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Der Hüter des offenen Tores

Wenn der Januar kommt, so spüren die meisten von uns ein Aufwallen des Geistes; man hat das Gefühl eines neuen Anfangs, einer neuen Gelegenheit nicht nur ein wenig mehr von unseren Hoffnungen und Träumen reifen zu lassen, sondern auch unseren alten Wandel zu verbessern und schöpferisch in die Zukunft vorwärts zu drängen. Hier liegen 365 unbeschriebene und unbefleckte Tage vor uns, auf deren Tafeln wir schreiben können, was wir wollen. Die Sonne ist jetzt auf unserer Seite, denn bereits zur Wintersonnenwende wandte sie sich nordwärts und versichert uns, daß der Winter wieder dem Frühling weichen muß.

Was ist an diesem ersten Monat im Jahr so Günstiges? Das Wörterbuch informiert uns: Januarius - "von Janus oder Janus betreffend." Doch wer war Janus? Selbst die Römer waren darüber verschiedener Meinung. Wir wissen natürlich, daß Janus eine alte römische Gottheit mit zwei Gesichtern war, wovon jedes in die entgegengesetzte Richtung schaute, und daß er der Gott des "Anfangs und des Ursprungs aller Dinge", sowie des Jahres und der Zeit war. Man glaubt, daß Romulus, der sagenhafte Gründer Roms, diesen doppelköpfigen Gott das erste Mal bei seinem Volke einführte, obgleich er bis zur Zeit des Numa nicht öffentlich verehrt wurde. An dem Ort, an dem, wie behauptet wird, wie durch ein Wunder durch das plötzliche Hervorbrechen einer kochenden Quelle die Sabiner vernichtet wurden, wurde zu Ehren Janus' ein Tempel errichtet. In Kriegszeiten wurden die Tore des Tempels in Bereitschaft offen gehalten, aber im Frieden waren sie geschlossen, und Janus erhielt die zwei Namen Patulcius (Öffner) und Clusius (Schließer). Da die Römer viele Kriege führten, war er viel mehr der Öffner. Während der ersten sieben Jahrhunderte nach der Gründung der Stadt waren die Tore nur dreimal geschlossen.

So kam es, daß Janus die Schutzgottheit aller Eröffnungen und Schließungen, Eingänge und Ausgänge wurde und daher auch der Gott der Pforte oder des Tores, welches sich nach beiden Richtungen öffnete. Das erklärt, warum der erste Monat des Jahres Januar genannt wurde.

bild_sunrise_61963_s213_1Die meisten Sachverständigen sagen, daß Janus von janua abgeleitet ist, das 'Tor' bedeutet, aber einige, und unter ihnen Sir James Frazer, behaupten das Gegenteil: daß Janus in seiner Tätigkeit als Öffner und Schließer dem unteren Tor seinen Namen geschenkt haben kann. Wie immer die Tatsachen sein mögen, janua bekam als Ausdruck die Bedeutung eines von dem zweiköpfigen Gott bewachten 'Tores' oder Portals, dessen schützende Bewachung sich auf alles vor und hinter ihm ausdehnte. Wir selbst stellen den Jahreswechsel symbolisch auch in einer zweifachen Form dar: Vater Zeit, ein alter weißbärtiger, ermüdeter und erschöpfter Mann, der in die Vergangenheit zurückblickt, und neben ihm steht ein heiter und mit Hoffnung erwartungsvoll in die Zukunft blickendes Kind oder ein Jüngling.

