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Das lange Suchen

Als die Revolutionäre 1917 nach Wladiwostok kamen, herrschte Schrecken unter den Beamten der Zarenregierung. Die Leute flohen als Bauern verkleidet Hals über Kopf und nahmen nur solche Dinge mit sich, die sie unter ihrer Kleidung oder in kleinen Beuteln verbergen konnten, um nicht den Argwohn des Mobs auf der Straße und auf dem Lande zu erregen. Viele von den Weißrussen konnten entkommen - jene in Sibirien gingen in die Mandschurei und von dort nach China. Diese Leute, besonders die Aristokraten unter ihnen, waren schlecht gerüstet, um sich in einem Lande zu behaupten, in dem die Armut so weit verbreitet war, daß viele fast nur von einer kärglichen Schale Reis und ein wenig dünnem Tee pro Tag lebten, und wo die chinesischen Kulis die Arbeit von Zugtieren verrichteten und für die paar Kupfermünzen, die gerade genügten, um das Leben zu erhalten, schwere Karren oder Rickshas zogen.

Zu dieser Zeit floh auch die Familie Toumanov, Vater, Mutter und eine kleine Tochter, aus Wladiwostok - sie strebten südwärts, nach Dairen, wo sie sicher zu sein hofften. Beim Überschreiten der Grenze wurden sie aber getrennt. Serge durchwanderte Tage und Wochen lang Dairen und suchte und forschte nach seiner Frau und seiner kleinen Tochter. Schließlich machte er sich, auf ein Gerücht hin, daß seine Familie in Schanghai gesehen worden sei, auf einer chinesischen Dschunke auf den Weg nach Süden.

In Schanghai angekommen, setzte er tagsüber sein Suchen fort. Des Nachts spielte er in einem geschäftigen Nachtklub, dem Goldenen Fasan, bis in den frühen Morgen auf seiner Violine. Er war beständig auf der Jagd nach Nachrichten über seine Familie. Während die Zeit dahinschwand, wurde er immer mehr entmutigt und sah, daß die Jahre vergingen und daß er das lange Suchen wohl bald aufgeben müsse.

Im Goldenen Fasan gab es viele hübsche, junge weißrussische Mädchen, die nach Schanghai entkommen waren und nun als Sängerin, Tänzerin und Unterhalterin beschäftigt wurden. Serge taten diese jungen Frauen leid, die vornehm erzogen und umhegt, nun in ein so schwieriges Leben hineingezwungen worden waren. Sie kamen und gingen, diese rührenden jungen Mädchen, und man wußte nie, was aus ihnen wurde. Serge lebte immer so weiter, ein grenzenlos langes Jahr nach dem andern, still, niedergeschlagen, aber immer von dem Gedanken aufrechterhalten, daß er seine Geliebten einmal finden werde. Sein einziger Trost war die Violine, auf der er die bezaubernden russischen Melodien spielte, die er aus seiner Jugendzeit, aus den glücklichen Tagen vor der Revolution kannte.

Es war Heiligabend, und der große, rauchige Speiseraum war gedrängt voll. Serge glaubte den Lärm und das Durcheinander nicht ertragen zu können, was durch die vielen verschiedenen Sprachen, einem Babel von Zungen, - Französisch, Deutsch, Russisch, Englisch, Portugiesisch, Chinesisch - viel größer zu sein schien. Alle schrieen, als ob jede Nation versuchte, einen unsichtbaren Tonkrieg zu gewinnen. Zuweilen dachte er, es sei möglich, mit Hilfe der Musik Ruhe zu stiften. Er nahm seine Violine, ging langsam von Tisch zu Tisch und spielte. Dabei verweilte er hier und dort und spielte auf Ersuchen ein Lied, das nur diejenigen hören konnten, die ganz in der Nähe waren. Während er beim Spielen eines seiner liebsten Weihnachtslieder an einem Tisch vorüberging, hörte er neben sich eine süße, klare Stimme, die die anmutige Geschichte des Christuskindes sang. Als er sich umwandte, sah er ein kleines blondes Mädchen, mehr noch ein Kind, an einem Tisch bei einer Gruppe junger Seeleute sitzen. Ein neues Mädchen und so jung und schüchtern - sie sollte nicht hier sein, dachte er. Er neigte sich zu ihr und flüsterte in Russisch: "Komm mit mir auf die Bühne." Während er durch den Raum zurück zu den anderen Mitgliedern des Orchesters ging, bemerkte er, daß das Mädchen aufstand und ihm folgte.

