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Das Christus-Mysterium

Für viele Menschen ist Christus der Name für eine bestimmte Person, aber in Wirklichkeit bezeichnet er eine universale Idee. Christus ist das in Johannes 1, 14 erwähnte 'Fleisch gewordene Wort': "Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns." In den Anfangsversen dieses Evangeliums finden wir ein Bruchstück einer gnostischen Lehre, die das Christentum mit den Lehren des Altertums verbindet. "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. ... In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen." Das Wort oder der Logos ist eine schöpferische Emanation des Höchsten, ist zugleich Einheit und Vielheit und thront im Herzen von allem. So kommt es, daß der Mensch in seinem Innersten ein Gott ist, ein 'fleischgewordener Gott', eine in einen sterblichen Körper eingeschlossene unsterbliche Seele.

Der Jesus der Evangelien betont diese Wahrheit an vielen wohlbekannten Stellen und spricht gewöhnlich von der höchsten Gottheit als dem Vater und von dem Wort als dem Sohn. Wenn wir diesen Schlüssel im Gedächtnis behalten, können wir sehen, daß er in seinen Belehrungen den Menschen zu zeigen suchte, wie sie, indem sie in seine Fußstapfen treten, durch Anrufung der eigenen innewohnenden Göttlichkeit Erleuchtung erlangen können. Im Verlaufe der Jahrhunderte ist es unglücklicherweise zum Dogma geworden, daß der Mensch von Natur aus schlecht ist und nur durch den Glauben an diesen sonderbaren Gottmenschen, Jesus von Nazareth, erlöst werden kann.

Der biblische Jesus ist ein zum Teil erfundener, zum Teil symbolischer Charakter, der um eine wirkliche Persönlichkeit aufgebaut wurde. Ihre Identität ist unter einem Durcheinander von historischem und überliefertem Material begraben. Wenn auch jeder Mensch eine Inkarnation des Göttlichen ist, gibt es Menschen, die das in einem besonderen Sinne sind. Da sie in ihrer individuellen Entwicklung über den Punkt hinaus fortgeschritten sind, den der Durchschnitt der Menschheit ihrer Zeit erreicht hat, kommen sie in Zeiten spiritueller Verdunkelung in die Welt, um die Wahrheiten neu zu formulieren, die das Erbe des Menschengeschlechtes sind. Solche Lehrer sind die Christusse der Welt. In den Religionen Indiens, Ägyptens, Altamerikas und anderswo finden wir Berichte, die den Darstellungen in unseren Evangelien im wesentlichen ähnlich sind. Ein Erlöser wird durch den Heiligen Geist von einer jungfräulichen Mutter geboren, wird versucht und überwindet, wird gekreuzigt und begraben und steht nach drei Tagen wieder auf. Diese Folge von Ereignissen ist in den heiligen Schriften vieler Völker festgehalten, was leicht festgestellt werden kann. Tatsächlich war das manchen bedeutenden christlichen Schriftstellern bekannt und gab Veranlassung zu viel Verwunderung.

Es genügt zu sagen, daß die in unserer Bibel und in der Lehre unserer Kirche zu findende Geschichte nur eine Assimilation einer alten und überall verbreiteten Geschichte darstellt, und wenn wir darauf hinweisen, so setzen wir das Christentum keineswegs herab. Wir versuchen vielmehr die ursprüngliche Erhabenheit wieder zu betonen, von der es sich durch seinen Anspruch auf Einzigartigkeit, Ausschließlichkeit und Endgültigkeit trennte. Sicherlich ist es in diesem Zeitalter der allgemeinen Verschmelzung der Rassen richtig und an der Zeit, daß wir gegenüber den Ansprüchen anderer eine großzügigere Haltung einnehmen und ihren Glauben bewußter würdigen.

