Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

Individuelle Alchimie

Spirituelle Einsicht ist nicht der Grundton unserer Zivilisation. Den Belangen des physischen Lebens gegenüber sind wir hellwach, gegen jede Bedrohung persönlicher Interessen sind wir auf dem Posten, aber für die subtileren Kräfte hinter den Dingen sind wir, als Volk gesehen, fast immer blind. Der Intellekt ist heute so stark, so kühn und wagemutig geworden, daß er an die Grenzen der feineren Kräfte, die tatsächlich das Leben beherrschen, geführt hat; hier aber steht er verwundert, unfähig den Schleier zu durchdringen, unfähig das zu erklären, was der Mensch anderen Kräften zufolge deutlich wahrnimmt. So kommt es, daß die höhere und die niedere Psychologie als Faktoren im Leben nicht anerkannt werden, ausgenommen von einigen wenigen, und doch sind sie die wirklichen Faktoren. Sie sind die Kräfte, die wie ein verheerendes Feuer über ein Land fegen, oder der Anlaß sind, es in der Stille zu spirituellem Leben erblühen zu lassen.

Der Mensch hat auf diesem Planeten für Ordnung zu sorgen. Wer aber und was ist der Mensch? Ohne genügendes Wissen über die Bedeutung der höheren und niederen Richtungen, werden die besten Menschen irregeführt. Den Willen anzustrengen ohne reine Wünsche zu haben, bringt Unheil. Um diese Wahrheit völlig zu begreifen, muß die ganze Entwicklungsgeschichte studiert werden, aber praktisch gesehen ist alles so einfach, daß es ein Kind erfaßt und alle es als eine Tatsache anerkennen. Auf der einen Seite haben wir die niedere, unentwickelte, sinnliche Natur und auf der anderen die höhere, unterscheidende, spirituelle Natur. Zwischen den beiden steht das menschliche Ego, das sich durch die eine oder andere auswirkt und durch das die eine oder andere wirkt, was jeden Augenblick Strömungen schafft, die in das gemeinsame Reservoir des Weltdenkens fließen und alle, die darinnen leben, beeinflußt.

Niemand, wie groß oder klein er auch sei, kann sich dem psychologischen Stoß dieser zwei Kräfte entziehen. Mit ihnen muß jederzeit gerechnet werden, bei jeder wirklichen Arbeit für die Menschheit muß man um sie wissen, denn das gesamte menschliche Drama besteht nur aus der Wechselwirkung dieser beiden Elemente. Etwas anderes gibt es nicht. Die Geschichte der Welt ist die Geschichte der bewußten Handhabung dieser grundlegenden Kräfte, oder des unbewußten Beherrschtwerdens durch sie. Sie bilden die Themen der Romanschreiber; der inspirierte Dichter sieht ihr Wirken im Leben der Menschen und beschreibt den titanischen Kampf. Die Nationen werden von ihnen geformt. Starke Charaktere schreiten in kritischen Momenten vorwärts, indem sie unter der Magie des Willens die eine oder andere Kraft beleben, entweder um Verwüstung anzurichten oder irgendein hohes Geschick zur Reife zu bringen. Grausamkeit und Gerechtigkeit, Freude und Schmerz, Ehre und Schande, Liebe und Haß bilden nur den Schaum an der Oberfläche beim Aufeinanderprallen dieser zwei Kräfte. Sie zu verstehen, ihren Ursprung zu entdecken, zu lernen, wie sie entwickelt und beherrscht werden, das ist die erste Notwendigkeit in der Arbeit für die Welt.

Ihre Geschichte ist in der Geheimlehre der Zeitalter aufgezeichnet. Solange die Menschheit auf diesem Planeten inkarniert ist, zirkulierten diese Strömungen, sie gewannen mit jedem Zyklus an Umfang - aber der Mensch ist größer als sie. Während sie alle niedrigen und üblen Eingebungen enthalten, die die Egos belebt und in ihren Strom geworfen haben, tragen sie auch die Inspiration und die wohltätige Triebkraft jener mit sich, die ihre Mitmenschen lieben. Um sie bemeistern zu können, muß der Mensch in sich selbst tatsächlich das Wissen finden, daß er eine Seele ist. Nur von dieser Perspektive aus kann die Evolution folgerichtig gesehen werden, nicht als getrennte Schauspiele von gestern und von heute, sondern als eine lebendige Kette von Ursache und Wirkung. Die Wurzeln der heutigen Erfahrungen mögen vielleicht tausende von Jahren zurückreichen, denn die Ereignisse wachsen wie die Bäume nicht über Nacht zu gewaltigem Ausmaß an. Wenn auch die Ereignisse an der Oberfläche chaotisch und ohne Verbindung miteinander erscheinen mögen, so herrscht in der Welt der Ursachen doch absolute Gerechtigkeit, Ordnung und Ausgeglichenheit. So wie das menschliche Herz der Gestalter der Geschichte des Einzelmenschen ist, so sind die menschlichen Herzen insgesamt die Schöpfer der Weltgeschichte. Die Saat aller Handlungen wird dort herangebildet und wächst da. Und der Pflanzer dieser Saat ist der Mensch selbst. Er ist der Schöpfer seines Schicksals.

