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Die Beherrschung des Gemüts

Jedem, der die Dualität des Menschen, wie sie allgemein angenommen wird, und den beständigen Wettkampf zwischen dem Höheren und dem Niederen im menschlichen Leben bezweifelt, wird empfohlen, zu versuchen, sich mit unseren Gedanken zu beschäftigen. Nicht eher ist die Standarte aufgerichtet und der Schlachtruf der von neuem eingenommenen Haltung des zur Selbstbemeisterung entschlossenen Menschen erklungen, bevor nicht das Heer der Kämpfer, das bislang nur mit halbem Herzen ein Gefecht führte, sich einwandfrei der entgegengesetzten Seite zugewandt hat, und je fester der Entschluß ist, desto grimmiger wird der Kampf. Die niedere Natur empfindet instinktiv, daß ihre Überlegenheit bedroht ist und kämpft verzweifelt gegen jenen Geist der entschlossen ist, seine Vorherrschaft zu behaupten. Dieser Konflikt zwischen dem Höheren und dem Niederen ist das Thema vieler Epen und ist, weit entfernt von dichterischer Phantasie, eine der ernstesten Realitäten des Lebens.

Die Idee von der Beherrschung unserer Gedanken ist dem Osten wohlbekannt und auch uns im Westen nicht ganz fremd. In der Bibel empfiehlt uns Paulus ernsthaft erhebende Dinge für unsere Betrachtungen zu wählen, und für ihn steht es fest, daß wir, die wir ein Gemüt besitzen, es jedem Gegenstand, den wir uns aussuchen wollen, zuwenden können. Er sagt:

Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach!

- Phil. 4. 8.

Auch Johannes legte nachdrücklich Wert auf die Wichtigkeit mentaler Zurückhaltung, indem er sagt, daß wer seinen Bruder hasset, der ist ein Totschläger (1. Joh. 3, 15). Aber von wem unter uns kann gesagt werden, daß er seine Gedanken beherrscht?

Ein Grund für unser Versagen liegt darin, daß wir nur eine begrenzte und unklare Vorstellung davon haben, was der Mensch ist. Uns wurde gesagt, daß wir im Körper lebende Seelen sind, und daß Seele und Geist im Wechsel miteinander stehen. Über den Körper scheinen wir eine Menge zu wissen, über die Seele verhältnismäßig wenig. Die Wissenschaft betrachtet das Gemüt als einen Sproß der Materie, die Religion sieht es als eine Funktion der Seele an. Mit dieser armseligen Ausrüstung an Selbsterkenntnis ist es kein Wunder, daß wir nur wenig Fortschritte machen!

Der endlose Gedankenstrom, der die mentale Ebene passiert, wird tatsächlich von vielen Menschen als ein Teil oder als ein Aspekt ihrer selbst angesehen und wenn sie versuchen, sich das Gemüt als etwas Getrenntes von den Gedanken, die von ihm Besitz ergreifen, vorzustellen, so schrecken sie beunruhigt und Schlimmes ahnend zurück, als stünden sie vor einem schrecklichen Abgrund. Es wurde ihnen gesagt, daß sie den Gedankenstrom beherrschen sollen, doch sie haben ohne ihre Gedanken keine Vorstellung von sich selbst. Natürlich sehen sie nicht, wie auch nur wenige Gedanken Einfluß auf andere haben können, und so geben sie es als eine schwierige Sache auf, wie ein Rätsel, das zu schwer zu lösen ist. Dabei verhalten sie sich, ohne es zu wissen, wie hilflose Gefangene einer Reihe mentaler Ideen, die bei den meisten ohne die geringste Überwachung durch den Menschen, der ihr Kontrolleur sein sollte, wild durch das Gehirn strömen.

