Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

Steine der Vergangenheit

Der Zweifel ist nicht der Feind des Glaubens.

Er schärft des Glaubens Schneide.

 

 

 

Man sagt, Religion sei ebenso ein Wesensmerkmal der menschlichen Natur, wie wissenschaftliche Neugierde und philosophisches Denken. Nun, es gibt einen großen Unterschied zwischen natürlicher Religiosität und der großen Zahl religiöser Institutionen, die die Menschen in dem Bemühen schufen, das zu erlangen und zu erhalten, was sie als gut oder begeisternd empfunden haben. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß keiner der geistigen Lehrer, die von Zeit zu Zeit in allen Teilen der Erde erschienen sind, die Absicht äußerte, eine neue Religion zu gründen - doch stets wurde nachträglich eine neue Religion gegründet. Alle kamen sie, um Mißverständnisse und Aberglauben auszuräumen, die sich in die bestehenden Kulte eingeschlichen hatten, und um das Wachsen eines starren Formalismus aufzuhalten.

Als Christus die Geldwechsler aus dem Tempel trieb und die Pharisäer, die den größeren Teil der Bevölkerung ausmachten, wegen ihrer leeren religiösen Schau tadelte, wiederholte er die Handlung des Moses, der Jahrhunderte zuvor die lebendigen Wasser des Verstehens aus dem toten Felsen des Dogmas strömen ließ. Auf der Grundlage des Lebens und Lehrens von Christus wurde in der Folge eine Kirche gebildet, um dem Volk zu helfen, die wahren Werte des Lebens zu suchen. Aber es dauerte nicht lange und die Kruste des buchstäblichen Wortes ließ wieder einmal diese spirituelle Gemeinschaft zu einem von Menschen gemachten Kult mit genau definiertem Glauben erstarren - und Petrus Kirche forderte, statt den Menschen zu dienen, daß ihr gedient werde.

Während der folgenden Jahrhunderte entstanden kindische theologische Differenzen und die Kirche zerfiel in kleinere Sekten. Jede von ihnen hing an ihren bevorzugten Formeln, jede war bedacht auf ihre Riten und jede verehrte den Lehrer, während sie seine Gebote größtenteils mißachtete. Wenig hat sich seit dem Jahr 1 oder der Zeit Moses geändert. An Stelle des goldenen Kalbes sind die Idole Darstellungen von Christus und seiner Mutter, die Opfergaben sind Kerzen statt Tiere, die Haltung und Kleidung des Klerus sind etwas geändert, aber es sind die gleichen Pharisäer, die eine Schau öffentlicher Verehrung aufziehen, die gleichen Sadduzäer, die sich zum Materialismus bekennen, während das gleiche Volk seine Gedanken still für sich behält.

Im Westen, besonders in Nordeuropa, hat eine große Zahl von Christen aufgehört, in die Kirche zu gehen, weil sie keinen Sinn in einem Lippenbekenntnis zu einem Glauben sehen, mit dem sie nicht mehr übereinstimmen. Das bedeutet notwendigerweise nicht, daß sie ohne Religion wären. Es mag vielmehr bedeuten, daß sie die Religion zu ernst nehmen, um unaufrichtig zu sein. Sie wollen die Teile des Gottesdienstes nicht mitmachen, die ihr Sinn für Wahrheit und Anstand zurückweist. Sie mögen den abgrundtiefen Gegensatz zwischen den Lehren von Christus und dem formalen Christentum heute allzu klar sehen. Diese fehlende Übereinstimmung wird nicht nur von Laien mit Sorge wahrgenommen. Zahlreiche Schriften von Mitgliedern des Klerus, die bezwecken, daß die Kirchen die Kluft zwischen ihrem veralteten Gottesdienst und dem Denken eines modernen, gut informierten Publikums schließen müsse, beweisen dies.

Ein Verfechter dieser Forderung, der intellektuelle Redlichkeit mit aufrichtiger religiöser Haltung verbindet, ist Dr. Leslie Weatherhead, Methodist und emeritierter Geistlicher im Ruhestand von Londons berühmtem City Temple. In seinem neuesten Buch1 wendet er sich an diejenigen, deren herkömmlicher Glaube auf den Sandbänken der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes gestrandet ist. Nach seiner Pensionierung als Geistlicher im Jahre 1960 verbringt Dr. Weatherhead seine restlichen Jahre damit, Kirchen verschiedener Glaubensrichtungen zu studieren, und zu schreiben. So sagt er in der Einleitung seines Buches:

Ich bin ein alter, zorniger Mann, und ich fühle, daß ich das Feuer aus meinen Knochen herausbringen muß, bevor ich sterbe. ...

