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Die Kunst des Schreibens in Indien, 1. Teil

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Obgleich den alten vedischen Weisen die Kunst des Schreibens bekannt war, wurde sie im großen ganzen nur für Inschriften der Indus-Zivilisation angewandt. Ausgrabungen in Harappa, etwas südlich von Lahore, und in Mohenjo-Daro zeigen, daß die Bilderschrift gut entwickelt war. Sorgfältige Untersuchungen haben ergeben, daß sie vierhundert Schriftzeichen umfaßt mit einer Vielfalt an unterschiedlichen Kennzeichen, Symbolen und anderen Zeichen. Die meisten Archäologen meinen, daß diese Schrift in ihrer praktischen Anwendung brauchbarer war als die, die man im alten Mesopotamien und in Ägypten verwendete. Die Harappa-Inschriften wurden auf Kupferplatten und auf Siegel graviert und auf bemalten Töpferwaren gefunden. Da aber bis zu diesem Zeitpunkt niemand fähig war, sie zu entziffern, ist es bis heute noch ganz unmöglich, über das intellektuelle Leben dieser vergessenen Kultur etwas auszusagen.

Dazu ist eine Erklärung notwendig: Die Zivilisation des Industales, von der es heißt, daß sie zwischen Zweitausendfünfhundert und Eintausendfünfhundert v. Chr. ihre Blüte hatte, war, was Lesen, Schreiben und den Städtebau anbelangt, hoch entwickelt, obgleich, abgesehen von den bis jetzt entdeckten spärlichen Inschriften, keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen wurden. Vielleicht war ihre Literatur auf verderblichen Rollen aufgezeichnet, die die vielen Jahrhunderte und die Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Seuchen und Taifune nicht überstanden haben; denn man weiß, daß verschiedene des Lesens und Schreibens kundige Kulturen in diesem Teil der Welt durch solche Katastrophen hinweggefegt worden sind. Es ist so gut wie sicher, daß die Weisheit dieser prähistorischen Vorfahren aufgeschrieben worden war, daß sie aber unvermeidlich ausgelöscht wurde, nachdem sie ihren Höhepunkt erreicht hatte; denn das scheint ein unerbittliches kosmisches Gesetz zu sein.

Man stelle sich die Menge der in der ganzen Welt verloren gegangenen Literatur vor, die nicht durch mündliche Überlieferung erhalten blieb. Und wie viele von den vorhandenen altersgrauen Inschriften sind noch unentziffert. Was wir heute als Meisterwerke der Weltliteratur kennen, wird wohl nur ein Tropfen im Ozean sein. Abgesehen von den Kalendertexten der Azteken waren unsere Philologen zum Beispiel bisher nur imstande, einen kleinen Teil ihrer hieroglyphischen Schriften zu übersetzen - und diese sind vermutlich verhältnismäßig jüngeren Datums.

bild_sunrise_51972_s177_1Wir wissen, daß die Zivilisation des Industales durch die arischen Horden, die durch die nordwestlichen Pässe nach Indien hereinströmten, zerstört wurde. Es ist jedoch nicht möglich, ein genaues Datum für diese Invasion anzugeben, weil in verschiedenen Zeiträumen immer wieder Wellen von Nomadenstämmen in die fruchtbaren Ebenen Indiens eindrangen; vielleicht geschah dies sogar schon viele Jahrtausende vor der endgültigen Zerstörung der damaligen Kultur. Es können auch halbseßhafte Hirtenstämme dort gelebt haben, die schon im zehnten Jahrtausend v. Chr. sich in den nordwestlichen Ebenen ansiedelten. Zum größten Teil bestanden sie wohl aus Hirten, die durch den Kontakt mit den ursprünglichen Bewohnern das landwirtschaftliche Leben annahmen. Aber als - wahrscheinlich im zweiten Jahrtausend v. Chr. - die wilden arischen Eindringlinge in das Industal vordrangen, wurde die bereits in Verfall geratene Kultur von Harappa und Mohenjo-Daro ausgelöscht. Von dieser Zeit an - bis zum Erscheinen Buddhas - finden wir in Indien keinen unmittelbaren Beweis für eine geschriebene Sprache. Die allgemeinen Folgen waren so verheerend wie jene nach der spanischen Invasion in Peru im 16. Jahrhundert.

