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Die Sense der Zeit

In Freud und Leid, in Krieg und Frieden, im Leben und im Tode ist eines immer bei uns: die ZEIT, der große Schnitter, ohne den das Leben nicht zur Ernte gebracht werden könnte, mit dem aber der Mensch bisher nicht gelernt hat glücklich oder weise zu leben. In ihren begrenzten Aspekten ist die Zeit der Pulsschlag des Lebens; sie wurde bei den Griechen als Kronos, einem alten Manne, der eine Sense oder Sichel trägt, personifiziert.

Im Grunde ist die Zeit endlose Dauer ohne Anfang und ohne Ende. Aber weil sie per se weit außerhalb unseres Bereiches menschlicher Empfindung liegt, machen wir häufig den Fehler zu glauben, daß sie von uns getrennt und eine Abstraktion sei, die man getrost den weit gelehrteren Gemütern der Philosophen und Wissenschaftler überlassen könne. Doch wenn wir auch nur die kleine Zeitspanne ins Auge fassen, die unsere Leben beeinflußt, bemerken wir, daß sie nicht allein ein wesentliches Element all unserer Handlungen ist, sondern daß sie in gewissem Sinne sogar von uns selbst erzeugt wurde.

Die wachsende Kraftwirkung dieses Raumzeitalters, das durch immer größere und bessere Raketen und Satelliten charakterisiert ist und Ruhelosigkeit des Gemütes und des Geistes im Gefolge hat, ist keineswegs unkontrollierbar und bedarf der Führung. Denn je größer die Geschwindigkeit ist, desto mehr sind mit Handlung geladene Erschütterungen erforderlich, um das zunehmende Gefühl der Unsicherheit zu ersticken. Während wir die Aufgabe, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, auf morgen oder übermorgen verschieben, schneidet die Sense der Zeit ihr Korn und die Stunden, Tage und Jahre gehen unbarmherzig und unaufhörlich dahin, um niemals wieder auf gleiche Weise in Erscheinung zu treten. Wenn auch die Zeiten kommen und gehen, so verbleiben doch die grundlegenden Prinzipien des Lebens. Mitten unter dem äußeren Chaos setzt die Kosmische Uhr in Übereinstimmung mit einem göttlichen und zeitlosen Meisterplan ihren festen majestätischen Pulsschlag fort.

Pflanzen und Tiere folgen instinktiv den Zeitläufen der Natur und strahlen die Wunder, die hinter dieser materiellen Welt liegen, zurück, wie sie im Zauber der wechselnden Jahreszeiten, in der Verwandlung der Raupe in einen Schmetterling und in der Wanderung der Zugvögel zu beobachten sind. Doch der Mensch, der Herrscher auf dieser Erde, lebt nicht nur instinktiv. Er ist als selbstbewußtes Wesen über den Verlauf der Zeit unterrichtet, und es steht ihm frei sie so zu benützen, wie er will - er kann schöpferisch tätig sein oder zerstören. Eben jetzt sind diese beiden Kräfte im Gleichgewicht. Auf der einen Seite der kosmischen Waage hat die Wissenschaft die Verkettung des Menschen mit dem grenzenlosen Universum bewiesen, auf der anderen Seite hat die Atomspaltung eine Kraft frei gemacht, die Millionen menschlicher Wesen in einem Augenblick vernichten - oder in unermesslichem Maße zur Wohlfahrt der Menschheit beitragen kann. Und jetzt, seit sich der Kampf um die Vorherrschaft über die Erde hinaus in den Welt-Raum erstreckt hat, mögen wir sehr wohl einiges Nachdenken und Bemühen aufbringen, um eine solidere spirituelle Struktur aufzubauen, von der aus wir unsere Raumabenteuer in Gang setzen können. Diese zeit- und arbeitsparenden Erfindungen sind weder Abkürzungswege für Charakterbildung noch für gesundes Wachstum in moralischer und spiritueller Hinsicht. Diese Eigenschaften kommen so allmählich und unmerklich wie die Dämmerung.

