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Der Kampf um die Rollen

Die ganze Geschichte hindurch wurden von Zeit zu Zeit immer wieder lange vergessene Schätze von kulturellem Wert nach Jahrhunderten wieder entdeckt. Sie erregten die Verwunderung und die Neugierde der Menschen, zerstreuten gelegentlich manche langgehegten Illusionen und änderten den Lauf der Geschichte. Die Wiederentdeckung der griechischen und lateinischen Klassiker verhalf der Renaissance zur Geburt, forderte den Aberglauben und die Leichtgläubigkeit heraus, die die Gemüter der Menschen Jahrhunderte hindurch gefesselt hielten und gab den ersten Anstoß zur modernen Zivilisation. Die Entdeckung des Rosetta-Steines lieferte den Schlüssel zur wörtlichen, wenn auch nicht esoterischen Bedeutung der ägyptischen Hieroglyphen. Ebenso hatte das Bekanntwerden der metaphysischen Philosophie des Ostens für den Abendländer ein erweitertes vergleichendes Religionsstudium zur Folge, das heute langsam aber sicher eine zweite Renaissance im westlichen religiösen Verständnis bringt. Der kristallisierte und untolerante Glaube unserer puritanischen Vorfahren erholte sich nie von dem Zusammenprall mit dem Transzendentalismus, zu dem auch Emerson beitrug. Von ihm wird gesagt, daß er die Bhagavad-Gîtâ zwanzig Jahre lang unter seinem Kopfkissen liegen hatte, so hoch schätzte er diese alte indische Schrift.

Noch manche weiteren seltsamen Dinge kommen an entlegenen Orten zum Vorschein.

Wie jedermann weiß, drangen vor etwa zwanzig Jahren zwei Beduinenjungen, die am Ufer des Toten Meeres entlang wanderten, in eine der dort zahlreich vorhandenen Höhlen ein und brachten eine 2000-Jahre-alte literarische Atombombe ans Tageslicht, die heute in der Form der Rollen vom Toten Meer bekannt ist. Erst nachdem diese unschätzbaren Dokumente durch viele Hände gegangen waren und das Hin und Her der Grenzstreitigkeiten zwischen Israel und Jordanien überstanden hatten, - gewisse Rollen wurden von dem syrischen Kloster St. Markus in Jerusalem und andere von der hebräischen Universität dort erworben - wurde ihr wirklicher Wert erkannt. Und das auch nur in einem gewissen Ausmaße, denn trotz der ersten begeisterten Beurteilung mancher Gelehrter wartet die Welt weiterhin auf klärende Äußerungen, die die Beziehung zu den Versionen des Neuen Testamentes und Jesus in den Evangelien betreffen.

bild_sunrise_71968_s244_1Professor W. F. Albright von der Johns Hopkins Universität sah 1951 ein ganz neues Kapitel sich vor uns auftun, das "uns möglicherweise veranlaßt, die Anfänge des Christentums von Grund auf anders zu betrachten." Er fügte hinzu, daß "rabbinische Forschungen sogar noch weit mehr davon betroffen sind ... nichts, was über die sektiererische Tätigkeit der letzten drei Jahrhunderte über den Zweiten Tempel geschrieben wurde, kann einer gründlichen Überprüfung im Lichte des Beweismaterials, das jetzt zur Verfügung steht und noch veröffentlicht werden muß, entrinnen." Da er als einer der größten lebenden biblischen Archäologen betrachtet wird, ist es nicht schwer zu verstehen, warum die Doktoren der Theologie etwas beunruhigt waren. Archäologen befassen sich jedoch mit Tatsachen und nicht mit der Verteidigung konfessioneller Voreingenommenheiten, besonders wenn diese keiner soliden geschichtlichen Überprüfung standhalten. Der "Kampf um die Rollen" war von nun an in Gang. Seine Auswirkungen werden wahrscheinlich in den kommenden Jahrzehnten zu spüren sein. Laufend werden Dutzende von Büchern, gelehrten Abhandlungen und Zeitungsartikel veröffentlicht, die alle individuelle Schlußfolgerungen sind. Ein Ende ist nicht abzusehen. Nichtsdestoweniger wurde nach sorgfältigem Studium mit ziemlicher Sicherheit festgestellt, daß die Rollen zumindest aus dem ersten Jahrhundert vor Christi, wenn nicht noch früher, und nicht später als aus dem ersten Jahrhundert nach Christi stammen.