Bildtext: Mohenjo-Daro; Siegel aus Speckstein.

Aggression, Invasion und Expansion sind einige der charakteristisch arischen Attribute, und die Geschichtsforscher erkennen diese vererbten psychologischen Instinkte wieder, die diese Rasse vorwärts trieben, um über den ganzen Globus zu wandern. Wir wissen alle, wie Alexander der Große sein Leben opferte, um diesen arischen Ehrgeiz, ein Weltreich zu gründen, zu befriedigen; und andere, durch die Lehre von der rassischen und sprachlichen Überlegenheit erzeugte Beispiele von Größenwahn haben wir sogar in unserer Zeit erlebt. Der durch die ganzen alten Veden erklingende unsterbliche Wahlspruch lautet Krinvantu Visvam Âryam, was bedeutet "Arianisiere das ganze Universum"! Dieser Schlachtruf hallte wiederholte Male in den Herzen dieser Rasse, selbst auf der Höhe ihrer spirituellen und moralischen Kultur und trotz ihrer wunderbaren religiösen und philosophischen Systeme. Außerdem war es stets die Gewohnheit der Arier, die hohen kulturellen Werte und die beneidenswerte Ethik der von ihnen Unterdrückten zu übernehmen; zuweilen versuchten auch die aggressiveren unter ihnen, die fremden Künste und Wissenschaften als ihre eigenen Erfindungen hinzustellen.

Nach dem Sturz der Indus-Zivilisation haben die siegreichen Arier wahrscheinlich von der eingeborenen Bevölkerung die Kunst des Schreibens gelernt. Schon im zehnten Jahrhundert v. Chr. bestanden kulturelle- und Handelsbeziehungen zwischen Griechenland und Indien. Bedeutende europäische Indologen und Gelehrte haben häufig auf die Tatsache hingewiesen, daß in den aufeinanderfolgenden Jahrhunderten indische Weise und griechische Philosophen an den Höfen von Kleinasien und Persien zusammenzukommen pflegten, um Ideen über Medizin, Astrologie, Religion, Philosophie und Wissenschaft auszutauschen. Wir haben allen Grund anzunehmen, daß die Kunst des Schreibens in Indien zu der Zeit zur Reife gelangt war, als die Griechen etwa um die Mitte des sechsten Jahrhunderts mit dem phönizischen Alphabet (dieses Wort selbst ist phönizisch) bekannt wurden. Für die Ionier war es von großem Vorteil, beim Verkehr mit den phönizischen Kaufleuten, die "Phönizischen Buchstaben", wie sie sie nannten, zu lernen. Es konnten Verträge abgeschlossen und Navigationsinstruktionen für Seeleute niedergelegt werden. Professor F. Max Müller berichtet uns in einem seiner denkwürdigen Vorträge:

Schreiben war zu jener Zeit eine Anstrengung, und eine solche Anstrengung wurde nur für irgendeinen großen Zweck gemacht. Die ersten beschriebenen Häute waren das, was wir Murrays Handbücher nennen würden. Sie wurden Periegesis oder Periodos, oder, wenn sie über Seefahrten handelten, Periplus genannt; das sind Reiseführer, Bücher, die die Reisenden in einem Land oder in einer Stadt herumführten. Mit diesen Reiseführern verbunden waren die Berichte über die Gründung von Städten, die Ktisis. Solche Bücher existierten im sechsten und siebenten Jahrhundert in Kleinasien und ihre Schreiber wurden allgemein Logographi oder Logioi oder Logopoioi genannt, im Gegensatz zu den Aoidoi, den Dichtern. Sie waren die Vorläufer der griechischen Geschichtsschreiber, und Herodot (443 v. Chr.), der sogenannte Vater der Geschichte, benutzte häufig ihre Werke.

