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Die Gelegenheiten des Lebens

Die Gelegenheiten des Lebens aufzuzählen wäre ungefähr dasselbe, als schriebe man ein musikalisches Potpourri - es gäbe eine endlose Reihe, in der jeder Mensch ein Komponist und jeder Wechsel der Umstände eine neue Komposition wären. Die Schwierigkeit dabei läge nicht im zu wenig, sondern im zu viel, denn die Augenblicke des Lebens sind dicht gedrängt davon. Manchmal sind unsere Erfahrungen jedoch so riesengroß, daß sie für viele von uns, die ihnen nicht gewachsen sind, gleich Null sind. Dann meint man, sie seien nicht vorhanden, doch in Wirklichkeit ist es die scheinbar unmögliche Übermacht, die solch herrliche Bedingungen zum Wachstum schafft - wenn wir den Mut haben, sie zu nützen. Der Dichter Milton, z. B., der in unruhigen Zeiten lebte, verlor schon in jungen Jahren das Augenlicht, erduldete häusliche Spannungen, die bei vielen den Idealismus zunichte gemacht hätten. Äußerlich umgaben ihn politische Gefahren und Enttäuschungen; doch trotz dieses dunklen Hintergrundes schuf er ein Meisterstück. Es ist wahr, daß die Gelegenheiten des Lebens dem Menschen angepaßt sein müssen: der Kleine kann nicht die Höhen des turmhohen Riesen erreichen. Und dennoch sind die Gelegenheiten in so reicher Zahl vorhanden, daß, ganz gleich welche Rolle sie im Leben spielen, alle bis zum äußersten genützt werden können. Ihre Anwesenheit ist unvermeidbar.

Trotzdem scheint der Hauptfehler der meisten, den Reichtum des Lebens nicht zu erkennen, Unwissenheit hinsichtlich der im Menschen liegenden Möglichkeiten zu sein, so wie Menschen, die ihr Ziel verloren haben, nicht imstande sind die verschiedenen Möglichkeiten zu erkennen, es zu erreichen. Die allgemein verbreitete Theorie, z. B., daß es nur ein Leben gibt, trägt dazu bei das Gemüt zu hemmen und die Aufmerksamkeit auf die Art Erfolg zu konzentrieren, die im Verlauf einiger Jahrzehnte zu Blüte kommen kann. Der größere Weitblick und der Versuch die im Menschen schlummernden Kräfte mehr zu entschleiern, was aus der Kenntnis über die Unsterblichkeit der Seele kommt, erleuchten die Augenblicke und die Gebiete der Tätigkeit und zeigen goldene Möglichkeiten, die beides, Raum und Zeit überfluten.

In unseren groben, unentwickelten Naturen gibt es soviel zu beleben, ein starker Entschluß und eiserner Wille müssen erweckt, gewaltige Sympathien, Konzentration des Gemütes, klare Einsicht und Selbstbeherrschung müssen entwickelt werden, bevor wir in der Lage sein werden, ernstlich den wahren Pfad des Lebens mit offenen Augen und in voller Erkenntnis über die Bedeutung der Reise zu betreten. Hätten wir das immer vor Augen, dann würden alle Ereignisse, ob angenehm oder nicht, jede Pflicht, ob schwierig oder leicht, eine neue Anziehungskraft bekommen. Das Leben ist tatsächlich eine wunderbare Schule, in der alle Lektionen mit vollständiger Exaktheit den täglichen Notwendigkeiten angepaßt sind. Sie passen sich sozusagen selbst automatisch an. Wir säen und ernten, bauen nicht nur unseren Körper und unsere mentale Ausrüstung auf, sondern auch unsere äußere Umgebung. Dieser Vorgang ist unvermeidlich. Wir handeln und denken, um gewisse Resultate zu erzielen, die dann unsere Lehrer und unsere Lektionen werden; und ob angenehm oder unangenehm, all diese Resultate bringen ihre eigenen Schwierigkeiten und Versuchungen mit sich, denen widerstanden oder nachgegeben wird, so wie der Mensch eben will. Bezeichnenderweise ist es sehr oft gerade das Angenehme, das jemanden umwirft.

