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Es gibt mehr Wege als nur einen

Ich war ziemlich befremdet und ärgerlich, als Clara Lawrence - eines der jüngeren Mitglieder unserer Diskussionsgruppe, die sich mit bedeutenden Schriften befaßt - zum Brief an die Korinther von Paulus ausrief: "Es ist einfach erstaunlich, sich vorzustellen, daß Jesus die allererste Person war, die den Menschen ein Moralgesetz gab!"

"Viele der...", wollte ich erklären, aber Claras Begeisterung überstimmte mich.

"Warum handelten die Menschen vor Jesus wie Barbaren? Erinnern Sie sich, wir konnten kaum Vergils Aneid (Aeneis) zu Ende lesen, weil es nur endlos Betrug, Plünderung und Totschlag gab - einfach schreckliche Taten, die alle glorifiziert wurden und zu denen die Götter sogar ermutigten. Dann kam das Christentum mit den Lehren von Paulus über ein Leben mit Güte und Liebe."

"Mir scheint, die Christen waren gar nicht so vollkommen", murrte Sonya Saltzman. "Hinter uns liegen neunzehnhundert Jahre voller Greuel, die im Namen ihrer Kirche begangen wurden." Ihre schweren, mit Schärfe vorgebrachten Worte verrieten das Leid, das ihre Familie als russische Juden durchgemacht hatte.

Da beschloß ich, Clara nicht weiter ihre Illusion zu nehmen - nicht jetzt. Man unterhielt sich weiter über die verschiedenen Aspekte, die das Verdienst von Paulus waren und über die Verbreitung des frühen Christentums, seine späteren Veränderungen durch die kirchlichen Konzile und konfessionellen Auslegungen und über seinen augenblicklichen fragwürdigen Einfluß auf die Mehrzahl der Jugendlichen. Wir alle wurden angeregt, mehr darüber zu lesen und Antworten auf die Fragen zu suchen, die uns beschäftigten.

Bei der nächsten Zusammenkunft fragte ich die anderen, ob sie gern ein paar Abschnitte hören wollten, auf die ich gerade gestoßen war. Da alle daran interessiert waren, erzählte ich ihnen, daß ich in The Buddhist Bible (Die Bibel der Buddhisten) gelesen hatte, wie der junge Prinz Gautama, fünfhundert Jahre vor Christi Geburt, von den Leiden, die durch Alter, Krankheit und Tod verursacht werden, zutiefst beeindruckt worden war. Er verließ sein königliches Heim, um die Wahrheit zu suchen, und sein Leben der Aufgabe zu widmen, die Menschen den edlen achtfachen Pfad zu lehren, der das Leid beenden und zu Frieden und Erleuchtung führen würde. Dieser Pfad besteht aus rechtem Verstehen, rechter Gesinnung, rechtem Sprechen, rechtem Handeln, rechtem Leben, rechtem Sichbemühen, rechter Aufmerksamkeit und rechter Konzentration.

"Das wäre wirklich etwas, wonach man versuchen sollte zu leben", rief Sam Peters, ein Gebrauchtwagen-Händler. "Ich frage mich, was er mit jedem dieser Begriffe meint, z. B. rechtes Handeln."

"Rechtes Handeln", meinte ich, "würde darin bestehen, ein moralisches Leben zu führen: andere oder sich selbst nicht betrügen, nicht stehlen, nicht töten und alles, was lebt, mit Freundlichkeit und Achtung behandeln."

Aber ich wollte sie in noch weiter zurückliegendere Zeiten führen, zu den alten Ägyptern, deren Hieroglyphen auf Papyros-Rollen und an den Wänden der Pyramiden ihre heiligen Lehren bewahren. Ich hatte einen Abschnitt aus der Papyrus-Rolle des Ani mitgebracht, die eine der schönsten aus dem ägyptischen Book of the Dead (Buch des Todes) ist. Darin wird beschrieben, wie der Schreiber Ani, ein Aspirant der Wahrheit, die große Halle des Gerichts betritt und vor dem göttlichen Osiris und seinen zweiundvierzig Richtern seine Seele offenbart:

"Dir sei gehuldigt, oh großer Gott! Ich bin zu Dir gekommen, ich habe Dir Wahrhaftigkeit dargebracht. Für Dich habe ich die Sündhaftigkeit überwunden. Ich habe den Menschen kein Übel angetan. Ich habe meine Familie nicht unterdrückt. Ich habe nicht schlecht statt recht gehandelt. Ich bin kein Freund unedler Menschen gewesen. Ich habe nichts Übles getan. Ich habe versucht, nicht selbstgerecht zu werden. Ich habe mich nicht nach hochstehenden Positionen gedrängt. Ich habe Untergebene nicht schlecht behandelt. Ich habe den Menschen, der in Not war, nicht betrogen. ... Ich habe niemandem Schmerzen zugefügt. Ich habe niemanden hungrig davongehen lassen. Ich habe niemanden zum Weinen gebracht. Ich habe nicht gemordet. Ich habe keine Unzucht begangen. Ich habe beim Wiegen nicht betrogen. ... Ich habe den Vögeln im Jagdrevier der Götter keine Fallen gestellt. Ich habe Gott in seinen Offenbarungen nicht abgelehnt. Ich bin rein, ich bin rein, ich bin rein, ich bin rein."

Ich schaute auf die gedankenvollen Gesichter um mich und gewahrte die Macht dieses Gegenbeweises. Clara brach das Schweigen.

"Ich habe versucht, mir diese Menschen, die Buddhas Pfad folgen könnten, vorzustellen - oder jene alten Ägypter, die unerschrocken vor ihrem Gott stehen konnten. Glauben Sie, daß es viele unter uns gibt, die auch so sind?"

Und dann fügte sie etwas verlegen hinzu: "Es muß schrecklich naiv geklungen haben, als ich letzte Woche sagte, Jesus habe der Welt das erste Moralgesetz gebracht. In Wahrheit war ich mir darüber selbst nicht sicher. Nach unserer Vorlesung bat ich die Bibliothekarin, mir zu helfen, meinen Standpunkt zu überprüfen. Sie sagte kein Wort, sondern brachte Band für Band über Weltreligion und Geschichte herbei. Ich gelangte zu ihrem Standpunkt - jedes Land hat spirituelle Lehrer gehabt, die die Menschen zu einem besseren Leben führten, so wie es Buddha tat und Osiris und natürlich Jesus.

Ich habe mir etwas, das alles zusammenzufassen scheint, kurz herausgeschrieben." Ihre Augen glänzten, als sie ein Papier aus ihrer Tasche entfaltete und erklärte: "Es ist aus einer sehr alten Hinduschrift. Der höchste Gott, verkörpert im Lehrer Krishna, sagt: 'Ich erzeuge mich selbst unter den Geschöpfen, oh Sohn Bharatas, jedesmal, wenn ein Verfall der Tugend und ein Überhandnehmen des Lasters und der Ungerechtigkeit in der Welt stattfindet.'"

Sie machte eine Pause und schloß dann mit Nachdruck: "Auf diese Weise verkörpere ich mich von Zeitalter zu Zeitalter für die Erhaltung der Gerechten, die Vernichtung der Boshaften und die Aufrichtung der Gerechtigkeit."

Welch großartiges Buch in der Reihe bedeutender Schriften! Ich hatte versucht, Clara mit einem Hauch indischer und ägyptischer Ethik zu 'belehren'. Sie aber hatte mit dem wunderbaren Scharfblick der Jugend das Mitleid der universalen Gottheit begriffen, das ausreicht, um der ganzen Menschheit zu helfen.