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Die lebendige Wahrheit

Als der Meister von Galiläa sagte, "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben", verlieh er der lebendigen Wahrheit Ausdruck. Sein tägliches Leben bewies seine Philosophie in der Praxis. Wie alle großen Lehrer zeigte er durch sich selbst wie die Worte seiner Lehren gemeint waren.

Selbst die beste Beweisführung einer Idee kann nicht besser ausgedrückt werden als durch das Leben eines Menschen. Daher die überzeugende Macht des Beispiels. Der Protest, daß etwas nicht getan werden kann, wird sofort hinfällig, wenn jemand da ist, der es tut. Das Beispiel ist eine praktische Kraft, die mächtiger als Beredsamkeit und Logik ist. Wir können uns kaum vorstellen, wie sehr der beständige Einfluß dessen, was wir sind, den Einfluß von dem, was wir sagen und tun, überwiegt.

Viele ernste Gemüter beschäftigen sich gerade mit dem Verlust jener Verehrung und jenes frommen Geistes, die frühere Generationen auszeichneten, die an begrenzteren Glaubensbekenntnissen und geringerer Freiheit des Denkens festhielten, als wir sie jetzt haben. Nicht daß uns am religiösen Rüstzeug etwas fehlte. Die organisierte Religion verfügt über die Hilfsmittel des Geldes, der Architektur, der Wissenschaft, der Kunst und der Erfahrung - wirklich über alles für die vollkommene Umrahmung auf der Bühne der Frömmigkeit. Doch so wie das Spiel dargeboten wird, vermag es die ruhelose, suchende Menge nicht zu fesseln, die vergebens das Suchen nach der befriedigenden Wirklichkeit wagt. Ist das Spiel heute nicht aktuell? Oder strahlen die Mitwirkenden auf den Kanzeln und in den Kirchenstühlen zu wenig von jener unfassbaren rituellen Atmosphäre aus, die den Suchenden zu den inneren Wahrheiten hinzieht?

Obgleich es nichts Neues unter der Sonne gibt, bringt doch jeder Sonnenaufgang einen neuen Tag. Das Heute wird durch die Erfahrungen von gestern jedesmal reicher geboren und ist deshalb wichtiger und bedeutungsvoller für die Zukunft. Ebenso gibt es kein neues philosophisches Denken, das, wenn stichhaltig, nicht auf den Zeitalter alten Prinzipien basierte, das von den göttlichen Unterweisern der jugendlichen Menschheit enthüllt wurde. Aber die alte Wahrheit, die in den Gemütern und Herzen von Heiligen und Weisen, auf Palmblättern und in gedruckten Büchern immer auf Erden verblieb, dämmert von neuem für jede Seele, die sich ihres Lichtes bewußt wird.

Emersons ausgezeichnete Arbeiten bestanden ursprünglich nur darin, alte orientalische Philosophie in unserer Sprache zum Ausdruck zu bringen. Er übersetzte die Lehren der Bhagavad-Gîtâ in die vertraute Sprache des westlich freisinnigen Denkens und enthüllte jenen, die sich von begrenzten Glaubensbekenntnissen loslösten, einen ausgedehnteren und lichteren Horizont. Und auf literarischem Gebiet säte er Samen der Herzenslehre.

Viele werden spüren, daß ihr Einfluß verglichen mit dem des Weisen von Concord gleich Null ist; sie sind ihm nicht gleich. Doch das stimmt nicht, denn bei dem menschlichen demokratischen Streben haben alle die gleiche Möglichkeit, sich vor dem Gesetz zu bewähren. Für Emerson mag es leichter und angenehmer gewesen sein in Frieden zu leben und seine befreienden Botschaften in Worte zu kleiden, als für die unbekannten Scharen, die sich durch Leiden, Unwissenheit, niedrige Versuchung und Verzweiflung langsam vorwärts tasten mußten. Doch es gibt innere Gewinne, bei denen "das Rennen nicht von den Schnellen und die Schlacht nicht von den Starken gewonnen wird." Äußerlich gesehen mag ein Mensch fast immer von Mißgeschick verfolgt erscheinen, oder es kann sogar den Anschein haben, daß er, davon überwältigt, lebt und stirbt, aber was die Selbstbesiegung anbetrifft, kann er einen Punkt erreicht haben, der die zähen Bemühungen vieler früherer Leben krönt. Er kann seinen spirituellen Willen auf herrliche Weise betätigt haben, indem er einfach strikt seine Pflicht tat. Vielleicht sind manche duldsamen, bescheidenen Naturen innerlich umso reicher, weil ihre Verhältnisse keine äußeren Verlockungen enthalten, die sie von der Wirklichkeit des wahren Seins ablenken.

Die äußeren Umstände sind deshalb kein Maßstab für den inneren Fortschritt eines Menschen. Was zählt und andere beeinflußt ist die Qualität des einzelnen Lebens, sie schlägt einen beständigen Grundton des Mutes und der Willenskraft an, den andere spüren werden: die Hilfe durch das Bewußtsein, daß in uns allen eine Macht existiert, die sich weigert zu kapitulieren. So wie das Beispiel eines einzigen Soldaten einen losen Haufen wieder in eine disziplinierte Truppe umwandeln kann, so können im Kampf des Lebens die ununterbrochenen Anstrengungen einer heroischen Seele andere dazu begeistern, Siege der Selbstbemeisterung zu gewinnen.

"Nichts ist groß, nichts ist klein im göttlichen Haushalt." Anscheinend unbedeutende Ereignisse können für das Reifen der Seele so wichtig sein, wie Situationen und Ereignisse, denen die Welt ihre ganze Aufmerksamkeit zuwendet. Deshalb kann in dem Großen Abenteuer des menschlichen Fortschritts jeder Mensch ein Wunderwerk der lebendigen Wahrheit werden, das individuelle Gewinne zu einem Segen für alle macht.