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Das Geschenk meiner Tante

Als ich sechs oder sieben Jahre alt war und eben anfing, Französisch zu lernen, nannte mir Tante Elsa ein Zitat, das ich mir merken sollte. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Szene in Großmutters Speisezimmer mit seinen aus Nußbaumholz verfertigten und reich geschnitzten massiven Möbeln und seinen mit hübschen, eingerahmten Stichen von Dichtern und Musikern dekorierten Wänden. Verschossene, rosarote Tapeten bildeten den Hintergrund. Tante Elsa übergab mir das Zitat als wäre es eine schöne, in eine mit Bändern verzierte, phantasievolle Schachtel gelegte Puppe. Als sie die Worte mit peinlicher Sorgfalt übersetzte, machte sie mir klar, daß sie sehr wertvoll sind und für die Zukunft wie ein Schatz gehütet werden müßten. In diesem Sinne nahm ich sie entgegen, ohne jedoch die Tiefe ihrer Bedeutung zu begreifen, die in den einfachen Worten lag: "Tout comprendre, c'est tout pardonner."

"Alles verstehen heißt alles verzeihen." Nach vielen Jahren packte ich meinen Schatz aus und unterzog ihn einer genaueren Prüfung. Als ich dann seinen Wert, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, erkannte, half er mir dabei, mit Menschen fremder Länder, in denen ich leben mußte, gut auszukommen. In China stammten meine Freunde aus verschiedenen Nationen und Verhältnissen, und mitten unter den französischen, deutschen, englischen, amerikanischen, russischen und chinesischen Kindern, die meine Mitschüler waren, war vieles, was mir fremd und wunderlich vorkam. Aber ich fand, daß wir uns verstehen konnten, wenn wir uns bemühten zu sehen, daß unsere Unterschiede nur an der Oberfläche waren. Natürlich kamen uns die verschiedenen Sitten rätselhaft vor, und wir interessierten uns für die nationalen und religiösen Feste, und da unsere kindlichen Erklärungen über die Dinge, die uns vertraut waren, recht unvollkommen waren, so dienten sie doch als natürliche Brücken der Verständigung.

Bei meinem späteren Schulunterricht in England überprüfte ich abermals das Geschenk meiner Tante und stellte fest, daß es sich für tiefere Aspekte der menschlichen Natur anwenden ließ. Mit zunehmendem Alter mußten wir Teenager uns mit umfassenderen Gedankengängen beschäftigen und erhitzten uns manchmal ein wenig bei unseren Debatten. Aber der gleiche Grundsatz hielt, was er versprach. Ich stellte fest, daß die Gemüter sich gradmäßig und auffassungsmäßig unterschieden und unserer sozialen Struktur oft Vorurteile anhaften, die individuell als zweitrangig zu betrachten sind. Es gab junge Leute unter uns, deren Eltern auf der anderen Seite des Erdballs wohnten, in Burma, Indonesien, Honkong und China, während andere nur einen Steinwurf von der Schule entfernt ihr Heim hatten. Unsere Ansichten waren dementsprechend verschieden, und wir gewöhnten uns alle daran, verschiedene Meinungen zu haben, was uns eine Grundlage gegenseitigen Verstehens gab.

Nach Jahren, als ich rund um die Erde reiste, wußte ich den Wert des Geschenkes noch mehr zu schätzen. Ich fand, daß der große Schlüssel zu allen menschlichen Beziehungen gegenseitiges Verstehen ist. Das bedeutet nicht notwendigerweise, mit allem einverstanden zu sein; durchaus nicht. Wir alle sind wachsende und lernende Pilger auf dem Wege der Ewigkeit, aufnahmefähig für weitere Entwicklung und daher unvollkommen. Wir sind gezwungen, nicht nur unsere eigenen Unvollkommenheiten zu erkennen, an denen wir arbeiten können, sondern auch die der anderen, die wir als ihre Angelegenheit und nicht als die unsere zu betrachten haben. Es steht uns nicht zu, andere zu zensieren, denn sehen wir in ihnen nicht oft einen bloßen Reflektor unserer eigenen Fehler? Wenn wir uns in die Lage eines anderen versetzen können, so werden wir finden, daß alle Differenzen überbrückt werden können. Wir können das französische Sprichwort sogar noch erweitern und sagen: Alles verstehen heißt mit allen zu "fühlen". Denn wie können wir uns anmaßen, anderen zu vergeben oder zu verzeihen, wenn wir uns alle auf demselben Weg der Erfahrung befinden? Letzten Endes ist unser Erbe unsere gemeinsame menschliche Natur. Jeder einzelne hat das gleiche Recht zu wachsen und seine eigenen Anlagen zu entfalten. Mit diesem Schlüssel des Vorsatzes können wir hoffen, eines Tages alle Menschen mit einer inneren Übereinstimmung, die als essentielle Einheit in den Sternen, in den Sonnen und in jedem Geschöpf der Erde zu erkennen ist, zu erfassen.