarbeiten der Erlebnisse. Die Höhere Natur des Menschen wurde angesprochen, seine Unterscheidungskraft, sein Urteilsvermögen; Kräfte also, die zu ihrer Entfaltung eine Verinnerlichung voraussetzen. Es sind jene Kräfte, die uns die Dinge so erkennen lassen, wie sie in Wirklichkeit sind, und die uns außerdem befähigen, die im Alltag und in den Lebensformen wirksamen Grundkräfte richtig einzuordnen. Dadurch besitzen wir die Fähigkeit, das Vergängliche vom Immerwährenden, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Wie wohltuend unterscheidet sich der Geist dieser Grundhaltung, der auf die eigenen inneren Fähigkeiten des einzelnen aufmerksam macht, von manchen anderen Bestrebungen und Tendenzen, die dem Suchenden den Schnuller der Unselbständigkeit hinhalten, um ihn süß einzulullen.

Dieser Standpunkt war die Ausgangsbasis des in den Raum gestellten "Zu lernen." Es ist nicht die Art und Weise, durch die uns einfach etwas eingepaukt wird, ein einfaches Übernehmen eines von anderen vorgedachten Wissens, sie appelliert vielmehr an die noch latenten Möglichkeiten der Selbsterkenntnis in uns. Diese Zeitalter hindurch erprobte Methode lehrt uns, den Ariadnefaden zu suchen und zu finden. Sie führt uns unmittelbar auf naturgemäße Weise aus dem Labyrinth der Theorien heraus und auf stillem Pfad zu den Quellkräften unserer eigenen Natur.

Das Ringen um Klarheit ist ein äonenlanger Prozeß des Lernens und Entfaltens, ein Aufnehmen und Abstreifen. Es schließt ein vielgestaltiges In-die-Irre-Gehen ein, aber auch ein freudiges Entdecken und Wiederentdecken. Sie alle, Erfolge und Niederlagen, sind beredte Zeugen stiller Schlachten. Von höchster Warte aus betrachtet ist es eine Pilgerschaft aus uns selbst zu uns selbst zurück, um das, was seit Anbeginn der Zeit als Anlage in uns vorhanden ist, zur Tätigkeit, zur Reife, zur Vollkommenheit zu bringen.

Hier ist kein Kompromiß möglich; die erste Forderung aller Anstrengungen ist, ein vollkommeneres menschliches Wesen zu werden. Hier liegt unsere gottgewollte, spezifisch menschliche Aufgabe - die Arbeit an uns selbst. Und hier zeigt sich auch, daß dem Leben in unserem Alltag und dem innerlichen, dem geistigen Leben eines gemeinsam ist: Bei beiden ist es wesentlich, daß wir unser "Ich" vergessen, daß wir mit offenen und reinen Herzen die Forderungen des Tages erfüllen. Wir erkennen alles besser, was um uns her ist, wenn wir nicht bei jedem Schritt an das Ich zu denken brauchen, an das einschränkende, begrenzende und vergängliche "Ich."

Durch jede Lebenslage und bei jeder Entscheidung sind wir aufgerufen, spirituelle Kräfte zu entfalten und zu aktivieren. Dadurch entziehen wir Schritt für Schritt den in uns wurzelnden Begierden und Leidenschaften die Lebensbasis. Nur durch selbstlosen Einsatz werden wir unser wahres Selbst finden, unsere göttliche Quelle, und auf diese Weise unseren Bruder erkennen. Denn dem erleuchteten Gemüt offenbart sich kein Geschöpf, kein Grashalm, keine Blume, kein Schmetterling anonym. Es erkennt die innere Einheit aller Kreatur, die Bruderschaft aller Wesen, mag sie sich in der Unermeßlichkeit der Sternenwelten zeigen, in den ewigen, unveränderlichen Gesetzen der Natur oder in dem leuchtenden Auge eines jauchzenden Kindes. Alles Geoffenbarte trägt das Signum der Gottheit, ihre Größe, ihre Schöpferkraft, ihr Leben. Alles leitet sich aus dem Einen ab, und da diese Einheit unteilbar ist, so ist in jeder ihrer Offenbarungsformen alles enthalten.

Wieviel wird heute von Freiheit gesprochen, von Menschenrechten, von Menschenwürde! Doch, was ist Freiheit? Erschöpft sie sich in einem äußeren Freisein, in der Möglichkeit, das tun zu können, was man will? Wer kann von sich sagen: "Ich bin frei", wenn er auf seinem Wege durch Begierden und Leidenschaften geschüttelt wird; wenn ihn Süchte, Neigungen und Abneigungen in Fesseln schlagen; wenn er nicht Herr seiner Entscheidungen ist? Zügellosigkeit, die heute so gerne mit Freiheit gleichgestellt wird, führt niemals zu Selbstvertrauen und zur Bemeisterung des Lebens. Sie ist eine Verfallserscheinung.

Wer seine Wünsche geläutert hat, ist Herr über seine eigene Persönlichkeit, die sonst hin- und hergerissen wird. Wenn wir nicht länger dem Begehren unseres kleineren Selbstes untertan sind, befinden wir uns im Einklang mit dem höchsten herrschenden Gesetz, d. h. unser Wille befindet sich dann in Harmonie mit dem kosmischen Willen. Hier liegt die wahre Freiheit, die uns nicht nur glücklich macht, sondern die auch proportional mit dem Verständnis der ewigen Wahrheit zunimmt.