Betonen möchte ich, daß eine Gedankenkontrolle nicht nur möglich, sondern absolut notwendig ist, denn wenn ein Mensch keine feste Haltung einnimmt und hinsichtlich der hereinströmenden Gedanken keine bewußte Wahl trifft, dann wird er zu einem Automaten, der auf alle äußeren Reize reagiert und zum Spielball jeder Leidenschaft, die seine Seele berührt. Wenn er nicht wohlüberlegt die Zügel der Regierung seines kleinen Reiches in die Hand nimmt, wird es in Anarchie und schließlich in Entartung verfallen. Es gibt viele, die über die uns gestellte Aufgabe der Gemütsbeherrschung so bestürzt sind, daß sie den Versuch unterlassen und sich mit dem Gedanken trösten, daß, solange ihr Verhalten mit dem Kodex durchschnittlicher Achtbarkeit übereinstimmt, es wenig ausmacht, was in ihrem Gemüt vorgeht. Aber die Anstrengung aufzugeben, eine Auswahl unserer Gedanken zu treffen, heißt, dem großen Kampf, den auszufechten wir in die Welt gekommen sind, auszuweichen.

Manchen Menschen kommt es unwahrscheinlich vor, daß so feine, subtile Dinge, wie Gedanken, irgendeinen wirklichen Einfluß auf unser Leben und auf die uns umgebenden materiellen Verhältnisse haben können. Zuweilen hört man sie von 'bloßer Imagination' sprechen, als sei Imagination ein harmlos leichter Dunst oder noch weniger, kaum imstande, in der substantiellen, praktischen Welt, in der wir leben, etwas zu erreichen. Man kann jedoch leicht feststellen, daß die durch den Willen verstärkte Imagination die beste Fähigkeit im menschlichen Leben ist, und wenn sie noch von Intelligenz und einem standhaften guten Empfinden geleitet wird, ist sie imstande, Wunder zu vollbringen.

Nehmen wir an, eine sensitive Person mit zarter Gesundheit betritt ihr Zimmer und sieht, während sie das Licht einschaltet, ein zusammengerolltes Seil für eine wirkliche Schlange an. Die überarbeiteten Nerven reagieren auf diese lebhafte Vorstellung, und sie ist der Anlaß für einen Schock, der augenblicklich den Tod hervorruft. Es war nicht das materielle Seil, sondern der Gedanke, der dieses Ergebnis brachte. Die bloße Imagination erschlug den Menschen genauso wirksam wie ein Geschoß. Wenn die Ursachen den Wirkungen, die sie hervorbringen, entsprechend bemessen werden, dann muß die Imagination mit unter das Mächtigste im menschlichen Leben eingereiht werden.

Stellen wir uns einen Sträfling vor, der derart von dem Glauben besessen ist, daß die Menschen sich gegen ihn verschworen haben und ihn verfolgen, so daß er racheerfüllt seinen Mitmenschen unbarmherzig den Krieg erklärt. Vielleicht kommt nun jemand zu ihm, der imstande ist, den schwelenden Funken der Hoffnung und des Selbstvertrauens, der oft unter dem meist wenig versprechenden Äußeren verborgen ist, anzufachen. Eine Revolution findet in der Natur des Mannes statt. Zum ersten Male spürt er die Zuneigung und den guten Willen eines wahren Freundes, und er beginnt eine neue Laufbahn, die schließlich nach außen hin zu einem wohlausgeglichenen Leben führt. Nur ein paar unmerkliche Gedanken haben diese Veränderung bewirkt. Er hat nichts Neues erlangt, nichts, was wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen könnten, und dennoch ist sein ganzes Leben umgestaltet worden.

Wenn der Mensch Meister über sich und seine Zukunft sein soll, so darf er sein Gemüt niemals so wie es gerade will dahintreiben lassen, sondern muß entschlossen die Gedanken auswählen oder verwerfen, je nachdem, ob sie gut und selbstlos oder schlecht und verderblich sind. Zunächst erscheint eine solche Anstrengung unmöglich; die Gedankenflut scheint sich immer wieder von selbst zu erneuern und sich mit der Kraft und dem Umfang eines Niagarafalles zu ergießen. Doch die Vollendung liegt völlig in unserer Macht.

