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Eine neue Ethik

Grenzenloser Zweifel ist ebenso das Kind von 'Geistesschwäche' wie vorbehaltlose Leichtgläubigkeit. - Braid

 

 

 

Dogmatische Ablehnung und dogmatische Zustimmung sind lange Zeit hindurch die beiden Einstellungen gewesen, die die westliche Kultur den beiden Fragen über Gott und die Unsterblichkeit gegenüber einnahm. Eine davon ist die des materialistischen Wissenschaftlers, die andere die des frommen Menschen. Objektiv gesehen ist jede unbeugsame Haltung in diesen grundlegenden Dingen von geringem Wert - dogmatischer Glaube wird ebenso wie dogmatische Ablehnung aus dem gleichen labilen Geist geboren. Die Gläubigen können natürlich nach fest verankerten moralischen Grundsätzen, nach einer stabilen Ethik, leben, aber wir müssen die Tatsache beachten, daß es bei dem größeren Teil der Menschen nicht die auf Religion beruhende Ethik ist, die das moralische Verhalten bestimmt, sondern die Ethik, die den Fußstapfen der wissenschaftlichen Entdeckungen folgt.

Wie wir in unserem Innersten denken, so handeln wir letzten Endes. Von den materialistischen Anschauungen, die von Newton, Darwin und Freud übernommen wurden, kann gesagt werden, daß sie die Grundlage der Ethik der breiten Masse von heute bilden: Newton machte Gott in der Natur heimatlos, Darwin machte ihn im Leben heimatlos und Freud trieb ihn aus der Seele aus.

Auf diese Weise haben bis jetzt zwei Moralsysteme und zwei Weltanschauungen den Werdegang des Menschen beherrscht: Das erste System entwickelte sich aus dem Glauben an das Universum als Ausdruck eines Gottes in Person - die anthropomorphische Weltanschauung; das zweite ist auf eine mechanomorphische Anschauung gegründet, die das Universum als Mechanismus betrachtet. Die Folgen dieses Denkens sind klar ersichtlich.

Wie steht es aber mit der Religion, mit dem Christentum - hat die christliche Religion keine Bedeutung? Warum bringt sie keine radikale Besserung der ethischen Haltung zustande? Schließlich hat sie zweitausend Jahre Zeit gehabt, das westliche Denken zu beeinflussen. Hatte das Evangelium des Meisters nicht die innewohnende siegreiche Kraft, die von ihm erwartet wurde? Oder sollte die Auslegung der Botschaft des Nazareners am "Fehlschlag" schuld sein, oder liegt gar die Ursache in der Unfähigkeit der Menschen, seine Lehren aufzunehmen?

Die Kirche weiß sehr wohl, daß es immer eine Anzahl Menschen mit "steinernem Herzen" gibt, die für die "Saat Jesu" nicht empfänglich ist. Darauf beruht die Verteidigung der Kirche, und daraus hat sich die schreckliche Lehre von der Vorherbestimmung entwickelt. Wie stimmt das aber mit des Meisters Evangelium der Liebe überein? Alles ist von Gott erschaffen. Das ist die Grundlage der biblischen Theologie. Folglich sollte die Verantwortung für diese Unvollkommenheit, daß jemand ein "steinernes Herz" hat, bei Gott selbst liegen. Ist der unvollkommene Mensch zu tadeln? Die Kirche fordert, daß wir unsere Sünden bereuen und durch ihr Sakrament "Vergebung der Sünden" erlangen. Deshalb sollen wir Gott für die Unvollkommenheit um Vergebung bitten, die er selbst erschaffen hat. Der Widerspruch, gerade beim Begriff der Sünde, wie ihn die Theologie formuliert hat, ist verhängnisvoll. Der dänische Mystiker Martinus drückt das folgendermaßen aus:

Die Anschauung der christlichen Kirche über die Welt und das Leben schafft Zweifel und Unglauben, anstatt Glauben an die Gottheit. Daher ist es sicher unvermeidlich, daß sie aufhört, ein Fundament für Moral und Kultur zu sein.