Da ich mein ganzes Leben lang nicht nur an den Ursprüngen und der Entwicklung des christlichen Glaubens, sondern an allen Religionen interessiert war, erwartete ich einen Riß im Schleier der Orthodoxie. Aber vergeblich. Soweit man es aus den Veröffentlichungen zu beurteilen vermag, scheint die versprochene "Revolution" totgeboren zu sein. Man ist nur erstaunt, warum Professor Albright und David Noel Freedman mit aller Entschiedenheit von einem teilweisen Boykott der "Gelehrten des Neuen Testamentes" sprechen. (s. Journal of Bible and Religion, April 30., 1963) Man stelle sich meine Freude vor, als ich in der August-Nummer von 1966 in Harper's Zeitschrift einen speziellen Artikel von John Marco Allegro las mit dem Titel: "Die unbekannte Geschichte der Rollen vom Toten Meer." John Marco Allegro ist in dieser Hinsicht einer der führenden Autoritäten Britaniens und Dozent über das Alte Testament und intertestamentarische Studien an der Universität Manchester. Die einleitenden Fragen des Herausgebers enthüllen die Geschichte:

"Warum bleibt der größte Teil des Berichtes über die Rollen nahezu zwanzig Jahre nach ihrer Entdeckung immer noch verborgen?"

"Wer fürchtet sich vor dem was sie enthüllen?"

Auch wir fragen: "Warum dauert es so lange" bis die Experten den Kernpunkt ihrer Untersuchungen veröffentlichen? Dr. Allegro kennt nur zu gut die außerordentlichen technischen Schwierigkeiten, die allein bei der physischen Behandlung dieser Hunderttausende zerbrechlicher Fragmente bestehen, die bearbeitet, sortiert, dann zusammengesetzt und endlich, trotz der vielen Lücken, entziffert werden müssen. Das alles erfordert äußerste Geduld, Geschicklichkeit und Hingabe. Eindeutig erklärt er jedoch, daß seiner Ansicht nach

gerade die Gelehrten, die am befähigsten sein sollten, die Dokumente zu bearbeiten und zu erklären, eine Zurückhaltung zeigen, die zwar nicht allzusehr überrascht, aber dennoch merkwürdig ist, Es scheint, daß die Gelehrten befürchten Entdeckungen zu machen, die wie man offensichtlich annehmen darf, einen großen Teil der grundlegenden Lehren der Kirche umstürzen können. Das wiederum würde viele christliche Theologen und Gläubige ganz aus der Fassung bringen.

Er erklärt, daß "das Herz der Materie tatsächlich die Quelle und den ursprünglichen Charakter der christlichen Lehre darstellt."

Der Artikel ist vom Anfang bis zum Ende fesselnd und sehr lehrreich. Den Spuren dieser kostbaren literarischen Überreste zu folgen kommt der Lektüre eines ausgezeichneten Kriminalromanes gleich. Nachdem in echt orientalischer Art um sie gefeilscht wurde, gehen sie wahllos von einem Käufer zum anderen. Oft fehlen Teile eines einzelnen Dokumentes, die dann zuweilen in Ländern auf der anderen Seite des Globus gesucht werden müssen, ganz zu schweigen von der Gefahr, daß sie noch mehr verstümmelt werden. So ist es wirklich, und was dabei auf dem Spiel steht sind alte Manuskripte, die die spirituelle Geschichte der Menschen behandeln!

Seit 1947 wurden am westlichen Ufer des Toten Meeres, auf jordanischem und israelischem Gebiet, noch viel mehr Höhlen gefunden, die Rollen und andere Überreste in unterschiedlichem Zustand enthielten. Natürlich mußte auch mit der Habgier gerechnet werden, besonders mit den steigenden Forderungen der Beduinen. Dr. Allegro gab ihnen jedoch den von ihnen geforderten Lohn gern, denn sie können ohne Unterbrechung stundenlang im erstickenden Staub und in sehr hoher Temperatur arbeiten; und was noch wichtiger ist, sie besitzen eine unheimliche Fähigkeit verborgene Schätze aufzuspüren! So mußten z. B. 1952, das er als ein "ungewöhnlich gutes Rollenjahr" bezeichnet, die Archäologen für ein einziges Versteck, das sie selbst nicht entdeckt hatten, den Betrag von 90.000 Dollar bezahlen. Das Versteck lag in der Umgebung von Wadi Qumran, wo sie selbst vorher gesucht hatten, und das nur einige Monate später von einer Gruppe Araber, durch den rechtzeitigen Hinweis eines älteren Arabers, gefunden wurde. Er erinnerte sich, daß vor einigen Jahren bei der Jagd ein Feldhuhn in eine Höhle gefallen war. Als er in die Höhle hinabgestiegen war, um das Huhn zu holen, hatte er eine alte Tonlampe bemerkt, sich aber nicht weiter darum gekümmert. Nachdem er nun begriffen hatte, was das bedeuten konnte, führte er sie an den Ort, der seitdem die Höhle des verwundeten Feldhuhns genannt wurde. Dieser eine Fund erbrachte etwa "Zehntausend Rollenfragmente!"