Aber wie Professor Müller darlegt, von geschriebenen Verträgen und Reiseführern zu wahrer Literatur ist noch ein weiter Schritt; und dieser Schritt muß in jeder Zivilisation gemacht werden. Die germanischen Rassen im Norden schnitzten ihre Runen auf ihre Grabsteine und Trinkgefäße - aber ihre Inschriften waren keine Literatur.

Indien ging, nachdem durch die arische Invasion die Indus-Zivilisation vernichtet worden war, durch eine ähnliche Phase. Während des siebenten und sechsten Jahrhunderts v. Chr. wurde wahrscheinlich die Bilderschrift gleichzeitig mit der Silbenschrift zur Aufzeichnung geschäftlicher Abmachungen und für königliche Erlasse benützt. Die meisten europäischen Indologen sind der Meinung, daß das Alphabet durch die nichtarischen dravidischen Kaufleute, die mit Babylon und mit verschiedenen Häfen an der Küste Südarabiens Seehandel trieben, in Indien eingeführt wurde. Die Professoren Albrecht Weber und J. G. Bühler versuchten zu beweisen, daß viele Buchstaben in dem nördlichen semitischen Alphabet den ältesten, in Indien während jener Zeit gebrauchten Buchstaben ganz ähnlich sind. Professor Weber und sein Mitarbeiter lebten nicht lange genug, um die Richtigkeit ihrer Hypothesen durch einen Vergleich mit den neuesten Entdeckungen festzustellen. Es mag sein, daß es in nicht zu weit entfernter Zukunft manchen Archäologen gelingen wird, die kaufmännischen Notizen und die auf den Siegeln und auf den Töpferwaren der Indus-Kultur gefundenen kurzen Inschriften zu entziffern. Das würde ohne Zweifel ein neues Kapitel in der Vorgeschichte Indiens eröffnen.

Die älteste Form des Alphabets in Indien wird das Brahmi Lipi genannt. Es kann mit Recht als Vorläufer aller indischen Alphabete, sowohl der arischen wie auch der nichtarischen, betrachtet werden. Manche Experten glauben, daß das indische Buchstabensystem in Indien selbst seinen Ursprung hatte. Möglicherweise waren einige wenige von den Akkadern geborgte Buchstaben dabei. Unsere ausgedehnten Forschungen haben uns überzeugt, daß die zu verschiedenen Zeiten zwischen dem zehnten und zweiten Jahrtausend v. Chr. in Indien eingewanderten Arier ein System des Schreibens übernommen haben, das sich auf die Kerben ihrer Cro-Magnon Vorfahren begründete.

Die Kunst des Schreibens mußte jedoch in den nachfolgenden Jahrhunderten noch eine andere Krise durchmachen - die der Exklusivität. Die brahmanischen Priester nahmen die religiösen Hymnen der Veden und die Balladen, die die Arier zum Lob ihrer vergöttlichten Naturkräfte sangen, für sich allein in Anspruch und eigneten sich damit so viel Macht wie nur möglich, widerrechtlich an. Dr. T. W. Rhys Davids schreibt:

Wir können daher nicht allzusehr irren, wenn wir annehmen, daß sie in bezug auf den Gebrauch der Schrift, als Mittel zur Verbreitung der für sie so gewinnbringenden Bücher, nicht etwa gleichgültig waren, sondern einer für ihre alleinigen Sonderrechte so gefährlichen Methode sehr entgegenarbeiteten. Und wir sollten nicht überrascht sein, wenn wir entdecken, daß die ältesten, in Indien bekannten, auf Baumrinde oder Palmblätter geschriebenen Manuskripte buddhistischen Ursprungs sind; daß die ältesten, auf Stein und Metall eingeprägten Aufzeichnungen von den Buddhisten stammen; daß die Buddhisten die ersten waren, die ihre kanonischen Bücher schriftlich niederlegten.

Und so kam es, daß die Kunst des Schreibens mit dem Erscheinen Buddhas einen neuen Impuls erhielt und sich außerordentlich rasch aus der traurigen Vergessenheit erhob, in der sie von den brahmanischen Priestern so lange verborgen gehalten wurde.