Wie unendlich eindrucksvoller, folgerichtiger und der frischen Quelle des Lebens näher, ist das Gesetz der persönlichen Verantwortlichkeit, das Gesetz von Karma, als dieses "Evangelium der Sünde" des Kirchenchristentums. Und in diesem Zusammenhang sei noch gesagt: Die logischste aller metaphysischen Ideen, der Glaube an die Reinkarnation, ist weit spiritueller und deshalb der Botschaft Jesu vom Sieg über die Materie viel näher, als das Kirchenrecht bezüglich der Seele, deren Schicksal für eine unbegrenzte Ewigkeit, im besten Falle während eines halben Jahrhunderts im irdischen Leben, entschieden wird. Das Dogma der Kirche ist in diesem Falle eine Schmälerung des großen Planes Gottes für die unsterblichen Seelen, und eine Abwertung der von ihm geschaffenen Materie.

Die ursprünglichen christlichen Werte würden nicht herabgesetzt, wenn man versuchen würde, das Kirchenchristentum zu reformieren. Nathan Söderblom, vielleicht der vornehmste Vertreter einer liberalen Theologie, wurde während der letzten Jahrzehnte von führenden orthodoxen Denkern in zunehmendem Maße bekämpft. Beim Reformationsjubiläum erklärte er in der Kathedrale von Uppsala:

Wenn die Reformbewegung innerhalb der Kirche erlöscht, dann wird dort Entartung und Untergang herrschen. - Wenn wir vollkommen sind, sind wir keine Kinder der Reformation.

Seine Hoffnung für die Zukunft war eine Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern - "eine Kirche mit zum Himmel strebendem Gewölbe für den Flug des Geistes, mit genug Raum zwischen den Mauern, der für alle Menschen jeden Charakters, für alle Bestrebungen und Nöte, offen steht, der allen Raum läßt, die einen Gott anbeten wollen, der nicht von künstlichen Tempeln abhängig ist."

Die liberale Theologie versucht, vom Dogma zum Evangelium überzugehen. Sie weiß wohl, daß die kommende Veränderung nicht diese oder jene Einzelheit der kirchlichen Verkündigung betrifft, sondern daß es eine von Grund auf verschiedene Auffassung in mancher Hinsicht sein wird. Luther bereitete dem alten klassischen Dogma mit seiner Christologie und Dreieinigkeitslehre abrupt ein Ende, aber die liberalen Theologen sagen, wir können dort nicht haltmachen - Luthers Werk muß fortgesetzt werden.

Es ist deshalb kein Wunder, daß Nathan Söderblom, der diese Ideen unterstützte, bei den Bibeltheologen auf starke Opposition traf, als er zum Erzbischof ernannt wurde. Svensk Kyrkotidning (Das schwedische Kirchenblatt) legte Verwahrung ein: "Die Ernennung, die den Klerus des Landes und die Kongregation erregt, ist eine Rücksichtslosigkeit gegenüber der Kirche." Allmählich wurde jedoch Söderblom mehr und mehr anerkannt, zwar weniger wegen seiner Ideen, sondern wegen seiner hervorragenden Eigenschaften und seiner charmanten Persönlichkeit. Er gab nie den Standpunkt auf, den er als Professor vertreten hatte, doch als Haupt der Kirche konnte er sich nicht so frei äußern. Man sagt, daß das Christentum mehr Nutzen gehabt hätte, wenn er als Professor an der Universität Uppsala gewirkt hätte. Das ist einleuchtend. Sicherlich hätte er dann einen starken liberalen, kulturellen Kern aufgebaut, und damit wäre ein Gegengewicht zur heutigen Geistlichkeit geschaffen worden, einer Geistlichkeit, die mit großer Überheblichkeit dagegen angeht, daß man sich mit der Erforschung der Bibel kritisch befaßt, und die plötzlich auf der ursprünglichen Vorstellung der Kirche über Jesus mehr oder weniger beharrt, indem sie es ablehnt, tiefer danach zu forschen, was sich hinter allem verbirgt.

Man muß dabei im Gedächtnis behalten, daß die ersten Anhänger in der Gestalt Jesu mit "gläubigen Augen" den Messias sahen und ihn mit dogmatischen Ausschmückungen verklärten. Zumindest waren die drei ersten Evangelienschreiber darauf bedacht, die Stellung Jesu als Messias zu rechtfertigen. Sie leisteten Missionsarbeit und waren daher, genau gesagt, im besten Sinne des Wortes mehr an Propaganda als an historischen Darstellungen interessiert. Eine unvoreingenommene Nachforschung hat ergeben, daß das kirchliche Messias-Dogma nicht von Jesus, sondern durch die erste Kongregation aufgestellt wurde. Der liberale Theologe stellt Jesus als ein erleuchtetes menschliches Wesen dar. Dadurch entsteht ein viel schöneres und wahreres Bild des Meisters.