Die Welt will sich nicht länger mit den Lügen, dem Aberglauben und den Verzerrungen abfinden, mit denen die frohe und im Wesentlichen einfache Botschaft von Christus überdeckt worden ist.

Er sympathisiert sehr mit den "christlichen Agnostikern": Menschen, die sich von der Kirche lösen, weil sie nicht glauben können, was ihnen vorgeschrieben wird. Teile des apostolischen Glaubensbekenntnisses, die jungfräuliche Geburt, Wunder u. s. w. sind Steine des Anstoßes, die er behandelt. Er legt dar, daß sie Schöpfungen irrender Schreiber sind oder Symbole mit einer tieferen Bedeutung, oder daß sie möglicherweise eine Erklärung zulassen, wenn alle Tatsachen bekannt wären. Dr. Weatherhead schlägt vor, alle zweifelhaften oder unerklärlichen Dinge in eine Art geistige Schublade zu legen mit dem Etikett "in Erwartung weiterer Erkenntnis."

Wenn ein Mensch über die Wahrheiten des Lebens nachdenkt, besitzt er einen inneren Prüfstein, der ihm sagt, was als Wahrheit annehmbar ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob er durch Überlegungen der Vernunft dorthin gelangt ist oder durch eine Art spontanen Erkennens, das sich "selbst bestätigt" und durch kein Argument widerlegt werden kann.

Die Wahrheit mag sicherlich wahr sein, was auch immer meine Meinung sei. Aber sie ist für mich nicht glaubwürdig, solange ich ihre Wahrheit nicht erkenne.

Manchmal mag diese Wahrnehmung durch einen geistigen Sprung erreicht worden sein, oder besser durch einen "Sprung des Glaubens ... in der gleichen Richtung", der unser vernunftmäßiges Denken gefolgt ist, bis die Gedanken die Grenzen ihres Bereiches erreichten; und sie mag eine Überbrückung des Verstandesmäßigen mit dem Intuitiven bilden. Religiöse Einsichten sind zwangsläufig subjektiv. Ein Mensch siebt die äußeren Beweise, fügt seine inneren Erfahrungen hinzu, und das Ergebnis ist seine Überzeugung zu dem gegebenen Zeitpunkt. So wie unser Bewußtsein wächst, wird unsere Sicht der Wahrheit ebenfalls wachsen; jeder hat für sich allein die Kraft, zu entscheiden, was für ihn wahr ist.

Dr. Weatherhead malt ein Universum, das nicht in allen Einzelheiten von der Gottheit regiert wird, sondern als göttlichen Plan, in welchem freier Wille uns befähigt, zusammen zu arbeiten oder aufzubegehren, und in dem sich das selbstsüchtige Gebet um persönlichen Vorteil als nutzlos erweist. Er nimmt ferner eine geistige Mittlerschaft zwischen Gott und Mensch an, die, wie Christus, den Menschen Inspiration und Führung gibt. Eine Inkarnation, wie die von Jesus, würde deshalb nicht allein auf unsere Erde beschränkt, sondern auf jedem beliebigen Planeten möglich sein und seinen Bewohnern als Bindeglied zur regierenden göttlichen Kraft dienen. Die Jesus nachgesagten Wunder sind entweder Ausdruck einer überlegenen Kenntnis der Naturgesetze, so wie die Anwendung von Antibiotika den Primitiven als Zauberei erschienen wäre, oder sie sind in einigen Fällen Übertreibungen übereifriger Anhänger. Man sollte sich darüber im klaren sein, daß keines der Evangelien während der Lebenszeit von Jesus geschrieben wurde noch wurden sie von den Männern verfaßt, deren Namen sie tragen. Alle sind sie mündliche Berichte, die auf ihrem Weg bis zur schriftlichen Aufzeichnung durch viele Köpfe gegangen sein mögen. So bemerkt Dr. Weatherhead:

Sollten wir als ein weiteres Wunder annehmen, daß in den Geschichten der Evangelien über Jesus Übertreibung und Erfindung ausgeschlossen wären?