Um diese wichtige Bereicherung der wachsenden Rollen-'bibliothek' zu kontrollieren, zu entziffern und sie evtl. als Buch herauszubringen, wurde eine Gruppe von acht Mann zusammengestellt. Von dieser Gruppe sagt Dr. Allegro, daß "die Hälfte Mitglieder der römisch-katholischen Kirche waren. Drei waren keine Geistlichen und einer Jesuit. Nur einer, ich selbst, hatte keine bestimmte religiöse Überzeugung." Es war ausgemacht, daß individuelle Arbeiten veröffentlicht werden konnten, allerdings nur eine im Jahr. Das gesamte Material "in der endgültigen Reihenfolge der Veröffentlichungen" sollte jedoch bekanntgegeben werden unter den gemeinsamen Auspizien des Palästinensischen Archäologischen Museums, der French Biblical School und des Jordanian Department of Antiquites - mit Vater Roland de Vauxe, O. P., dem dominikanischen Archäologen der French School in Jerusalem, als Hauptherausgeber. -

Dr. Allegro schreibt: "Vierzehn Jahre sind vergangen und bis heute

ist noch immer kein einziger Band erschienen, der dieses Material behandelt. Gäbe es nicht unsere spärlichen, vorläufigen Veröffentlichungen, so würde die gelehrte Welt fast überhaupt nichts über den Inhalt der etwa vierhundert Dokumente wissen, die aus den Bruchstücken in mühevoller Arbeit zusammengestellt wurden.

Die Geschichte jener Zeit ist sonderbar still über das Leben und Wirken des Meisters der Christen, und über die später in seinem Namen gegründete Bewegung. Praktisch die einzige Quelle, die wir kennen, ist die Geschichte des Neuen Testamentes; und diese wurde niemals bestätigt. Die vier kanonischen Bücher wurden übereinstimmend Matthäus, Markus, Lukas und Johannes zugeschrieben. Sie können recht gut das Werk früher christlicher Gnostiker des ersten oder zweiten Jahrhunderts sein. Das Bemerkenswerteste, man könnte sagen Phantastischste, was die Entwicklung des Christentums anbetrifft, ist jedoch, daß die Theologen konsequent ihren dogmatischen Aufbau beim Auslegen der Heiligen Schrift auf dem toten Buchstaben errichten, obwohl Paulus gewarnt hatte, daß "der Buchstabe tötet" und trotz der eigenen Worte Jesu, daß er den wenigen Auserwählten "Mysterien" lehre, zur Menge aber in "Gleichnissen" spreche. Sie versuchten diese Heiligen Schriften so zu erklären, wie man dem Direktorium einer Bank eine Bilanz oder einen Bericht vorträgt und vergaßen dabei ganz, daß die Erzählungen des Neuen- und des Alten Testamentes von den Überlieferungen und dichterischen Ausdrucksweisen archaischen Denkens durchtränkt sind. Tatsächlich sind alle Bibeln der Welt nach dem gleichen symbolischen Schlüssel geschrieben. Der ihnen innewohnende spirituelle Wert liegt nicht in ihrer wörtlichen Fassung, sondern in den tiefen und unvergänglichen Wahrheiten, die in ihren allegorischen Aussprüchen verborgen sind.

Warum wurden sie in dieser Weise geschrieben? Um ihre tiefere Bedeutung zu verbergen und gleichzeitig zu enthüllen (für jene, die Augen haben zu sehen und Ohren zu hören) - aus dem gleichen Grunde, aus dem Jesus seine Lehre in Gleichnisse kleidete; aus dem gleichen Grunde, aus dem die Mysterienschulen im alten Griechenland nur jene aufnahmen, die würdig befunden wurden und qualifiziert waren.

Mit der Übersetzung der ersten Rollen kam man fast ausschließlich zu der Annahme, daß die Essener im Leben und in der Lehre von Jesus eine bedeutendere Rolle gespielt haben, als man vorher glaubte. Manche behaupteten, Jesus sei selbst ein Mitglied der Bruderschaft gewesen. Einige wenige gingen so weit, in ihm den, in verschiedenen Rollen so anschaulich erwähnten "Lehrer der Gerechtigkeit" zu sehen, der, wenn er nicht mit dem Meister der Christen identisch, so doch ein Prototyp des kommenden Messias war. Andere, wie Dr. Yigael Yadin, der seinem Vater, dem verstorbenen E. L  Sulenik, als Professor der Archäologie an der hebräischen Universität in Jerusalem nachfolgte, war entgegengesetzter Meinung. Für ihn war der Nazarener "kein Anhänger der jüdischen Sekte, die Essener genannt, gewesen." Dr. Yadin will seine Überzeugungen in einem Buch, das noch erscheinen wird, ausführlich entwickeln. Er sagt, durch seine neueren Ausgrabungen bei Masada in Israel seien sie noch verstärkt worden. Dieses Masada ist ein "einem Boot ähnlicher Fels, der sich hoch und gewaltig über die judäische Wüste erhebt" und zwar in der Nähe des Toten Meeres, wo Überreste von vierzehn Rollen ausgegraben wurden. Diese waren die ersten, "die bis jetzt außerhalb von Höhlen gefunden wurden." (s. The Christian Science Monitor, Oktober 18. 1966.)