Natürlich ist diese Anschauung weit entfernt von der Orthodoxie, die behauptet, daß die Kirche als alleinseligmachendes Bindeglied zwischen Gott und dem Menschen steht. Darauf aber wurde der dogmatische Glaube an das heilige Sakrament der Kirche als dem einzigen Mittel zur Erlösung aufgebaut - Gnade kann nur durch die heilige Kommunion erlangt werden. Wie Sven Lönborg ausführte, besteht nicht der geringste Zweifel darüber, daß die Entwicklung einen Punkt erreicht hat, an dem eine Mauer aus Kirche, Sakramenten und den Hütern der Sakramente den Weg, den uns der Meister gezeigt hat, vor unserem Blick verbirgt.

Wenn sich die Orthodoxen mit Menschen wie Sokrates und Plato befassen, so sind sie schnell dabei, sie "in das richtige Verhältnis" zu rücken. Natürlich kann man Jesus und Sokrates nicht miteinander vergleichen. Ich bin überzeugt, daß Sokrates sein Haupt geneigt und sich vor dem Meister niedergekniet hätte, wenn er ihm eines Tages auf den Hügeln Griechenlands begegnet wäre. Und ich bin ebenso überzeugt, daß ihn der Meister bei der Hand genommen und gesagt hätte: "Siehe, es ist unseres Vaters Wille, daß, was aus Liebe geboren ist, nicht zugrunde geht."

Wenn es sich jedoch um fromme Persönlichkeiten im christlichen Sinne handelt, dann fehlt der Bibeltheologie jeder Sinn für ein richtiges Verhältnis. Das ist einer der Hauptgründe, warum die Kirche heute in eine Sackgasse geraten ist und die Gelegenheit verloren hat (für immer, wenn sie sich nicht umstellt), auf die Massen einzuwirken. Während die von religiösen Persönlichkeiten aufgestellten Dogmen verteidigt werden, werden die ethischen Lehren in den Hintergrund gedrängt. Das war so beim Meister selbst, und geschah auch bei zwei anderen großen Christen, bei Paulus und Luther.

Es ist keine Herabsetzung Luthers, wenn es als Irrtum angesehen wird, seine Thesen blindlings anzunehmen, denn diese hatten ursprünglich eine ganz andere Tendenz. Noch immer wird angenommen, daß Luther ein für allemal die Norm festlegte, wie die Lehren durch die Kirche zu verkünden seien. Andererseits erklärten jedoch die liberalen Theologen, daß sein Werk weitergeführt werden sollte. Heute sieht man darin Gottlosigkeit. Getraut sich jemand darüber hinaus noch Luthers Predigten kritisch anzugehen, dann kommt zur Gottlosigkeit noch Kirchenfrevel hinzu.

Wir brauchen nur ein einziges Beispiel dafür zu betrachten, Luthers Lehre über den Schlaf der Seele: "Der Tote liegt in tiefem Schlaf und ruht bis zum Tage des Gerichts ..." Alle davon abweichenden Ansichten betrachtet er als zu "den widernatürlichen Begriffen gehörend, die auf dem römischen Dunghaufen zu finden sind." Mit der Wahl seiner Worte lenkt er die Aufmerksamkeit auf sein Ziel: Er wollte einen heftigen Kampf gegen die damals entarteten Formen des Christentums führen. Seine hauptsächlichste Zielscheibe war dabei die Anbetung der Heiligen. Er wollte zeigen, daß die Heiligen "schlafen, also ohne Bewußtsein sind", und demzufolge durch Gebete gar nicht erreicht werden können. Auf diese Weise versuchte er in einer schwierigen Krisenzeit den Menschen die Vorstellung von Gott zu erhalten.

So wie wir Luthers Absicht nicht im richtigen Ausmaß erkennen können, wenn wir es vom historischen Hintergrund trennen, genauso sollte auch Paulus - meiner Meinung nach - objektiv und unter Berücksichtigung der historischen Tatsachen und psychologischen Motive interpretiert werden. Ohne Zweifel spielte er in der frühchristlichen Bewegung eine große Rolle; ihn aber für ein gesundes, kritisches Studium unantastbar zu machen, heißt, der christlichen Sache einen schlechten Dienst erweisen. Seine Lehren betonen nachdrücklich die "Erlösung durch Gnade." Seine eigene Bekehrung bei Damaskus muß ihm natürlich als ein Akt großer Gnade erschienen sein. Er selbst hatte nichts für seine Erlösung getan. Auch in den ersten drei Evangelien finden wir etwas von diesem Gnadenmystizismus. Das einzige Evangelium ohne diesen Einfluß, das Evangelium des Johannes, hat einen ganz anderen Charakter. Es läßt auf ein tiefes Verstehen der Person Jesus schließen.