Der Angelpunkt dabei ist die individuelle Verantwortlichkeit eines jeden Menschen für seine eigene Erlösung. Manche mögen Einwände dagegen erheben und sagen, es sei anmaßend und sündhaft, die Stärke des Menschen der seines Erlösers, des eingeborenen Sohnes Gottes, gegenüberzustellen. Aber hier stoßen wir wieder auf den grundlegenden Unterschied zwischen der ursprünglichen Lehre und ihrer Auslegung, wie wir sie kennen. Die moderne, entstellte Form sagt uns, daß der Mensch von Natur aus unrein ist - auf Grund der Sünde Adams, wie man sagt - und deshalb der besonderen Barmherzigkeit eines Erlösers bedarf, um sich seinen Platz im Himmel zu sichern. Doch der Mensch ist im Innersten göttlich. Das war tatsächlich die Lehre Jesu. Da er göttlich ist, muß er sich durch seine innewohnende Göttlichkeit selbst erlösen. Das christliche Dogma, daß der Mensch durch göttliche Liebe und Barmherzigkeit und trotz seiner eigenen ungesühnten Vergehen erlöst wird, mag sehr trostreich sein, ist jedoch ungerechtfertigt und nicht menschenwürdig. Das Gesetz, daß wir ernten, was wir gesät haben, kann nicht umgangen werden. Wenn uns der Tod der Gelegenheit beraubt, unsere Schulden der Gesellschaft gegenüber in diesem Leben abzutragen, werden wir in einem kommenden Leben die Gelegenheit dazu haben. Der Christus, an den wir uns um Hilfe wenden müssen, ist in uns - ist, wenn man will, unser eigenes Höheres Selbst.

Das Gemüt ist die Intelligenz des Menschen, an sich neutral und durch das gefärbt, womit es sich verbindet. Ist es an die irdischen Leidenschaften gefesselt, so ist das Gemüt das niedere persönliche Selbst, das beständig mit anderen Selbsten uneins ist und vom richtigen Weg im Leben hinwegführt. Doch da jeder Mensch ein intuitives spirituelles Prinzip in sich hat, widerspiegeln wir, wenn das Gemüt mit diesem Prinzip verbunden ist, das Höhere Selbst, das unser Erlöser ist. Die Alten lehrten, daß der Mensch ursprünglich durch den Atem des Göttlichen inspiriert und so ein potentieller Gott wurde. Das ist in der Tat die wahre göttliche Inkarnation, der Christus im Menschen - begraben, verborgen, ungeoffenbart, bis er durch unser eigenes Wollen und Verlangen zur Aktivität erweckt wird.

Das Symbol des Christus ist das Kreuz oder, genauer gesagt, das von einem Kreis umgebene Kreuz, das das Zeichen für den Planeten Venus ist. In der Symbologie der sieben heiligen Planeten steht die Venus zur Erde in der gleichen Bedeutung, wie das Höhere Selbst zu unserer niederen menschlichen Natur. Der Kreis bedeutet das Göttliche - das Wort oder den Logos; das Kreuz bedeutet die Materie; so daß das ganze Symbol das 'fleischgewordene Wort' bedeutet, das unter uns wohnt. Das Christusmysterium bedeutet daher, daß die Göttliche Macht in die Materie herabsteigt, um in den niederen Reichen zu wirken. Diese Macht wird zuerst geopfert, denn ihr Glanz wird verdunkelt, ihre Stimme wird inmitten des Aufruhrs des materiellen Lebens und der Selbstsucht zum Schweigen gebracht. Sie ist jedoch der Befreier des Menschen und muß früher oder später, wenn sich der Mensch seines eigenen spirituellen Ursprungs vollkommen bewußt wird, zur wahren Auferstehung gelangen. Das kann für den einzelnen zu jeder Zeit stattfinden; und für die Rasse als Ganzes in einer passenden zyklischen Ära der Zukunft. Wenn in einem Menschen so der innere Christus auferstanden ist, ist er imstande in die Welt hinauszuziehen und als Lehrer aufzutreten, entweder so, daß seine Gegenwart verborgen bleibt, oder daß er öffentlich unter den Menschen wirkt, wie die Inspiratoren der großen Religionen, oder vielleicht wie die Urheber einer weit verbreiteten Schule der Philosophie, wie jene von Pythagoras und Plato.

So kann das Symbol des Christus entweder das bedeuten, was im Leben eines jeden Menschen stattfindet, oder irgendeine besondere Manifestation des Göttlichen, wie bei Buddha oder dem geheimnisvollen Lehrer, um dessen unbekanntes Leben die Legende von Jesus von Nazareth aufgebaut wurde, dessen mystische Geburt zur Wintersonnenwende uns Gelegenheit gibt, unser Leben der Verbreitung von Harmonie und Wohlwollen unter den Menschen auf Erden zu widmen.