Die Lehre von der jungfräulichen Geburt sollte in das geistige Schubfach "in Erwartung weiterer Erkenntnis" verwiesen werden und ist für ein bedeutungsvolles christliches Leben nicht wichtig. Die Kreuzigung dagegen wird als ein auserwähltes Mittel gesehen, um dem menschlichen Gedächtnis den Lehrer einzuprägen, dessen Geist bei den Menschen auf ihrer Pilgerschaft zur Vollendung als eine wesentliche und fortdauernde Inspiration verbleibt. Die Vergebung der Sünden kann in einem Universum, in dem Gesetz und Ordnung herrschen, nicht durch stellvertretende Buße erreicht werden. Es ist vielmehr notwendig, wenigstens in gewissen Fällen, wieder auf die Lehre der Reinkarnation zurück zu kommen. Der Verfasser führt überzeugende Beweise dafür an, daß die Lehre von der Reinkarnation Bestandteil der frühen christlichen Lehren war; die Jünger von Jesus bezogen sich in seiner Gegenwart auf sie, ohne daß Jesus sie widerlegte. Dr. Weatherhead verbindet sie notwendigerweise mit Karma, dem universalen Gesetz von Ursache und Wirkung, das die Verschiedenheiten der Talente und Gelegenheiten erklärt, während es die Sühne der Sünden erlaubt, denn

Unsere Sünden bleiben und wirken als übles Erbe sogar in den Zellen unseres Körpers und Gehirnes und in den Leben derer, die wir verletzt haben, fort.

Da es "Gottes Wille ist, daß die Wirkungen den Ursachen folgen werden", bringt eine Folge von Leben die Gelegenheiten, den Charakter zu bilden und die Schuldkonten auszugleichen. Himmel und Hölle sind keine ewige Belohnung oder Strafe, sondern vorübergehende Bewußtseinszustände, in denen die Vision der Wahrheit für die Seele, je nach ihrer Qualität, Segen oder Leiden bringt.

Der Verfasser bezieht sich in seinem Buch stets auf Dichter, Philosophen und Schriftsteller, die er wegen ihres Weitblicks und ihrer Einsicht ausgewählt hat. Jedem Kapitel sind Zitate aus den verschiedensten Quellen vorangestellt. Im Gesichtskreis dieses Methodisten-Autors begegnen wir Buddha, Emerson, Bacon, Jung, Fosdick, Jeans, Einstein, vielen englischen Dichtern und natürlich seinem persönlichen Freund, Dr. Raynor Johnson, wie auch zahlreichen anderen mit den verschiedensten Überzeugungen. Obgleich er spiritistische Übungen nicht befürwortet, stützt sich der Autor in seinen Schlußfolgerungen trotzdem in starkem Maße, und wir meinen nicht immer sehr weise, auf die Entdeckungen der Gesellschaft für psychische Forschung.

Man könnte darüber streiten, wie der Autor die Bibel betrachtet. Teile davon tragen in seiner Sicht nichts zur christlichen Religion bei, während er andere dem Geist nach als definitiv unchristlich ansieht. Dies mag zum Teil wahr sein, doch liegt es nach Ansicht des Rezensenten im Bereich des Möglichen, daß zukünftige Gelehrte ihre Kenntnisse der Symbolik und allgemeinen Bildersprache verbessern, so daß sich die den ärgerlichen Stellen zu Grunde liegende Bedeutung enthüllen würde. Die Auslegungen des Autors mögen in ihrer Wahrnehmung mangelhaft sein, so wenn er die Mysterien-Schulen herabsetzt und, wenn auch unabsichtlich, von dem Wenigen, was von ihnen bekannt ist, nur die nach außen sichtbare Seite betrachtet. Viele Ausdrücke unserer heutigen Umgangssprache würden Menschen anderer Zeiten fremd sein, und wir müssen anerkennen, daß die Metaphern anderer Zeitalter verständlicherweise in unseren Ohren einen fremden Klang haben, während sie den damals Lebenden bedeutungsvoll waren.