Für Johannes ist Gnade nicht die Befreiung von Sünde und Schuld, noch bedeutet das Resultat des Sühneopfers Christi "Erlösung." Er versucht zu zeigen, daß die Menschen, durch ihren spirituellen Ursprung in Gott, mit ihm wie Kinder mit einem Vater verwandt sind und durch diese Verwandtschaft bereits an dem ewigen Leben teilhaben. Was erwartet wird, ist die Vollendung dessen, was wir bereits besitzen. Im Gegensatz zum paulinischen Gnadenmystizismus ist das Evangelium des Johannes von Lebensmystik durchdrungen.

Es ist bemerkenswert, wie nahe Johannes der spirituellen Lebensanschauung kommt. Ebenso beachtlich ist, wie weit seine Gedanken von der Interpretation der Botschaft Jesu entfernt sind, wie sie durch die modernen Bibeltheologen als Gottes Plan für die Kirche auf Erden gebracht werden. Diese Idee von der "Gnade durch die Kirche" ignoriert das unmittelbare Gebot Jesu an den Einzelnen. Die wunderbare Ethik des Meisters wird dadurch getrübt. An ihre Stelle tritt ein übertriebener Glaube an den Einfluß der Kirche und an die weitreichenden Wirkungen der sakramentalen Handlungen:

Jeder Tag, den das Kind ungetauft bleibt, ist ein Tag des Gerichtes, ein verlorener und verschwendeter Tag. Vorsicht ist besonders geboten, wenn das Kind schwach und vom Tode bedroht ist. Ist das Kind nicht getauft, dann treten Ereignisse ein, die Gott sich allein und nicht uns vorbehalten hat. Wir kennen sie überhaupt nicht, und daher befindet sich das Herz in einer schmerzvollen und lähmenden Ungewißheit und das kann sich als Verdammung durch Gott auswirken.

Das wurde nicht etwa im siebzehnten Jahrhundert geschrieben, sondern von einem modernen Theologen! Demzufolge droht dem Kinde, das nicht getauft ist, ewige Verdammnis, nicht etwa dem, der versäumte, es taufen zu lassen. Wie wenig verspürten diese dogmatischen Prediger von der geistigen Ausstrahlung des Meisters. "Sie haben weder die Lilien auf dem Felde gesehen, noch die Vögel am Himmel, noch haben sie etwas von der Pein in Gethsemane erfahren." Mir scheint, daß die Antwort auf die Frage, warum es dem Christentum mißlang, den Menschen eine haltbare Ethik zu bringen, so klar ist, wie der Tag.

Wenn wir heute die Position jener untersuchen, die Dogmen ablehnen, so werden wir finden, daß ihre Einstellung im Grunde gar nicht so erfolglos ist. Wir werden sehen, wie die Wissenschaft in zunehmendem Maße den Weg für eine gesunde Lebensanschauung im religiösen Geiste frei macht und wie auf diesem Fundament eine bedeutungsvolle Ethik ins Leben gerufen wird.

Die Wissenschaft stand lange in scharfem Gegensatz zu den religiösen Ideen. Heute können wir eine bemerkenswerte Tatsache beobachten: Wissenschaftler, die sich damit befaßten, die Materie in der Gestalt von Mineralien und Himmelskörpern zu studieren, haben in vielen Fällen einen Punkt erreicht, wo sie sich religiöse Ideale zu eigen machen. Viele von ihnen kommen zu dem Schluß: "Alles Existierende gleicht mehr einem großen Gedanken, als einer großen Maschine." Gewiß, in Schweden hielt sich überraschend lang der Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts mit der laut verkündeten These: Das Gehirn erzeugt Gedanken, wie die Leber Galle erzeugt... Die Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts bewies, wie unlogisch eine solche Behauptung tatsächlich ist. Die Materie wurde durch die neue Physik so lange analysiert, bis nichts mehr übrig blieb. Sie ist zu etwas Immateriellen geworden, zu Kraft. Die Hoffnung von ehedem, eine Erforschung des Gehirns mit genügend stark vergrößernden Mikroskopen würde die Seelenvorgänge enthüllen, wurde ein für allemal aufgegeben. Physik, Biologie und Psychologie haben alle etwas zu einer neuen Betrachtungsweise beigetragen. Die Physik hat das Universum in etwas Immaterielles umgewandelt: alles, was sich ereignet, vollzieht sich unabhängig von dem, was wir unter Materie verstehen. Die Biologie hat gezeigt, daß die Kräfte der Evolution nicht blind und unvernünftig sind, sondern von anderen Prinzipien in Bewegung gesetzt werden. Die Psychologie hat entdeckt, daß der Mensch keine Maschine ist und daß die Zellen von Kraftfeldern umgeben sind.