Die Wirkungen der durch unsere Gedanken und Taten gesäten Saat sind jedoch nicht immer sogleich sichtbar. Es kann sein, daß der Boden für ihr unmittelbares Keimen nicht günstig ist, oder daß der Tod ihr volles Wachstum verhindert, ehe sie reif wurden. Unsere gegenwärtige Inkarnation könnte zum Beispiel größten Teils mit dem Reifen früherer Saaten ausgefüllt sein, und die Ursachen irgendeines Lebens halten ihre besonderen Wirkungen noch um einige Leben zurück. Wenn dann die Neigungen und Schwächen in unserem Charakter, von denen diese Resultate abhängen, inzwischen überwunden wurden, werden die Schwierigkeiten schnell und leicht überwunden. Wenn aber andererseits solchen Mängeln erlaubt wurde zu wachsen, dann werden die Hindernisse unüberwindlich erscheinen und der Leidende mag sein Schicksal verfluchen. Unter solchen Umständen kann sich derjenige, der versucht anderen zu helfen, nur bemühen, einen größeren Weitblick zu zeigen, indem er Vertrauen in die innere Stärke des 'Opfers' der Ereignisse aufrüttelt und so Mut und sogar Dankbarkeit für die gebotene Gelegenheit erweckt. Leider geschieht aus Mangel an Verständnis und überflüssiger Sentimentalität unglücklicherweise oft das Gegenteil. Es wird in die göttlichen Methoden der Natur eingegriffen; die erlösenden Schwierigkeiten, die sie geschaffen hat, werden abgeschwächt und künstlich beseitigt. Durch unsere Annahme, daß sie ihre Sache nicht versteht und durch Aufstellen falscher Maßstäbe und Ideale an Stelle des Wahren wird sie mißachtet. Die Stärke wird untergraben und die Erzeugung zerstört. Auf welchem Feld wir auch immer säen, die Früchte unserer Gedanken und Taten werden die für uns selbst höchst wirksame Belehrung sein und werden möglicherweise die höheren Energien der Seele herausfordern.

Wir dürfen jedoch nicht glauben, daß eventuell damit eine Entschuldigung für selbstsüchtige Gleichgültigkeit dem Schicksal anderer gegenüber gerechtfertigt ist. Niemand kann sagen "Ich bin nicht meines Bruders Hüter. Das Leben selbst wird das regeln." Denn jeder ist ein Teil des Universums und da er das ist, muß er mit seinen Gesetzen und nicht dagegen arbeiten, wenn nicht eine noch größere Lawine des Leides über ihn kommen soll. Überdies ist es nicht das Leid, das man fürchten soll, sondern das dichter werden der Schleier zwischen der Seele und dem innersten Zentrum. Das Leben ist erfinderisch und zieht ausserordentlich feine Linien, und Ausgeglichenheit - wahre spirituelle Ausgeglichenheit - bedeutet mehr, als es anfänglich scheint.

Die Natur mag verschwenderisch sein, aber sie ist nicht übermäßig, und alle ihre Hilfsmittel, um den Menschen aus seiner Schale herauszuziehen, sind notwendig. Es genügt nicht hier und dort flüchtig einzutauchen. Die irdischen Möglichkeiten müssen bis zum äußersten ausgenützt werden. Jede Lektion muß vorwärts und rückwärts gelernt, jede Ansicht muß von jedem anderen Gesichtspunkt aus studiert werden, bis Irrtümer praktisch unmöglich und Einsicht, Begreifen und Unterscheidung vervollkommnet werden, so daß der Mensch schließlich unter vollständiger Bemeisterung jeder vorstellbaren Bedingung aus dieser umfassenden Schule aufsteigen kann.

