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Niemand ist verlassen...

Wenn wir von Einsamkeit sprechen, berühren wir einen Gegenstand, der uns alle angeht; denn die Einsamkeit ist jener mysteriöse und unsichtbare Fremdling, der immer um uns ist. Nichts wirkt auf das Bewußtsein mehr ein, nichts läßt uns mehr unserem wahren Selbst gegenüber stehen als die Einsamkeit. Und wie Samuel Rogers sagte: "Niemand ist verlassen, wenn er allein ist."

Während des 2. Weltkrieges standen Soldaten an entlegenen und einsamen Orten der Erde, die für sie kurz zuvor nur Namen in einem Geographiebuch gewesen waren, um ihre Pflicht zu erfüllen. Ob es nun in Island, in Grönland oder auf einer winzigen Koralleninsel der Südsee war, überall trat ihnen die schwere Prüfung, die Einsamkeit entgegen. Und wer an diesen entlegenen Orten Dienst tat, war zweifellos denen, die sich ihrer erinnerten und damit ihren Aufenthalt ein klein wenig angenehmer gestalteten, unendlich dankbar. Obgleich ihr Los dem der unverbesserlichen Verbrecher ähnlich war, z. B. Einzelhaft, konnte diese Härte immerhin durch Briefe und Zeichen der Güte ihrer Angehörigen aus der Heimat gemildert werden.

In der heutigen Welt gibt es Menschen, die mit sogenannten Heimsuchungen behaftet sind und die sich schrecklich allein gelassen vorkommen müssen, aber sie haben sich so außerordentlich begabt gezeigt, daß die Welt mehr an ihre Talente als an ihre Behinderung denkt. Ich denke hierbei an Helen Keller und Alec Templeton. Helen Keller hat fast ihr ganzes Leben in völliger Blindheit und Taubheit zugebracht. Aber alle, die sie persönlich kennen oder von ihren großartigen Leistungen gelesen haben, werden schon durch eine einzige Zeile, die die Verbundenheit mit ihren Mitmenschen erkennen läßt, innerlich berührt. Sie strahlt Wundervolles auf das Leben um sich aus: Glückseligkeit und Gemütsfrieden. Der einzigartige Alec Templeton spielt, obwohl er blind ist, Klavier. Mit Auge und Ohr folgen ihm die völlig verzauberten Zuhörer.

Die Natur ist eine merkwürdige Mutter. Niemals entzieht sie einem ihrer Kinder etwas, ohne zu versuchen, es mit etwas Anderem zu ersetzen, ganz gleich, wie das scheinbare Leiden sein mag. Für Blindheit, Taubheit, Stummsein, für den Verlust eines Gliedes oder selbst für völlige Körperbehinderung wird sie im Verlauf der Zeit auf Umwegen die Lücke ausfüllen. Sie mag ein tieferliegendes Motiv haben; denn sowohl im Menschen als auch rund um ihn her liegt eine Welt, über die der Mensch nichts oder nur wenig weiß, und es scheint, als ob die fünf physischen Sinne, mehr als alles andere, ihn daran hindern, in sie einzutreten. Ist es nicht verständlich, daß die Natur alle Anstrengungen macht, um Entschädigung zu bieten, damit ihre Kinder ihre wahre Heimat kennen lernen, weil dort sicherlich mehr für den Menschen enthalten ist als in der materiellen Welt, wie groß diese auch erscheinen mag?

Wenn wir an unsere Helen Keller denken, fragen wir uns, welche Erfahrungen sie wohl in jenem seltsamen Gefängnis der Blindheit und Taubheit gewinnen mag. Zu beachten ist auch, daß der humorvolle und begabte Alec Templeton mit einem inneren Sinne die Musik "sieht", von der wir mit unseren physischen Sinnen nur schwache Andeutungen im tiefsten Schlaf erhaschen können. Und in einem früheren Jahrhundert haben wir den beinahe völlig tauben Giganten der Musik, Beethoven, der auf irgendeine Weise die Musik der Sphären gehört haben muß. Denn sicherlich haben wir einen Sinn jenseits der Sinnesorgane, eine Sehkraft jenseits des Auges und eine Wirklichkeit jenseits der Tatsächlichkeit.

Wir empfehlen nicht, daß sich jemand vorsätzlich eines physischen Sinnes berauben soll; dennoch sind viele Blinde, Taube, Stumme und Gelähmte in der Tat ebenso spirituell wie viele von uns, die wir alle unsere Fähigkeiten unbeeinträchtigt besitzen. Andererseits haben wir zu jeder Zeit viele Beispiele jener um uns, die eine unversehrte physische Konstitution besitzen und die mit einem intuitiven Sinne in das Unbekannte einzudringen scheinen. Weiß man, woran der verstorbene Sir Arthur Mallory dachte, als er auf die Frage, warum er einen Berg besteige, zur Antwort gab: "Weil der Berg vor mir liegt." War es, weil hinter jenem Berge das lag, was er suchte, wie es für jeden Menschen in einem mystischen Sinne der Fall sein muß? Wenigstens hatte er auf seine eigene Weise den Mut, das Unbekannte herauszufordern.

Hat der Mensch einmal den Mut, das größte aller Mysterien, nämlich sich selbst, herauszufordern, so macht er die Beobachtung, daß das Leben zu einem beschleunigten Prozeß wird, wobei demjenigen, der es aufrichtig meint, die Gelegenheit gegeben ist, sich selbst zu bezwingen. Den Sinnen werden eine beträchtliche Menge Erfahrung und Disziplin zugeleitet - vielleicht erkältet, hungrig und müde zu sein; oder einsam, verflucht, geschmäht, gedemütigt und gezwungen zu sein, immer ein wenig über das physisch Erträgliche hinaus zu gehen; oder von neuem zu dienen, zu beobachten, zu studieren, nichts zu tun, unaufhörlich daran zu arbeiten, ein Problem zu bewältigen, nur um zu sehen, wie die Anstrengung in einem Augenblick vernichtet wird. Wie auch die Form der Disziplin sein mag, das Ziel ist immer dasselbe: alles hinzugeben und absolut nichts dafür zu erwarten, zu biegen und nicht zu brechen.

Selbst in diesem Zeitalter, mit all seinen materiellen Bequemlichkeiten, Errungenschaften und mit seinem Fortschritt, kann der Mensch noch das gütige Geschick haben, mit schrecklicher Not zusammenzutreffen. Einsamkeit ist die geringste von ihnen. Der Zweck des Lebens ist Assimilation, und die Zeit wird kommen, wo wir uns nach Einsamkeit sehnen werden, nicht als eine Art der Buße, sondern im Frieden der Erkenntnis, daß es kein Sondersein, sondern nur ein Einssein mit allen Dingen gibt.