Dr. Allegro seinerseits spürt mit gleicher Stärke, daß wir uns "am Rande eines gewaltigen Durchbruchs befinden und anfangen werden, das volle Ausmaß der Schuld des Christentums, den Essenern gegenüber, zu erkennen." Das ist keine neue Auffassung, denn seit die Gelehrten das erste Mal auf die Rollen aufmerksam wurden, wurde sie, wenn auch etwas unbestimmt, von vielen vertreten. Wie dieses komplizierte und mannigfaltige Material auszulegen ist, hat sich bis jetzt jedoch als eine Herkulesaufgabe erwiesen. Als erstes empfiehlt er eine "neue Überprüfung" der im Neuen Testament gefundenen Bezeichnungen und Namen. Für mich als Laien bringt er überzeugende Beweise, daß die Schreiber der Evangelien "für Jesus und seine getreuen Anhänger verschleierte Namen der Essener" benutzten.

Da ich nicht hebräisch oder aramäisch beherrsche, kann ich seine Schlußfolgerungen nicht bestätigen. Dessen ungeachtet sind sie der Beachtung wert. In der Erkenntnis, daß die Geschichten nicht einfach als "verbürgte Beschreibungen tatsächlicher Ereignisse" hingenommen werden können, glaubt er, daß "irgendein geschichtlicher Kern" vorhanden sein kann, und wir diesen billigerweise in der Geschichte über die Tätigkeit der Essener und ihrem Oberhaupt, dem sogenannten Lehrer der Gerechtigkeit, suchen könnten. Wenn wir die Dinge so betrachten, können wir möglicherweise im Leben des Lehrers und in der Mythe von Jesus nach Paralellen suchen. ... Die Geschichten über Johannes und Jesus können bis zu einem gewissen Grade Reflexionen der wirklichen Lebensgeschichte des Lehrers der Essener sein.

Nicht alle unserer Schlußfolgerungen sind annehmbar. ... Jene unter uns, für die die in Frage kommenden Probleme rein literarischer und geschichtlicher Natur und die Quellen nur eine Sammlung alter Literatur sind, wird diese Frage ungerührt lassen. Etwas anderes muß es für jene sein, für die das Neue Testament eine Quelle des Glaubens ist. Es wäre unvernünftig von ihnen zu erwarten, daß sie sich ohne irgendwelche Empfindungen, vollkommen leidenschaftslos und objektiv, mit dem Neuen Testament befassen. Wie sollte jedoch sonst dieser höchst aufregende Aufbruch, den die Enthüllungen der Rollen jetzt versprechen, erfolgreich genutzt werden.

Dr. Allegro hofft auf "eine neue Generation unvoreingenommener Gelehrter", die imstande sein wird, die innere Bedeutung der Rollen "ohne Furcht oder Parteinahme, und nicht unter religiösem oder akademischen Druck", zu beurteilen. Dem könnten wir nur mit übervollem Herzen zustimmen. Doch nicht nur der Theologe ist zu tadeln. Ein gut Teil Schuld liegt bei der Leichtgläubigkeit jener, die darauf bestehen, daß sie mental und spirituell mit dem Löffel gefüttert werden, ohne auch nur zu versuchen, die in den Gleichnissen gebotenen Krumen der Lehre zu verdauen. Hätten religiöse Eiferer nicht in ihrem Fanatismus so fleißig ihr nutzloses Zensorenamt ausgeübt, um jede Spur alter Kultur im Christentum, von der es dennoch so viel annahm, ausgerottet, dann wäre jene wunderbare Epoche jetzt nicht in die Nebel der Unklarheit eingehüllt. Jedes Zeugnis, das diese umstrittenen Dinge erhellt, wie die Rollen vom Toten Meer, sollte von denen willkommen geheißen werden, die an Tatsachen interessiert sind. Wir hätten es nicht prägnanter sagen können, als Dr. Allegro in seinen Schlußworten: "Vielleicht ist es wirklich die Frage, ob diese Generation den Mut hat der Wahrheit und all ihren Konsequenzen ins Gesicht zu sehen."