Mit einem solchen Ideal vor Augen ist leicht einzusehen, daß kein Augenblick ohne Gelegenheit ist. Die Pflichten eines Menschen mögen bescheiden sein. Wenn er dann die Zeit nicht mit geheimem Sehnen nach einer wichtigen Stellung verschwendet, kann er in diesem Falle Demut lernen. Wenn sich nicht uns zusagende Aufgaben in unser Leben zu drängen scheinen, gehen unsere besseren Energien oft in einem chronischen Jammern verloren. Dabei bieten sie eine herrliche Gelegenheit zur Entwicklung von Selbstbeherrschung, von Pflichtgefühl und der hohen Eigenschaft, über oberflächliche Reibungen hinauszuwachsen. Wenn man strenger oder sogar ungerechter Kritik begegnet, wird eine Gelegenheit geboten, den aufsteigenden Ärger aufzuhalten und ihn zu zerstreuen. Möglicherweise bietet sich die Gelegenheit zu einer gütigen Handlung, aber gerade im verhängnisvollen Augenblick drängt sich ein selbstsüchtiger Gedanke auf und verhindert die Handlung und hat an Stelle von Freude Bedauern zur Folge.

Oder man kann sich in einer Lage befinden, die keinerlei Aussichten zu bieten scheint, in der es keine ersichtlichen Verpflichtungen, keinen Ansporn zur Arbeit gibt. Man ist versucht seine Nutzlosigkeit zu beklagen und zu verzweifeln. Dann ist es Zeit, sich auf das innere Bollwerk zu stützen und Glauben an sich selbst zu gewinnen. Selbstvertrauen ist leicht, solange wir auf dem Kamm der Woge reiten. Es begleitet den Erfolg, wird dabei aber nicht als eine beständige Kraft der Seele gewonnen. Der Widerstand ist es, der unsere Stärke hervorbringt. Moralische Eigenschaften müssen, wie die Muskeln des Körpers, eine Gegenkraft haben, um zu wachsen. Selbst das Gefühl der physischen oder mentalen Trägheit ist ein Teil des Prüfungssystems der Natur - denn, wenn ihr nachgegeben wird, bedeutet sie den Tod jeden Talentes.

Das Leben ist tatsächlich ein großes Schauspiel, dessen bewegliche Bilder für unsere innere Entwicklung geschaffen sind. Sie dienen ihrem Zweck und werden dann aufgelöst. Jene, die über ihre Beständigkeit getäuscht sind, heften ihren Blick auf die unbeständigen Formen. Wenn dann Karma, der große Kulissenschieber, die Formen zerbricht, zerbricht damit ihr Herz. Auch das ist ein Teil der Schulung durch das Leben, denn äußere Siege tragen die Möglichkeit für die Niederlage auf inneren Ebenen und für größere Erfolge in sich. Unglücklicherweise scheinen wir fast alle nach diesen äußeren Erfolgen zu streben, deren unmittelbare glänzende Ergebnisse uns täuschen. Was zuletzt übrig bleibt ist nur die in sie hineingelegte treibende Kraft, sei diese nun gut oder böse. Es ist nicht notwendig, den flüchtigen Wert der materiellen Gaben des Glückes zu erwähnen, denn jeder weiß, daß die Elemente sie in einem Augenblick auslöschen können. Aber über die Tendenzen des Charakters hat selbst der Tod keine Macht. Sie werden sich im nächsten Leben wieder geltend machen. Und jemand, der Ruhm oder Macht um ihrer selbst willen anbetet, wird darin fortfahren, bis er seine Torheit einsieht, oder er fährt darin fort bis an das bittere Ende, und erkennt zuletzt die Hohlheit seines Tuns.