Die jüngsten Entdeckungen der Wissenschaft bedeuten nichts weniger als eine Revolution, und zwar nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Moral. Wie die Entdeckungen von Newton, Darwin und Freud allmählich eine andere Ethik mit sich brachten, so führt das neue Weltbild, für das Menschen wie Bohr, Einstein und Rutherford Vorkämpfer waren, zu einer neuen Ethik.

Die Menschheit steht vor einem ganz neuen Kapitel in ihrer Geschichte, das ist die Überzeugung verschiedener berühmtester wissenschaftlicher Denker. Physik und Philosophie sind im zwanzigsten Jahrhundert verwandte Forschungsgebiete geworden, und die Menschheit kann die Umrisse einer fruchtbaren Forschung nach der Wahrheit erkennen. So wird die schon vor zweieinhalbtausend Jahren begonnene Spaltung aufgehoben. Die fortschreitende Analysierung des Existierenden in seine Grundbestandteile durch die ionische Philosophenschule war der Anfang für die Naturwissenschaft und die Philosophie. Die Denker und Forscher der damaligen Zeit waren jedoch für ein Studium der Naturwissenschaft nicht reif, - für sie waren nicht die Resultate, sondern das kritische Denken wichtig - während die Philosophie ihren eigenen Weg ging und im Treibsand der Spekulation endete. Heute treffen sich Naturwissenschaft und Philosophie nach langem Umweg wieder, und die Forschung ist gerüstet, bisher unbekannte Gelegenheiten zu nutzen.

Die alten Wissenschaften sind nicht einfach wiederbelebt worden, ein neues Gebiet für Untersuchungen ist jetzt bereit, die Forscher zu empfangen: das parapsychologische. Parapsychologie ist das Studium der immateriellen Energie, der reinen Seele, - wenn man will - die sich mit sich selbst beschäftigt. Die Psychologen sind der Ansicht, daß das Studium, welches die "Wissenschaft der Seele" genannt wurde, in "Studium des menschlichen Verhaltens" umbenannt werden sollte. Die Parapsychologen wurden lange als Scharlatane betrachtet, aber nach und nach wurde dieses Forschungsgebiet allgemein anerkannt. Das zwanzigste Jahrhundert sucht die Seele nicht nur im Einzelwesen wahrzunehmen, sondern auch im Universum. Optimisten glauben, daß die Menschheit während des kommenden Jahrhunderts aus einer mechanischen Welt eine Einheit gestalten wird: beinahe ein Schöpfungsakt.

Das neue Weltbild wird die Grundlage für die neue Ethik bilden, einer Ethik, die sowohl auf religiösen Idealen wie auf wissenschaftlichen Tatsachen beruht. Unvoreingenommene Parapsychologen sind bereits zu einem bemerkenswerten Resultat gekommen: Das Einzelwesen ist Beschränkungen unterworfen und damit an etwas gebunden, das außerhalb des Gefüges irdischer Erfahrungen liegt! Die Idee von der Einheit, einer erhabenen Vollkommenheit, eines gemeinsamen Planes all dessen, was existiert: hier haben wir das Evangelium der Liebe des Christentums - die Bergpredigt in wissenschaftlichem Licht! Und die Intuition des Mystikers über die Einheit.

Es wird eine bei weitem stabilere Ethik sein, als die der dogmatisch Gläubigen. Von den unabhängigen Menschen, die die Dogmen ablehnen, kann daher gesagt werden, daß sie im Hinblick auf die wesentlichen Fragen des menschlichen Fortschritts einen nutzbringenderen Standpunkt einnehmen.

Die Religion und die Kirche der Zukunft sollten nach der Vorstellung des Erzbischofs Söderblom reformiert werden: "Mit zum Himmel strebendem Gewölbe für den Flug der Gedanken und des Geistes..." Die Religion, die wir brauchen, kann nie ein Feind der Wahrheit sein. Und die Wissenschaft sucht die Wahrheit.