Das innere Motiv für das Leben eines Menschen ist der Magnet, der entweder die schöpferischen oder die zerstörenden Energien zu ihm hinzieht; und diese Kräfte werden wie die uns umgebende Luft beständig aufgesaugt, verändert und mit neuer Kraft hinausgesandt. Wie der Riese in der alten Geschichte jedesmal seine Kraft erneuerte und vermehrte wenn er die Mutter Erde berührte, so werden diese Strömungen neu belebt, wenn sie in die Herzen der Menschen eintreten. Ihre Kraft wird an diesem lebendigen Berührungspunkt vertausendfacht: Wenn sie wohltätiger Natur sind, bringen sie etwas noch Köstlicheres mit sich; sie sind mit spiritueller Energie geladen wenn sie ausfließen. Sind sie von übler Natur, dann können sie mit grausamerer List, und mit durchdringenderen Neigungen zum Vorschein kommen. So ist der Verjüngungsprozeß, der sie ungeheuerlich auf die eine oder andere Weise wiedergibt. Sie treten in die Seele ein und wenn sie in dem Destillierkolben des Herzens destilliert sind, können sie zu einer unvorstellbaren Seligkeit führen, anstatt zu einer Hölle auf Erden. Das kann so sein, wenn ein leidenschaftliches, selbstisches Verlangen, als solches erkannt und bewußt durch eine edle Aspiration ersetzt wird. So sieht die Verwandlung aus, die in einem ungeheuren Ausmaße stattfinden könnte, wenn wir die Gedankenatmosphäre unseres Globus reinigen würden.

Aber die heute bestehende Psychologie ist selten von höherer Qualität. Das kann man überall feststellen. Wenn auch krasse Selbstsucht eine Zeit lang nicht erkannt werden mag, weil sie gut getarnt ist, so bildet sie doch oftmals sowohl in den individuellen Angelegenheiten als auch in denen der Welt den vorherrschenden Grundton. Hinter jedem Plan oder Unternehmen mag Motiv hinter Motiv stehen, mit wenigen Ausnahmen ist das entscheidende Motiv jedoch immer nur das, ob es mir, meiner Familie, meiner Stadt, meinem Lande nützt oder nicht. Daher legt sich trotz heroischer Anstrengungen für die Vereinigung, die erdrückende Idee des Getrenntseins wie ein dunkler Mantel über die Nationen.

Wenn wir eine glückliche, gesunde Erde sehen und auf ihr leben möchten, muß jeder einzelne mit der notwendigen Reinigung seiner eigenen inneren Natur beginnen, genauso wie es mit der physischen Atmosphäre in Panama geschah, ehe der Kanal gebaut wurde. Dort enthüllte das Mikroskop die Ursache der Infektion, die bisher nur in ihren Wirkungen bekannt waren, bis sie jene wunderbare Vergrößerung dem menschlichen Auge sichtbar machte. Um die feineren aber trotzdem wirklichen und starken Gifte wahrzunehmen, in denen die Menschheit buchstäblich gebadet ist, muß die innere Sehkraft erweitert werden. Das Auge der Seele muß geöffnet werden.

Wir müssen uns selbst zu Transformationszentren machen, müssen unseren Charakter Tag für Tag so polarisieren, daß er die höheren Strömungen immer mehr anzieht. Wenn die dichten Schleier der Selbstsucht über uns schweben, so wie sie wollen, müssen wir, wenn wir uns nicht über sie erheben können, lernen, uns wie bei einem Sandsturm in der Wüste flach hinzulegen, bis der Sturm vorüber ist. Wenn wir Zorn, Neid oder irgendeine niedere Begierde oder Leidenschaft aufkommen fühlen, müssen wir lernen, uns ihrer entschlossen zu bemächtigen, ihr Trotz zu bieten, ehe sie in uns Fuß gefaßt hat, und sie umgewandelt wieder fort zu schicken. Wir müssen im wahrsten Sinne Alchimisten werden. Jeder Plan muß folglich, ehe er unser Siegel der Billigung erhält, die Prüfung bestehen, ob er auf die Harmonie der menschlichen Rasse abgestimmt ist. Wer anders als wir sollte das tun? Mögen jene, die zweifeln, es einmal bei sich selbst versuchen.