Janus scheint eine recht buntfarbige Geschichte gehabt, eine Anzahl Rollen gespielt und ebensoviele Namen angenommen zu haben. Als Vater seines Volkes wurde er praktisch in jeder Phase des Lebens ihr Beschützer: im religiösen Leben, in der Schiffahrt und im Handel, im Münzwesen und als Consivius (der Säer) wurde er ihr Gott des Ackerbaues. Aber über sein Vorleben wissen wir wenig, da er in der griechischen Mythologie kein Gegenstück hat. Die ersten bekannten Darstellungen eines zweiköpfigen Gottes werden auf etruskischen Medaillen gefunden, und man dachte, daß Janus ursprünglich vielleicht ein Himmelsgott und als solcher eine der "großen himmlischen Gottheiten" war, die den östlichen Teil des etruskischen "Himmelsgewölbes" regierte. Doch sei es wie es will, die alte Gottheit muß eine Reihe Verwandlungen erfahren haben, bis wir sie in Rom enge verknüpft mit Jupiter und Juno und auch mit Sol, der Sonne finden, wo sie zusammen mit Jupiter vor allen anderen Göttern angerufen wird.

In seiner Rolle als 'Türöffner' oder janitor mit der "Macht über den Eintritt in den Himmel", wird Janus Patulcius, in Übereinstimmung mit Ovid, mit einem Zepter oder Stab in der rechten und einem Schlüssel in der linken Hand dargestellt; später waren gelegentlich die Zahlen CCC (300) in den Fingern seiner rechten Hand und die übrigbleibende Anzahl Tage LXV (65) in der linken zu sehen. Da vieles von den christlichen Symbolen in den Mysterien-Religionen seine Wurzel hatte, die so ausgedehnt am Mittelmeerbecken und in seiner Umgebung blühten, ist es nicht verwunderlich, diesen alten heidnischen Gott in Petrus, den himmlischen 'Torhüter' umgewandelt zu finden, der die Schlüssel zum christlichen Himmel in Händen hält.

Uns interessiert jedoch augenblicklich nicht die vielseitige Natur von Janus, sondern vielmehr seine Eigenschaft als Initiator und Eröffner aller 'Anfänge' - was auch die 'Beendigung' einschloß, da seine Hüterschaft die ganze Zeit andauerte. Bevor etwas Wichtiges begonnen wurde, wurde Janus als Matutinus, der 'Gott des Morgens' angerufen. Von keinem Unternehmen, ob politisch, militärisch oder religiös konnte erwartet werden, daß es erfolgreich endete, wenn es nicht von ihm sanktioniert war. Deshalb standen alle Stadttore unter seinem wohltätigen Schutz; deshalb war sein Bild am Oberbalken der Türen angebracht; deshalb waren ihm Standbilder und Tempel geweiht. Wenn ein Unternehmen mißlang, glaubte man, daß der Fehler mehr 'in der Art und Weise seines Beginnens' lag, als in dem Projekt selbst.

Wenn wir den Historikern Glauben schenken dürfen, waren die Römer wahrscheinlich uns sehr ähnlich, weder mehr noch weniger spirituell als wir, und ohne Zweifel haben sie die Saat zu ihrem schließlichen Niedergang selbst auf dem Höhepunkt ihres politischen Glanzes gesät. Was ihr religiöses Leben betrifft, so waren ihre Götter anscheinend ziemlich in derselben Art nach ihrem Bilde gemacht, wie wir den christlichen Gott nach unserem Bilde geschaffen haben. Aber selbst in ihrem Verfall bewahrten die alten Latiner ihre Verehrung für die Natur. Sie erkannten sowohl ihre göttliche als auch ihre materielle Seite und sahen im menschlichen Wesen eine Reflexion von beiden. Wenn sie die Götter in den himmlischen Reichen personifizierten taten sie es, weil sie in der Sonne, in den Sternen und Planeten «lebende Wesen" sahen - einen so lebendigen Teil des Kosmos, wie wir ein Teil der Erde sind. Eine Versöhnung der Geister des Mondes und des Windes, des Regens und der Wolken mag uns kindisch erscheinen, aber das war ein Auswuchs ihres etruskischen Erbes und eine Praxis, die im allgemeinen das ganze Altertum ausübte. Die Zeit mag nicht sehr weit entfernt sein, in der wir in streng wissenschaftlicher Raumterminologie selbst gleichen 'Aberglaubens' schuldig werden!