Das Universum ist auf einer spirituellen Grundlage gegründet und nicht dem Gegenteil, und jemand, der versucht, irgend etwas aufzubauen und dabei die einzig mögliche feste Grundlage ignoriert, kann versichert sein, daß er etwas errichtet, das zu nichts zerfällt. Was liegt schon daran, wenn eine ganze Inkarnation oder möglicherweise mehrere ruhmlos zu sein scheinen, wenn sie uns einige so einfache und grundlegende Tugenden wie Geduld, Ausdauer, Mitgefühl und Duldsamkeit lehren; und wenn sie uns hauptsächlich lehren, daß es kein rechtes Denken oder Tun geben kann, wenn diese nur auf das Selbst ausgerichtet sind? Denn gerade die Konzentration auf sich selbst deutet einen Glauben an seine überragende Wichtigkeit vor der übrigen Menschheit im Gemüt des Denkers an - etwas recht Verhängnisvolles. Es wirft ihn sofort aus dem Gleichgewicht und aus dem Verhältnis zu den bestehenden Tatsachen. Es zeigt eine Störung an, die es ihm unmöglich macht, in irgendeiner Hinsicht eine wahre Vision zu haben, denn unbewußt für ihn, wird sich auf geheimnisvolle Weise während jeder Überlegung schnell ein Gedanke einschleichen und einen Vorteil für das Selbst beanspruchen, wird jede Schlußfolgerung färben, jede Entscheidung fälschen. Gewiß ist, daß das Begreifen der Wahrheit vom Grad der Unpersönlichkeit abhängt.

Wir sind an unsere früheren Selbste gebunden, denn wir wurden in die Wasser der Ewigkeit getaucht. Die ganze Vergangenheit ist in der Gegenwart eingeschlossen; doch der größte Teil davon liegt begraben und festgebunden, bis das richtige Lösungsmittel das Siegel löst und die verborgenen Schätze enthüllt. Niemand kann die Bedeutung noch die Kraft der geringfügigsten Handlung abschätzen: wir sind wunderbar gestaltet, in zu reichem Maße ausgestattet, sind für diese kleinen Gehirne zu tief ins Leben eingedrungen, die nun glauben, die sich windenden Pfade, die alle gewandert sind, und die zahlreichen unvollendeten Arbeiten, die wir oft gezwungen waren unvollendet zu lassen, wenn die Nacht zu bald kam, erraten zu können.

So könnten sich gerade die für gewöhnlich unbeachtet gelassenen und gering geschätzten Gelegenheiten, wenn gewürdigt und erfaßt, oft als die reichhaltigsten erweisen. Eine Realisierung dessen bringt Zufriedenheit mit seinem Los; bringt Würze in ein scheinbar farbloses Leben; es bringt inneren Frieden. Mit einer unendlichen Vergangenheit hinter uns, und einer Gegenwart und Vergangenheit so verwickelt und verschlungen miteinander verbunden, wer kann da sicher sein, ob nicht ein anscheinend unbedeutender Sieg irgendwelche verwickelte Knoten lösen kann, die in der trüben Ferne vergangener Jahre geknüpft wurden? Die Augen mögen auf das vor uns liegende gerichtet sein, aber fest auf den weiten Horizont geheftet, zeigt sich eine gänzlich neue Art von Formen, beide aber sind Teile derselben Szene. Und wenn die Kamera des Schicksals die Außenseite unseres Lebens zeigt, so können überraschend interessante Bilder dadurch enthüllt werden. Die Pflicht, die so reizlos erscheint, kann dem letzten Zug in einem Geduldspiel gleichkommen, dem Bruchstück, das die Reihenfolge unerfüllter Verpflichtungen in Ordnung bringt.

Wer kann es sagen? Solche Annahmen sind keine auf ein luftiges Nichts gegründete Phantasien. Sie sind Möglichkeiten, die jeden Augenblick Wirklichkeit werden können - manchmal sind sie Wirklichkeiten, denn sie sind auf der Grundlage unseres unvergänglichen Ursprungs aufgebaut.