Als er den Korridor erreichte, der zur Bühne führte, wartete er im Dunkeln. Das Mädchen näherte sich schüchtern.

Er fragte: "Wie heißt du und was willst du hier?"

Zögernd erwiderte sie: "Ich heiße Sonya. Ich kam, um etwas Geld zu verdienen. Meine Mutter ist sehr krank. Ich muß etwas unternehmen, um Nahrung und Medizin für sie zu beschaffen."

"Es muß einen anderen Weg geben. Willst du mit heraufkommen zum Orchester und singen?"

Das Gesicht des Mädchens erstrahlte. "Wenn ich es nur könnte. Aber ich habe noch nie in der Öffentlichkeit gesungen. Es würde mich so ängstigen, wenn alle jene Leute auf mich achten."

"Weißt du, sie achten in Wirklichkeit gar nicht auf dich. Sie werden schwatzen, trinken und schreien, und du wirst für den Abend in Sicherheit sein. Später werde ich versuchen, dir zu helfen. Nun laß mich schnell hören, welche Lieder du kannst, ehe der Manager entdeckt, was wir vorhaben."

Serge spielte sanft von einem Lied nach dem andern ein paar Takte und war erfreut, als er feststellte, daß das Mädchen den Text und die Melodien kannte und daß sie sie in ungeschulter, natürlicher Weise ganz gut sang. Da er wußte, daß er seine Beschäftigung verlieren konnte, wenn dem Manager, M. François, kein vollkommener Erfolg dargeboten wurde, tat Serge sein Bestes, Sonya ihre Furcht auszureden.

Er sagte: "Ich werde neben dir stehen. Wir werden jedes Lied singen und spielen und dabei an die Worte und die Melodie und an die Weihnachtsbotschaft denken, "Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen." Dann wirst du nicht nervös sein."

Er nahm Sonya bei der Hand und führte sie die wenigen Stufen zur Bühne hinauf. Dort führte er sie vor das Orchester und stellte sie als eine Sondernummer vor - Sonya, eine neue junge Sängerin, - die eine Reihe Weihnachtslieder zum Besten geben wird.

Am anderen Ende des Raumes konnte er das dunkelfarbige Gesicht des Managers sehen, der überrascht und zornig dreinsah. Mit einem stillen Gebet um Erfolg begann er mit ein paar Takten und sagte: "Singe Kind, singe!"

Während Lied auf Lied folgte, wurde es in dem großen Speiseraum stille - nach und nach sangen dann die Russen die Lieder mit, deren sie sich aus ihrer Jugend gut erinnerten; die anderen, die den Text nicht sprechen konnten, kannten die Melodien zum großen Teil und summten sie mit. Und alle dirigierte der lange, magere, müde Violinspieler und die reizende, junge Sängerin in ihrem flitterhaften Staat. Da capo folgte auf da capo, bis die Nacht vorüber war und es Zeit wurde, zu schließen.

Serge führte Sonya die Stufen von der Bühne hinab in den dunklen Gang, wo er Monsieur François antraf.

"Serge, wo haben Sie sie entdeckt!" rief der Manager aus. "Wir müssen einen Vertrag abschließen. Sie werden sogleich mit ihr ins Büro kommen."

"Morgen, Monsieur," erwiderte Serge. "Jetzt müssen wir eine kranke Mutter aufsuchen und ihr 'recht fröhliche Weihnachten' wünschen."

 

Das übrige haben Sie natürlich erraten. Als Sonya und Serge die elende Lehmhütte in einem engen Durchgang oder Gäßchen in Schanghai erreichten, waren Serge und seine Frau wieder vereint. Sein langes Suchen hatte ein Ende, und eine kleine Familie erlebte schließlich den "Frieden, der alles Verständnis übersteigt."

Und das alles ereignete sich wirklich zur Weihnachtszeit vor genau dreißig Jahren. In diesem Jahr findet auf einer kleinen Farm in Vermont, U. S. A., ein Familientreffen statt, bei dem Sonyas Mann und ihre Kinder gemeinsam singen werden, während Serge die alte Violine spielt und die Lieder dirigiert, die an dem Ende des langen Suchens schuld waren.