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Das Juwel der Wahrheit

Die Überlieferung berichtet von einem wundervollen Juwel, das kleiner als das kleinste und größer als das größte Juwel ist. Mit verschiedenen Namen benannt, hat in jedem Zeitalter und in jeder Himmelsgegend jede Rasse und jedes Volk versucht seine Strahlen einzufangen, um mit Worten seine Wirksamkeit zu schildern. Zu diesem Zwecke fanden Krieg und Blutvergießen statt, weil die Menschen im flüchtigen Hinblick auf nur eine Facette die Redlichkeit derjenigen verneinten, die eine andere Facette in Augenschein genommen hatten. Wie auch immer der Name des Juwels lauten mag, so ist doch seine Aufforderung eine unveränderliche: seine sieben Facetten bilden die sieben grundlegenden Wahrheiten, die dem Menschen erklären, warum er hier auf Erden ist, woher er kam und wohin ihn seine Bestimmung führen wird.

 

Die erste Facette weist auf das ewige Gesetz von Ebbe und Flut hin, das den Antrieb bildet, der hinter dem Zyklus von Geburt und Tod aller Wesen steht. Von der Sonne bis zum Atom, vom Menschen bis zum Mineral findet das Ein- und Ausatmen der Lebenskraft statt. Milchstraßen und Sterne kommen und gehen - wie "Funken der Ewigkeit" blitzen sie auf ins Dasein, und wenn ihr Lebenszyklus zu Ende ist, verschwinden sie in die Wasser des Raumes. So ist es auch beim Menschen. Er selbst, ein Funke der Gottheit, folgt dem alten Plan, kehrt wieder und wieder zur Erde zurück, veranlaßt durch seine unermeßliche Vergangenheit und gleicherweise genötigt durch die Unendlichkeit seiner Zukunft, die verlangt, daß er die bewußte Vereinigung mit dem Göttlichen erlangt.

 

Eine zweite Facette, die Zwillingsschwester der ersten, schließt jenes Gesetz von Ursache und Wirkung ein, das den Menschen befähigt dem Gegenstück jeglichen Denkens und Tuns gegenüberzutreten und hierbei in Übereinstimmung mit der Qualität seiner Schöpfungen Leid oder Freude zu erfahren. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden von den Griechen durch ihre Moirai oder Schicksalsgöttinnen personifiziert, die das Schicksal des Menschen bestimmen; Lachesis bewahrt die der Vergangenheit entstammenden Fäden, welche der Mensch bereits ausgewählt hat; Klotho, welche die Gegenwart in Händen hält, spinnt die Fäden aus der Vergangenheit, die aber durch das Denken und Fühlen des Jetzt beeinflußt sind; und Atropos kann sich dem Einfluß beider, der Vergangenheit sowie auch der Gegenwart, nicht entziehen, denn sie muß die Zukunft weben, so wie sie die Fäden des Schicksals von ihren Schwestern empfängt.

Daher regiert überall das unbeugsame Gesetz der Harmonie und Gerechtigkeit und macht alle Wesen nicht nur sich selbst gegenüber verantwortlich, sondern es macht auch den Menschen für die Reaktionen verantwortlich, die sein Denken und Handeln anderen gegenüber ausüben können. Das unaufhörliche Zusammentreffen mit diesen Reaktionen ist die Ursache dafür, daß der Mensch am schnellsten lernt. Arbeitet er mit dem vorwärtsfließenden Strom des Fortschritts, so erfährt er Glück und Sieg, stemmt er sich aber gegen die natürliche Ordnung, so erleidet er Schmerz und Niederlage.

 

Die dritte Facette stellt bildlich die Architektur der endlosen Leiter des Wachstums dar, deren Sprossen oder Abteilungen sich von der niedersten materiellen bis zur höchsten geistigen Stufe erstrecken. Sie gibt jeder Wesenheit innerhalb des unendlichen Raumes die Möglichkeit, sich jeder Art von Erfahrung zu unterziehen. Durch wiederholte Runden von Geburt und Tod, und infolge des Anstoßes, den seine früheren Taten auf ihn ausüben, durchschreitet der Mensch die Hierarchien der Erfahrung. Die Weberkette wurde von seinem inneren Gott aufgelegt, aber das Gewebe muß der Mensch seinem Willen gemäß selbst anfertigen.

 

Die vierte Facette ist lebenswichtig, weil ohne sie nichts existieren könnte. Es ist jene Facette, die besagt, daß während der Zeit, in der alle Funken der Gottheit wieder in das Nichtsein versunken sind, und wenn das Drama einer Lebensperiode erneut zu Ende ist, das ihm angeborene Merkmal des Selbstes, welches sein Merkmal und nicht das eines anderen ist, doch nicht verlöscht; und daß der ganze Sinn des Fortschritts darin liegt, seine charakteristische Essenz vollkommen zu entwickeln.