Zum klareren Verständnis des Problems können wir den Menschen in drei Teile eingeteilt betrachten, die der Einteilung des Apostels Paulus entspricht. Der Körper ist natürlich der Mensch aus Fleisch, der mit Lebens- und Muskelkraft angefüllt ist. Die Seele oder das mittlere Prinzip bedeutet das innere Leben des Menschen, mit dem wir mehr oder weniger vertraut sind: die mentalen Auswirkungen, wie Gefühle, Eindrücke und Wünsche. In ihrem höheren Aspekt kann sie von erhabenem Patriotismus beben und von reiner Hingabe in Flammen stehen; in ihrem niederen Teil kann sie die Wildheit der Tiere übertreffen, weil sie vom menschlichen Willen gestärkt ist. Vom Geist, dem mysteriösen dritten Aspekt, wissen wir nur wenig, uns überkommt nur ein dunkles Ahnen seiner Gegenwart in jenem gelegentlichen Aufblitzen der Intuition oder der Einsicht. Doch seine Existenz können wir deutlich der Tatsache entnehmen, daß sich in uns allen etwas Unbekanntes befindet, das wie ein Zuschauer die Gedanken beobachtet und je nach dem wie wir es gewähren, sie kommen und gehen läßt. Das ist unser Selbst im wahrsten Sinne, ein Strahl reinen Lichtes von jenem Göttlichen, das "allen Menschen leuchtet". Solange noch die Vorstellung durch unser Bewußtsein flackert, daß das Gemüt etwas von den Gedanken getrenntes ist, das sie beherrscht, haben wir einerseits Gedanken und andererseits das, was die Gedanken wahrnimmt und versteht. Selbst wenn der letzte Gedanke vergeht, verbleibt der Zuschauer, und jenen Zuschauer können wir Geist nennen. Er ist der wahre Mensch hinter dem Schleier, der die Macht haben sollte, die Seele als sein Instrument zu benutzen, doch in den meisten von uns ruht diese Macht latent, weil wir von seiner Existenz nichts wissen.

Gedanken sind die Produkte des Denkers, aber sie entstehen an einem Platz, der unter dem, den ihr Schöpfer einnimmt liegt: sie sind seine Emanationen und nicht er selbst. Unser ganzes Leben hindurch sind wir in den lebendigen Inhalt des Gemüts eingetaucht; wir haben uns mit den Emotionen, die seine Oberfläche bewegen identifiziert: wir haben vor Schmerz gezittert, waren freudig erregt und schäumten vor Aufregung. Und nun werden wir aufgefordert, zur Seite zu treten und uns von diesem Drama zu lösen, um von einem kühlen, unparteiischen Standpunkt aus die sonderbaren Possen dieser Persönlichkeit, die wir stets als unser wahres Selbst angesehen haben, kritisch zu betrachten. Denn, wenn der Mensch sein Gemüt nicht überwacht, wird sicherlich das Gemüt ihn beherrschen. Es ist die alte Geschichte vom Schweif, der mit dem Hund wedelt, eine Ungereimtheit in der Naturgeschichte, aber eine ganz allgemeine Ansicht in den Reihen jener, die nie die Aufgabe übernommen haben, die Tätigkeit ihres Gemüts zu lenken.

Der schwache Einspruch des mittleren Prinzips erklärt jene scheinbar unwiderstehlichen Impulse und panischen Schrecken, die zuweilen ganze Gemeinschaften lenken und sie veranlassen, wie ein Mann - häufig wie ein schlechter Mann - zu handeln. Zu solchen Zeiten ist unschwer zu beobachten, daß die Menschen allzuoft wie Schafe folgen. Selbständiges Denken ist selten und die meisten Menschen wiederholen nur die Stimmen der äußeren Welt und verbreiten auf diese Weise gedankenlos Grillen und Vorurteile. Bevor ein Mensch den Pfad der Selbstdisziplin nicht ernsthaft betritt, muß er mit einer Laufbahn vorliebnehmen, die keine größere Würde hat, als sie ein Stück auf der Welle schwimmendes Seegras erlangt. Er kann nichts beitragen, um dem Prozeß der Evolution voranzuhelfen und ist nur eine schwere Last, die mitgeschleppt werden muß.