Z. B. tut er das Wunder bei der Hochzeit von Kanaan als eine triviale Ausschmückung ab. Aber die Geschichte könnte mehr als lediglich eine physikalische Umwandlung darstellen. Wurde nicht Wein weit und breit als ein Symbol für den hinter dem Offensichtlichen liegenden Geist gebraucht? So verstand man es in den Mysterien, so auch bei den Sufis, und so wurde es bei den frühen Feiern des Heiligen Abendmahls begriffen. Das im Heiligen Abendmahl gebrauchte Brot stellte für die Griechen und andere wahre Naturerkenntnis dar. Christus machte dies ziemlich deutlich, als er fragte: "Wenn eure Kinder euch um Brot bitten, würdet ihr ihnen einen Stein geben?" "Wenn eure Kleinen (Schüler, Jünger) nach Erkenntnis fragen, würdet ihr ihnen dogmatische Behauptungen geben?"

Dr. Weatherhead beklagt die Freiheiten, mit denen andere Autoren die Bücher der Heiligen Schrift auslegen, aber es scheint, daß er ihnen nacheifern will, wenn auch seine Verbesserungen noch so gut gemeint sein mögen. Selbst so offensichtlich wertlose Einzelheiten wie die "Genesis" mochten den Historikern, wenn sie richtig ausgelegt wurden, in ihren Berechnungen der Geschlechterfolge helfen, die verschiedenen Zeiträume zu bestimmen. Oder haben etwa die Namen irgendeine ethmologische Bedeutung, vergleichbar den Aufzählungen der Zwerge in der Edda? Man möchte vorschlagen, diese Fragen in Dr. Weatherheads geistiges Schubfach "in Erwartung weiterer Erkenntnis" zu legen. In der Zwischenzeit ist es auch nach unserer Meinung nutzlos, die Kongregationen damit zu plagen.

Der ansprechendste und wichtigste Teil des Buches ist für mich wenigstens, neben dem reizenden Auszug aus Brownings "Paracelsus" das Kapitel "God and Our Guesses" (Gott und unsere Vermutungen). In ihm versucht der Autor seine eigene Freude über ein plötzliches inneres Erwachen zu beschreiben, das er mehrere Male an den ungewöhnlichsten Orten erlebte. Zahlreiche Heilige und Dichter haben über derartige religiöse Erlebnisse in vielfältiger Weise berichtet, doch keine Worte können den Impuls spirituellen Bewußtseins ausdrücken noch kann dieser durch künstliche Mittel heraufbeschworen werden. Wir mögen glauben, was wir wollen, wir mögen beten oder meditieren oder unseren Geschäften nachgehen, den Menschen ist keine Methode bekannt, das plötzliche Aufblitzen innerer Einsicht hervorzurufen, die das Bewußtsein vorübergehend mit dem Ursprung unseres Seins, der "uferlosen universalen Wesenheit" verbindet. Wenn diese Strahlen erlöschen, bleibt uns eine sichere Kenntnis und Überzeugung von der Gottheit, die weit mehr sind als Glauben. Für einen Christen ist dies in einem sehr realen Sinne die Gemeinschaft mit Christus, dem jedem menschlichen Wesen innewohnenden spirituellen Herz. Jene, die das kennen, brauchen nicht überzeugt zu werden. Jenen, die es noch nicht erfahren haben, versichert Dr. Weatherhead, daß eine solche Erleuchtung möglich ist, wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick, aber einen Augenblick, der als Quelle der Freude und Ermutigung im Gedächtnis bleibt. Ob Christ, Buddhist, Hindu, Mohammedaner oder irgendein Anderer, der göttliche Kern von jedem ist ein Teil des dieser Welt innewohnenden Geistes.

Die Augen würden bald blind werden, wenn sie nicht Licht empfingen. Die Lungen würden bald verkümmern, wenn sie nicht Luft atmeten. Das Gemüt, das keine Beziehung zur Wahrheit hat, soll sich in einem unausgeglichenen Zustand befinden, und auch der Geist muß mit der ihm entsprechenden Welt - mit Gott - in Verbindung stehen, wenn seine volle Gesundheit erhalten bleiben soll.

Religiöse Übung ist wahrhaft lebensnotwendig für das menschliche Wesen. Aber das brauchen nicht vorgeschriebene Methoden zu sein oder Versammlungen zu besonderen Zeiten an bestimmten Orten, sondern die Suche im bunten Flickwerk unserer Persönlichkeit nach dem ruhigen, friedvollen, aber spirituell aktiven Zentrum, dem mächtigen Grundton des Lebens, "wo die Wahrheit in Fülle ist."

Fußnoten

1. The Christian Agnostic, Abingdon Press, New York, 1965. 368 Seiten, $ 4.75. [back]