 

Die fünfte Facette umfaßt und erleuchtet alle anderen Facetten. Sie schließt das zweifache Mysterium der Göttlichen in Tätigkeit und in Ruhe in sich ein: die Involution oder das Einatmen und die Evolution oder das Ausatmen. Vom Standpunkt des Göttlichen in Tätigkeit aus betrachtet, sprechen wir von Evolution oder vom Entfalten dessen nach außen, was im Lebenssamen enthalten ist; und betrachtet man das Göttliche, wie es in den Ruhe- oder Schlafzustand zurückkehrt, so nennen wir dies Involution oder das Einziehen der Wirkungsfähigkeit, nachdem die Frucht der Erfahrung zur Reife gelangt ist. Immerwährend Ebbe und Flut, Einatmen und Ausatmen, Involution und Evolution, entweder Evolution des Geistes in die Materie oder Involution der Materie in das Geistige.

Die archaischen Überlieferungen bestätigen, daß am Anfang einer Weltperiode als die Elohim die Wasser des Raumes in Bewegung setzten, unzählige Atome der Gottheit, die verschiedentlich auch Monaden, Gottesfunken oder Lebensatome genannt wurden, Stufe für Stufe in die Materie hinabstiegen und sich in allen Sphären mit den atomischen Substanzen der Mineral- Pflanzen- und Tierreiche bekleideten. Als sie das Menschenreich erlangt hatten, mußte der Mensch, da er noch ein schlafender Gott war, mit dem prometheischen Feuer des Gemiites belebt werden, damit er, nachdem er vom Baume der Erkenntnis gegessen hatte, Gutes vom Bösen unterscheiden und selbstbewußt seine Zukunft gestalten konnte.

Kosmisch betrachtet, ist es die Involution oder das Eintreten des Gottesfunkens oder des innewohnenden Geistes in materielle Formen und gleichzeitig die Evolution oder das Ausatmen jener materiellen Träger, während sich der Geist durch die Hierarchien hinabbewegt. Wenn dann der tiefste Punkt der Erfahrung innerhalb der Materie erreicht ist, windet sich der Zyklus wieder aufwärts und wir haben die Involution oder das Einatmen der materiellen Formen (wenn die Radioaktivität vorherrschend wird) im Verein mit der folgerechten Evolution oder dem Ausatmen der innewohnenden Gottesessenz in spirituelle Ausdrucksformen.

Daher kann man den Menschen und alle Geschöpfe mit den "Samen der Göttlichkeit" vergleichen: sie treten ins Dasein, gelangen innerhalb der verschiedenen Reiche zur Blüte und zur Reife und wenn dann die Stunde schlägt, treten sie wieder in den Samenzustand ein.

 

Die sechste Facette, genannt der Todlose Pfad, ist vielleicht die schönste Facette, weil sie am eindringlichsten an den Altruismus im Menschen appelliert. Wenn sich jemand entwickeln will, ist es für ihn unvermeidlich, die Wahl zwischen Geist und Materie zu treffen. Die größte Prüfung ist es aber, zwischen der Wahrheit für sich selbst und der Wahrheit für andere zu wählen. Angetrieben durch den Kraftstrom seiner Vergangenheit, den er Zeitalter hindurch erzeugte, steht er nun dem Augenblick der Wahl gegenüber: wird ihn das Licht der Wahrheit so gefangen nehmen, daß er es für sich behalten möchte? Oder wird ihn das Licht so umfangen, daß er, ohne an sich zu denken, den Pfad des Mitleids erwählt? "Kann ich der Seligkeit teilhaftig werden, wenn die ganze Welt leiden muß? Nicht eher als bis der letzte dieser meiner Brüder dahin gelangt ist, wo ich stehe, will ich zur Seligkeit eingehen."

So sprechen die Buddhas und die Christusse, wenn sie am offenen Torweg zum Licht und zur Allwissenheit ihren Blick der unter ihnen liegenden Dunkelheit, der Welt der Menschen, zuwenden, wo Kummer und Sorge vorherrschen und wo sich gequälte Herzen noch immer nach der Wahrheit sehnen.

 

Wie steht es dann um die siebente Facette? Ihr Name ist Selbsterkenntnis, was soviel heißt, wie Tonleiter des spirituellen und materiellen Daseins. Als die alten Griechen über dem Eingang zum Tempel zu Delphi die Aufforderung ERKENNE DICH SELBST anbrachten, erinnerten sie ihre eigenen Philosophen und die Philosophen aller Zeiten daran, daß Selbsterkenntnis die Erkenntnis des Kosmos bedeutet, die höchste Weihe, die nur dem Menschen bekannt ist, der den Todlosen Pfad erwählt.

So berichtet die Überlieferung.