Kein Mensch ist frei von den heute bestehenden Spannungen, wenn auch Nationalcharakter, Temperament und vermehrte Verantwortlichkeit des Einzelnen in den Drangsalen des Lebens beträchtliche Unterschiede hervorrufen. Die Zeitspanne, die uns zur Verfügung steht, ist ebenfalls ein veränderlicher Faktor, der von den Lebensumständen abhängt. Aber wie wir mit der Zeit, die wir haben, umgehen - wie wir denken, fühlen und den Verantwortlichkeiten begegnen, hängt von uns selbst ab. Unsere äußeren Handlungen werden notwendigerweise durch die Uhr reguliert, was bedeutet, daß wir uns von ihr beherrschen lassen oder unser Leben in Knechtschaft dem Gott Kronos oder dem allmächtigen Vater Zeit verbringen müssen! Entspringt nicht unsere Unruhe teilweise der Tatsache, daß wir bis zu einem gewissen Grad Sklaven der Zeit und unseres niederen, illusorischen Selbstes sind? Bei unserem täglichen Wettrennen gewinnen und verbrauchen wir Zeit, verlieren und finden Zeit, töten und verschwenden Zeit, aber unser chronisches Leiden ist, daß wir überhaupt keine Zeit haben! Im Spiel um die Zeit begehen wir einen Fehler, weil wir versuchen sie zu überholen oder - wie es meistens der Fall ist - sie zu mißbrauchen; aber sie könnte eher unser Verbündeter als unser Feind werden, wenn wir nur unsern Anteil hinnehmen würden ohne sie zu bekämpfen. Vielleicht hatte der Hutmacher in einer Teestunde bei Alice im Wunderland einen lichten Augenblick als er sagte: "Hättest du die Zeit so gut gekannt, wie ich sie kenne, würdest du nicht über ihre Verschwendung sprechen, denn sie gehört ihm... Ja, wenn du dich nur gut mit ihm gestanden hättest, dann würde er alles, was die Urzeit anbelangt, für dich getan haben."

Das Zusammenwirken mit der Zeit erfordert Ausgeglichenheit und Vorbereitung äußerer Tätigkeiten, um unüberlegte Überstürzung zu vermeiden. Aber weit wichtiger als das ist, daß man lernt, das innere Zeitmaß des Menschen zu erkennen und zu pflegen, das, da es mit der kosmischen Zeit verbunden ist, jenseits von Wechsel und Wettstreit liegt und auf seiner eigenen Ebene so fest, still und treu verbleibt wie eine von äußeren Stürmen unberührte tickende Wanduhr. Wenn die innere Einstellung zum Leben die rechte ist, wird das äußere Leben ein besseres Ebenmaß annehmen. Ebenso wie ein stiller Teich die Landschaft naturgetreu widerspiegelt, kann ein ruhiges Gemüt die Wirklichkeit ausstrahlen. Wahrscheinlich ist es so, daß wir die Unermeßlichkeit der Zeit desto deutlicher empfinden je mehr wir das Wirkliche vom Scheinbaren in uns unterscheiden können, und daß wir im gleichen Maße auch ihren universalen Aspekten erlauben werden die Illusionen abzustreifen, um die Einheit aller Dinge zu reflektieren. Aber in diesem Prozeß täuscht das Gemüt bei jeder Gelegenheit.

Plotin sprach zu anderen Philosophen von der Zeit als von "einem gewissen Tanz des Intellekts", der sich besonders an mentale Launen wendet, die auf unser Zeitempfinden einwirken. In Augenblicken heftiger Seelenangst oder Sorge erscheinen uns die Sekunden wie Stunden. In Augenblicken des Glücks vergehen die Stunden so schnell wie Sekunden. Außerdem besteht ein großer Unterschied zwischen dem Zeitbegriff im Schlaf- und Wachzustand. Aber die mentale Gleichung ist vielleicht am veränderlichsten, wenn wir uns mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschäftigen. Beim Versuch die Bedeutung dieser Zeiteinteilung zu erfassen, erzeugen wir tatsächlich eine Illusion nach der andern. Dieses Trennen des Weizens von der Spreu, wobei wir in einem Augenblick nach Phantomen greifen, im andern einen Schimmer der Wirklichkeit einfangen, ist ein Spiel des Lichtes und des Schattens des Gemütes auf die Leinwand der grenzenlosen Dauer.

Sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht nur objektive Phasen des zeitlosen Ganzen, die als vitale Glieder zwischen den materiellen und geistigen Welten dienen und unser Wahrnehmungsvermögen für diese zweifachen Aspekte des Lebens schärfen? Obwohl sie im Vergleich zur wahren Ebene des Bewußtseins, wo die drei Phasen eins - das Ewige Jetzt - sind, illusorisch sind, sind sie doch als Maß des Daseins und als ein Verbindungsmittel von einem Ereignis zum andern notwendig. Die Griechen personifizierten sie als die drei Parzen oder Spinnerinnen des Schicksals, die Skandinavier als die Nornen. Mannigfach sind die Fäden des Schicksals, die wir in das Muster einer Lebenszeit weben. Was wir sind haben wir aus der Vergangenheit heraus für uns selbst gestaltet und in der Gegenwart weben wir das Muster der Zukunft.