Wir müssen unaufhörlich wach sein, um alle Gedanken und Gefühle anzurufen, die versuchen, die Tore des Gemüts zu durchschreiten. Kein Gedanke kommt allein an die Schwelle, sondern ist mit andern Gedanken verbunden, und ist erst einmal ein zweifelhafter Gedanke eingelassen, zieht eine ganze Schar schimpflicher Verwandter mit ihm ein. Sie strömen, während wir die Pforte bewachen, in uns ein und vermehren sich manchmal so schnell, daß der innere Schrein zu einer Art bacchanalischer Orgie umgewandelt zu sein scheint. Wir können gut von einem Gedankenzug sprechen, denn Zug ist von dem lateinischen trahere, ziehen, abgeleitet und ein Gedanke zieht mit größter Gewißheit den andern an. So sagt ein chinesisches Sprichwort: "Viele Gedanken klopfen an unsere Tür, aber wir sind nicht verpflichtet sie einzulassen". Wenn sie bei der Inspektion verworfen werden, gehen sie ungestärkt fort, wahrscheinlich, um einen andern zum Sklaven zu machen. Sie wurden nicht durch unseren Beifall gestärkt, im Gegenteil, ihre Fähigkeit zu Leben erlitt tatsächlich eine Abschwächung. Versucht zu werden ist keine moralische Schuld; das einzig Schlimme ist, mit ungeziemenden Gedanken zu unterhandeln und ihnen eine freundliche Aufnahme zu gewähren.

Andererseits gleicht ein reiner, selbstloser, im Bewußtsein festgehaltener Gedanke dem Feuer des Alchimisten: die gröberen Elemente können in Gegenwart solch einer reinigenden Flamme nicht bestehen. Unreinheiten steigen auf wie das Öl im Docht einer Lampe und werden verzehrt. Diese feine, beharrlich angewandte Alchimie wandelt die Natur des Menschen, der Hohes und Edles pflegt, und die Kräfte eines hohen, machtvollen Charakters sind fruchtbar, sie blitzen und leuchten durch die Atmosphäre des Menschen, in der er lebt, erhellen sein Gemüt und inspirieren andere.

Der flüchtige Augenblick ist von Bedeutung. Besondere Gelegenheiten können sich selbst überlassen bleiben, wenn wir nur willens sind, die gewöhnlichen Augenblicke, die vorüberhuschen, zu beaufsichtigen; ihre Summe ist es, die den Charakter aufbaut und unser Schicksal gestaltet - jener Strom oder Faden einer lebenslangen Meditation. Wenn wir die Zukunft eines Menschen voraussagen wollen, so können wir ohne Bedenken die hohen Empfindungen, die er in der Öffentlichkeit zeigt, wie das Glaubensbekenntnis, das er in der Kirche hersagt, seinen klugen Rat, den er anbietet, weglassen, und untersuchen wie sich sein Gemüt verhält, wenn er zur Arbeit geht oder auf das Essen wartet oder in seinem Lehnstuhl schlummert. Diese unzähligen - für sich allein betrachtet - so geringfügigen Momente, erreichen, wenn man sie zusammennimmt, eine Gesamtsumme von erstaunlicher Größe. Sie sind die Stützpunkte in unserer Laufbahn, von denen unsere Zukunft abhängt.

Es ist nicht leicht, das Gemüt zu beherrschen, aber das Ziel ist die größte Anstrengung wert, denn die Beherrschung des Gemüts bringt uns an das Ziel, das wie das Himmelreich nur mit Anstrengung gewonnen werden kann; und wenn sie einmal, wenn auch nur teilweise, errungen wird, verleiht sie Frieden und Einsicht, was für den Einzelnen nicht so sehr von Wert ist, viel wichtiger ist die dadurch erlangte Fähigkeit andere zu verstehen und ihnen zu helfen.