Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

Geist in der Verbannung

Es wäre interessant zu wissen, wie viele von den Millionen Menschen, die heute leben, wirklich an eine bewußte Existenz außerhalb dieses Lebens auf Erden glauben. Wozu wir uns auch bekennen, wir handeln meist in Übereinstimmung mit dem vorherrschenden Glauben der Zeit, der besagt, daß dieses Leben alles ist. Es ist ein Fall von "jederzeit ist sich jeder selbst der Nächste." John Doe sagt: Mit dem Tod ist alles aus, warum soll man sich deshalb Sorgen machen? Wir glauben an das, was wir mit den Augen sehen, mit den Händen greifen und mit den Zehen stoßen können. Weshalb sollte man dann nicht nach allem greifen soviel man kann, solange man hier ist, da doch nach dem Tode alles aus ist.

Eine solche Lehre führt zu Kleinlichkeit, Fieberhaftigkeit, beständiger Launenhaftigkeit und unbeständigem Hasten. Es ist die Ansicht des sogenannten 'praktischen Menschen', der seinen Kindern lehrt, alle Zeit als verloren zu betrachten, die nicht mit verbissener Konzentration darauf verwendet wurde die Geschäfte voranzutreiben. Sobald wir der Kindheit entwachsen sind, sind wir alle mehr oder weniger von dieser Einstellung angesteckt; aber viele Menschen sind damit viel zufriedener - und zwar deshalb, weil sie vom materialistischen Schlafmittel mehr betäubt sind als jene, die, gestört durch flüchtige Lichtblicke ins Unendliche, sich unruhig in ihrem Schlaf wälzen.

Ich glaube, daß es wenige gibt, die nicht dann und wann oder irgendwie in kurzen Pausen, durch den unerwarteten Anblick von etwas Schönem aufgerüttelt werden. Das kann irgend etwas sein - die Sonne, der Mond, das Meer, ein Baum, eine Blume oder auch ein so mikroskopischer Organismus wie eine Stabalge. Die Schönheit der Natur ist beunruhigend, denn sie ist geheimnisvoll. Sie deutet auf Kräfte und Gesetze hin, die außerhalb des Gesichtskreises des 'wirklichen Menschen' liegen und erfüllt ihn augenblicklich mit Zweifel und Befürchtungen ob sein Glaube, daß die materielle Welt die einzige Wirklichkeit ist, richtig sei. Es rüttelt an seiner Seele, weil es mit dem Schönen, das verborgen und unbewußt in ihm wohnt, verwandt ist: Gleiches zieht Gleiches an, denn die göttliche Essenz, die manche Menschen den Gottesfunken nennen, während andere sie sich lieber als das absolute Schöne vorstellen, durchströmt ihn zusammen mit allem anderen. So lange ein Mensch sich in dieser Unruhe befindet, besteht Hoffnung auf Wachstum. Wenn nicht, steht er bestenfalls still. Der Geizhals hat keine Zeit, um die Lilien zu betrachten, was soviel bedeutet, daß er keine Zeit hat darüber nachzudenken, daß er möglicherweise eine Seele hat. Es ist dem oft verschmähten Dichter überlassen, jenem überwältigenden Gefühl von 'etwas Jenseitigem' Ausdruck zu geben, das, wie die meisten von uns wissen, von unserer eigenen göttlichen Natur kommt. Immer und immer wieder, als würde plötzlich eine Tür geöffnet, dringt eine Flut von Licht auf den ein, der unverdrossen, angestrengt durch das Schlüsselloch gesehen hatte. Unser Leben hier auf Erden, das durchaus nicht 'alles' ist, wird als eine Station auf der Pilgerfahrt des Menschen zur Vollkommenheit betrachtet. Wenn wir uns dies vergegenwärtigen, verschwinden die Grenzen, werden die Berge zu Maulwurfshügeln, weitet sich der Horizont ins Endlose. Wir fangen an einen Sinn für das Ebenmaß zu bekommen und sind in der Lage einzuhalten und nachzudenken, weil wir wissen, daß wenn die ganze Unendlichkeit uns gehört, wir fähig sind so zu handeln. Wir können die Spannung des Physischen lockern und die Fenster der Seele öffnen, damit frischere Luft hereindringen kann. Die Schwierigkeit liegt darin, uns daran zu erinnern wer wir sind. Wir sind als Bauern verkleidete Prinzen, Götter in Tierfellen, Pilger mit hoher Verantwortung beladen, auf die wir stolz sein sollten. Aber wir sind rundherum von materiellen Dingen umgeben, daß sie viel zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenken. Könnten wir uns aber jede Minute des Tages daran erinnern, daß wir Söhne der Sonne sind, die das Licht, das unser Erbteil ist, in sich bergen, so würden wir, obgleich der unerbittliche Strom von Ursache und Wirkung beschließen mag, daß wir unsere Zeit mit Maschinenölen oder Kartoffelschälen zubringen müssen, automatisch mit jener Würde und mit jenem gesunden Menschenverstand denken und handeln, die allein dem höheren Selbst in uns würdig sind.

Und wie läßt sich dies durchführen? Ich möchte sagen: dadurch, daß wir die Imagination lebendig erhalten, Engherzigkeit ablehnen und nicht vergessen, daß durch sieghafte Erweiterung der Vorstellung, die wir haben, wenn wir, wie die Kinder, das Unmögliche erhoffen und daran glauben, wir fähig wären, dort das Schöne zu sehen, wo die Älteren nichts gesehen haben. Ich denke hierbei an folgende Fähigkeiten: ein stetes Empfinden der Größe der Dinge; eine so umfassende Imagination, daß sie den zwischen uns und dem Unsichtbaren liegenden Abgrund überbrückt; eine unerschütterliche Überzeugung, daß das Leben letztlich schön und gut ist; und eine Erkenntnis, daß sich, obwohl diese Erde zeitweilig unsere Schule ist, die wahre Heimat des verbannten Geistes im Herzen des Unendlichen befindet.