Mentale Pläne, die zur Ablenkung oder zur Flucht aus der Gegenwart führen, sind gewöhnlich für jeden Fallgruben. Besonders wenn wir einen illusorischen Wall rund um die Vergangenheit oder die Zukunft bauen und entweder die eine oder beide von der lebendigen Gegenwart trennen, unterliegen wir zahllosen Täuschungen: wir handeln der Gegenwart zuwider, indem wir der "wenn nur"-Gewohnheit unterliegen, verträumen den Tag mit dem Bedauern früherer Taten, verfallen der "ich erinnere mich"-Gepflogenheit durch das Verherrlichen vergangener Begebenheiten, quälen uns ab mit einer nicht vorauszusehenden Zukunft oder benützen diese als Krücke, um eine Sache hinausschieben zu können.

Die einzig wahre Zeit ist die Gegenwart, jener magische Augenblick der Gelegenheit, der mit dem Ewigen Jetzt verbunden ist, das beständig von der nahen Zukunft geboren oder zur unmittelbaren Vergangenheit wird. Interessant ist, daß ein Kind, dessen Gemüt noch nicht völlig entwickelt ist, keine Empfindung für die Zeitverbindungen besitzt. Es begreift nur die Gegenwart und fragt deshalb: "Wie lange dauert eine kleine Weile?" Oder es stellt im Hinblick auf ein kommendes Ereignis die Frage: "Ist morgen heute?" Jeden Tag positiv so zu leben, wie er kommt und empfindsam zu werden für die Bedeutung, die hinter den sich entfaltenden täglichen Ereignissen liegt, während man auf die Gelegenheiten, welche die Stunden mit sich bringen, wartet, erfordert Willensstärke und Mut des Gemütes und des Herzens. Dies sollte nicht mit einer blinden "Essen, Trinken und Fröhlichsein"-Philosophie verwechselt werden, sondern verlangt, daß man lieber jeden Augenblick zu stiller Vervollkommnung benützt als ihn mit einer dummen Handlung zu verbringen. Wenn auch keine zwei Tage einander gleichen, so kann doch jeder Tag etwas Neues und Wertvolles in Form von Erfahrungen mit sich bringen. Jeder Mensch lernt aus einer Erfahrung oder trägt zu einer Erfahrung im Verhältnis seines Vorstellungsvermögens bei.

Es ist aufbauend und nützlich, wenn wir die vergangenen täglichen Ereignisse überprüfen oder die Begebenheiten des Jahres aus der Ferne überblicken und in jedem Fall einsehen, inwiefern wir versäumten unsern Idealen gemäß zu leben. Das Studium der geschichtlichen Vergangenheit liefert uns ein Panorama von der Evolution des Menschen und zeigt die Beweglichkeit des menschlichen Geistes und wie er in einer Zivilisation nach der andern Siege und Niederlagen übersteht. Immer liegt im Zukünftigen die Hoffnung auf eine neue Gelegenheit; denn solange ein Tag oder auch nur ein Moment in einem Leben noch zur Verfügung steht, besteht eine Gelegenheit aufs Neue zu beginnen. Der Verlauf des Schicksals hängt davon ab, welchen Beitrag der Einzelne zu den positiven oder negativen Kräften der Welt beisteuert.

Wir blicken auf das Morgen mit seinen unsicher schwankenden Lichtern und Schatten der Zukunft. In dem Maße wie wir lernen, die täuschenden und gegensätzlichen Elemente der Zeit, die sich uns aufdrängen, mehr als von uns selbst als von fremden Elementen geschaffen zu betrachten, wird das Leben weniger zu einer dauernden Prüfung als eher zu einer Reihe von Episoden in einem großen Abenteuer werden.

Niemand kann der Sense der Zeit entschlüpfen, die mit ihrem ständig fließenden Rhythmus gleich einem schwingenden Pendel allen absolute Gerechtigkeit zumißt, und die auf ihrem Pfad den Maßstab der Jahre, Jahrhunderte und Jahrtausende als Meilensteine im Fortschritt der Menschheit hinterläßt. Denn die Zeit wartet auf keinen. Sie flutet unaufhörlich, befördert die Flüsse des Lebens in ihrem Lauf, verdunkelt herbe Erinnerungen, öffnet neue Tore der Verheißung und führt den Seelen der Menschen endlos Erfahrungen zu.