Ihre älteren Nachbarn, die Griechen, haben, wie uns Plato übermittelt, immer "die Götter angerufen", ehe sie irgend etwas Größeres oder Geringeres unternahmen. Das taten sie selbst ehe sie daran gingen über philosophische Themen wie "die Natur des Universums" zu diskutieren. Ist das übrigens so unterschiedlich von dem, was wir in unseren Kirchen und Synagogen, unseren Tempeln und Moscheen tun? Oder fürwahr, wenn wir in der Stille unserer eigenen Seele das Höchste in uns um Stärke und Führung anrufen?

Der seligmachende Wert des Lebens liegt darin, daß, ganz gleich, was wir, Sie oder ich, über Gott oder die Götter denken, das Wirken des Göttlichen nicht gestört wird. Laßt uns deshalb nicht zu sehr über die alten Römer spotten, die zu sehr von ihren Göttern abhängig wurden. Wir können immer noch von ihnen lernen, denn viele ihrer Dichter, Senatoren und Philosophen waren im äußeren Hof der Mysterien, welche selbst zu jener späten Zeit noch an verschiedenen Zentren im ganzen römischen Reich in Tätigkeit waren, "eingeweiht" - was einen wahren "Anfang" in der Weisheit der Seele bedeutet. Diese Kollegien hatten den Glanz der Reinheit zum größten Teil verloren, aber es blieb genug von ihren heiligen Idealen übrig, um jenen als Ansporn und Führung zu dienen, die Belehrung suchten. Es wurde ihnen gelehrt, daß im Herzen eines jeden Menschen der "Atem" des Lebens oder Spiritus wohnt und wenn ein Mensch stirbt, seine Seele tatsächlich einige Zeit in einer "Unterwelt" der Reinigung verbringt, aber sein "Geist" oder göttlicher "Atem" sofort "zu den Sternen fliegt" - spiritus astra petit. So fest glaubten sie daran, daß viele von ihnen diese drei Worte als Grabesinschrift auf ihren Grabstein eingruben.

Warum erhoben sie dann eine doppelgesichtige Gottheit auf einen so hohen Platz in ihrem Pantheon und verließen sich in ihrem privaten wie öffentlichen Leben so sehr auf seinen Segen? Darüber wissen wir nichts Gewisses, aber eine teilweise Antwort mag in ihrer aufmerksamen Beobachtung der Zweipoligkeit in der Natur liegen, wie sie in dem rhythmischen Vorbild von Geburt und Tod, Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit und in ihren Mond- und Sonnenzyklen zu sehen ist. Denn Janus sprach zu ihnen von der Fortdauer des Lebens und des Bewußtseins, von der Unsterblichkeit und von dem Wunder der Selbsterneuerung.

Denn die Geburt trägt den Keim des Todes in sich, doch der Tod enthält in sich den Keim der Geburt.

Aus der fallenden Eichel entfaltet sich der Baum, der fallende Regen nährt das Laubwerk.

Der Farnstrauch vermodert, wenn die Farne sprießen, denn es gibt nichts Lebendes, wo nicht etwas stirbt, und nichts stirbt, wenn nicht etwas zum Leben ersteht.

Wir müssen heute unser eigener Janus, unser eigener Einleiter des Wachstums, unser eigener Säer und Schnitter sein. Wir überblicken das endende Jahr nicht mit Bedauern wegen der begangenen Irrtümer, sondern um seine Werte einzusammeln. Unsere Augen richten sich jetzt auf die Zukunft, auf das offene Tor des kommenden Jahres. Ist der Wille, die Vision und das Vertrauen darauf gerichtet, so wird es kein Unternehmen geben, ganz gleich wie schwierig es sein mag, auf dem nicht der Segen unseres Höheren Selbstes, unseres Öffners und Schließers ruht, unter dessen Obhut wir immer standen, jetzt stehen und während all der Äonen der Zukunft stehen werden.