Wie schon das alte Bibelwort sagt, scheint das Licht der Wahrheit in die Finsternis, und die Finsternis begreift es nicht. Der erkenntnislose Mensch ruht, wenn ich ein Gleichnis gebrauchen darf, in einer Schale. Er findet in ihr seine Bequemlichkeit und seine Befriedigung. Doch der zum inneren Leben erwachte Mensch ist stark in sich selbst, er erkennt die Schale als das, was sie ist, und findet Frieden. Deshalb lehrten die Großen zu allen Zeiten: "Wenn Ihr die Weisheit wählt, wird Euch alles andere zur rechten Zeit zufallen." Doch - ein oberflächliches Verstehen genügt nicht, um ihre Universalität, ihre Höhe und Tiefe zu erkennen. Kein Samenkorn kann in einem luftleeren Raum gedeihen, auch nicht das der Weisheit. Es benötigt als geeigneten Mutterboden ein reines, hingebendes Menschenherz. Die Erkenntnis der Wahrheit ist weder ein Geschenk noch eine Erbschaft. Sie ist eine Offenbarung, wenn wir, wir selbst, die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Das bedeutet: Selbstvergessenheit, Suchen der Wahrheit um der Wahrheit willen, Dienst am Nächsten.

Es ist ein Naturgesetz, daß der menschliche Geist das Erhabene nur dann erfassen kann, wenn er sich zu ihm erhebt. Niemals kann es ein höhergeistiges Bewußtsein geben ohne ein innerliches Erwachen, kein Erwachen ohne Leben, kein innerliches Leben ohne eine innerliche Erhebung. Jeder von uns hat die ihm individuell auf den Leib geschnittene Aufgabe auf seine Weise zu lösen. Goethe drückt es mit den Worten aus:

Keiner gleiche dem andern,

doch jeder gleiche dem Höchsten.

Wie das zu machen?

Ein jeder sei vollendet in sich.

Mag auch das letzte Ziel - die Vollkommenheit - noch so sehr in der Ferne liegen, der nächste Schritt zu ihm liegt in diesem Augenblick, in der nächsten Entscheidung. Das Ziel kann von jedem von uns erreicht werden; wäre dem nicht so, keiner der Großen hätte den Weg jemals vor uns gehen können. Mit den Augen des Geistes gesehen ist alle Hektik, alles Brodeln, aller Widerstreit, alle Mühen, aller Kampf nichts als ununterbrochenes Werden, nichts als evolutionärer Wandel. Es ist eine Entfaltung geistiger Kräfte, eine Erweiterung des Bewußtseins und parallel dazu eine Verfeinerung des Stofflichen.

Auf allen Gedankengebieten vollzieht sich ein ununterbrochener Wandel, und immer neue Ansätze sind festzustellen, die uns zwingen, aufzuhorchen und nachzudenken. Theorien kommen und gehen, die Weisheit ist ewig. Da es nur eine Wahrheit gibt, kann es auch nur eine Weisheit geben, obwohl sie sich selbstverständlich auf die verschiedenste Weise zum Ausdruck bringen kann, etwa wie das Sonnenlicht, das unter verschiedenen Umständen in verschiedener Intensität scheint.

Und wenn wir den Menschen als den Hauptakteur in dem Lebensdrama beleuchten: Ein unsagbares Sehnen nach mehr Menschlichkeit, nach innerem Frieden, nach der wahren Heimat, die uns so fremd geworden ist, zieht durch seine Brust. Sind das keine hoffnungsvollen Perspektiven? Was hindert uns eigentlich oftmals daran, gegen unser besseres Wissen, gegen unsere Vernunft zu handeln und das zu tun, was wir bei anderen als moralische Schwäche ansehen? Es ist die Selbstsucht, jene begrenzende und einengende, leiderzeugende Triebkraft unserer niederen Natur, die um Selbstbehauptung kämpft, um kleine vergängliche Vorteile, um Ansehen, um Macht - obwohl jeder von uns aus hundertfältiger Erfahrung weiß, "daß der Ruhm der Welt nichts ist als ein Hauch des Windes, der bald von hier und bald von dorther bläst."

Wir alle sind uns dessen bewußt, daß das Glück eines Menschen nicht von seinem theoretischen Wissen abhängt oder vom irdischen Besitz, sondern davon, wieviel Liebe er in seinem Herzen trägt. Und trotzdem leben wir nicht nach dieser Einsicht. Die Selbstsucht trübt immer wieder von neuem unseren Blick für das Ganze. Wir stellen nicht nur unsere Persönlichkeit in den Mittelpunkt, wir identifizieren uns sogar mit ihr, anstatt mit unserer unvergänglichen Wurzel - dem göttlichen Wesen. Mit dieser Grundhaltung gehen wir an alle Probleme unter falschen Vorzeichen heran und - wir enden in einer Sackgasse.

Worin besteht nun die große Notwendigkeit für uns selbst und für das Zusammenleben mit anderen?

Der Weg liegt in uns: Er bedeutet, leben in Harmonie mit den Naturgesetzen, er ist offenbar gewordene Liebe, eine Liebe, die nicht an Handlungen gebunden ist, sondern deren Wert in der Gesinnung liegt. Wenn wir dem Lied des Lebens lauschen, finden wir unsere eigene innere Stimme wieder. Nach und nach werden wir unser Gemüt von unnützem Ballast frei machen, wir werden die Kraft unseres innewohnenden Geistes befähigen, sich ungehindert zu ergießen, so daß wir ein Instrument in seinem Dienste werden. Dann werden wir wissen, daß die Grundkraft, die uns führt, die alle Wesen umfassende Göttliche Liebe ist, die Quelle und Bestimmung von allem.