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Die Großen Offenbarer

Jene von uns, die finden, daß sie die Offenbarung als eine Quelle der Wahrheit zurückweisen müssen, oder den Gehorsam der Autorität gegenüber nicht mehr als Führer zum religiösen Glauben anerkennen können, müssen mutig mit der Schwierigkeit ringen, die Quelle der Wahrheit in uns selbst zu finden, und zwar individuell, und durch ausgetauschte Erfahrungen. - Bruce T. Lundin, Sunrise-Artikelserie Heft 3/1964

 

 

 

Das ist das Glaubensbekenntnis einer wachsenden Zahl aufrichtiger Menschen. Es drückt die religiöse Meinung jener denkenden Personen aus, die, da sie die oft bedeutungslose und fragmentarische Theologie, die in vielen Konfessionen das Mittelalter überlebte, nicht mehr anerkennen können, auf eine von Erfahrung gegründeten Weise an die Wahrheit herantreten. Der moderne Mensch zieht es vor auf seinen eigenen Füßen zu stehen. Er weigert sich irgend etwas anzunehmen, das er nicht zu seiner eigenen Erfahrung in Beziehung bringen kann. Das ist eine gesunde Haltung, denn schließlich ist die einzige Wahrheit, die wirklich einen Wert hat, jene, die wir auf die eine oder andere Weise in unserem eigenen Bewußtsein 'entdecken'.

In dem obigen Zitat wird jedoch in dem Ausdruck "Jene von uns, die finden, daß sie die Offenbarung als eine Quelle der Wahrheit zurückweisen müssen..." eine wichtige Seite dieses Gegenstandes übergangen. Wenn mit Offenbarung jene von einer Autorität ausgehenden Verkündungen gemeint sind, die so viele sektiererische Religionen behindern und von denen geglaubt werden soll, daß sie vom Allmächtigen selbst stammen und deshalb nicht angezweifelt werden können - wenn diese mit Offenbarung gemeint sind, dann sollten wir sie uns ganz gewiß vom Leibe halten. Diese Verkündungen enthalten vielleicht Wahrheit, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall müssen wir selber darüber nachdenken. Aber können wir alle geoffenbarte Wahrheit in Bausch und Bogen 'zurückweisen'?

Es hängt viel davon ab, was wir mit Offenbarung meinen - tatsächlich liegt der Kern des religiösen Dilemmas in diesem Wort. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Aufgeben der oft kraftlosen und verdrehten Praktiken und Lehren, die die Jahrhunderte überdauerten und dem Abstreiten, daß größere und heiligere Menschen lebten, die weiser waren als wir und uns etwas von ihrer Weisheit hinterließen. Sich zu entscheiden die Offenbarung als eine Quelle der Wahrheit zurückzuweisen, bedeutet gleichfalls, den Christus des Christentums oder den Buddha des Buddhismus zu verwerfen. Wenn wir das tun, pflichten wir der Idee bei, daß der Mensch auf seiner langen Pilgerreise keine spirituelle Hilfe von jenen empfing, die befähigt waren, sie zu geben. Es mag uns nicht gefallen, was mit der Botschaft jener geschah, doch ist das ein Grund, diese Botschaft zu verschmähen? Ein kurzer historischer Rückblick mag diese Punkte beleuchten.

In der Vergangenheit des Menschengeschlechtes wurden zu verschiedenen Zeiten erhabene Seelen geboren, deren Leben und Kenntnisse einen großen Einfluß auf unsere Geschichte gehabt haben - in der Tat ist es unmöglich, sich vorzustellen, in welch mißlicher Lage sich die Menschheit befinden müßte, wenn diese sogenannten Erlöser und Lehrer nie gelebt hätten. Eine oft übersehene Tatsache ist jedoch, daß diese Großen, diese Beispiele wahren Menschentums, keine Kirchen gründeten und keine Dogmen aufstellten; es waren jene geringeren Menschen, die nach ihnen kamen und die im Gedächtnis behaltenen Unterweisungen bewahren wollten. Sie schlossen diese in Worte ein, oft erhabene Worte, und zeichneten auch die Geschichte ihres Lebens und ihrer Taten auf. Diese wurden dann mit der Zeit zum Kern vieler Heiliger Schriften der Welt.

Später wurden Organisationen gegründet, um diese Lehre zu bewahren und sie zu verbreiten; eine Geistlichkeit wurde aufgestellt, das 'Haus der Wahrheit' zu verwalten, das manchmal reich und mächtig wurde. Die Botschaft, die früher von den Einzelnen gesucht und über die vom Einzelnen nachgedacht wurde, wurde nun der Menge überliefert, als käme sie von oben. Ein Schlußstrich beendete jedes Nachdenken: glaube und sei erlöst. Zweifle nicht an dem Wort Gottes! Noch später verließen dann der spirituellen Diktatur, der buchstäblichen Auslegung und des ausgetrockneten Zeremoniells überdrüssig, unabhängige und forschende Gemüter die Gemeinde, um Reformbewegungen ins Leben zu rufen. Diese zersplitterten wieder in Spaltungen wegen lächerlich unwichtig erscheinender Punkte, die aber sehr viel Kummer und sogar Streit unter ihren Anhängern zuwege brachten. Und wenn der Geist der Religion gänzlich erstickt zu sein schien, konnte ein neuer großer Reformator kommen und wieder einmal die klingenden Töne der Weisheit anschlagen. Die diesem Impuls entspringende neue Bewegung erwies sich oft, trotz ihrer Schwachheit, im Vergleich zu den anderen älteren, reicheren und mächtigeren Religionen, stärker als sie alle - das ist eben die Macht der nicht durch Dogmen eingeengten Wahrheit. Sie wirkt wie die zarte Pflanze, die den mächtigen Stein beiseite schiebt oder spaltet.

Wenn es auch gefährlich ist allzusehr zu verallgemeinern, so glaube ich doch, daß die Prinzipien, auf denen die obige historische Zusammenfassung beruht, richtig sind: erstens, die erhabene Gegenwart der Wahrheit selbst ist in der Person eines großen menschlichen Wesens möglich; dann, in fast jeder Religion können wir Schritt für Schritt den Prozeß verfolgen, durch den die Ideen des Lehrers in ein System gebracht, geändert, sorgfältig durchgearbeitet und als endgültig niedergelegt wurden. Wir können verfolgen, wie die Betonung von der Wahrheit und dem Suchen danach gradweise auf das Haus der Wahrheit übertragen wurde. Wir können wahrnehmen, wie sich die Diener des Geistes, ob Mönch, Priester oder Prediger nach und nach zwischen den Einzelnen und seinen Gott drängten, bis geglaubt wurde, daß der Mensch sich dem Göttlichen nicht ohne ihre Vermittlung nähern noch ohne ihren Beistand geboren werden, heiraten, leben oder sterben könnte.

Ist es da verwunderlich, wenn heute viele dem, was sie 'geoffenbarte Religion' nennen, den Rücken kehren und es vorziehen in spirituellen Dingen lieber selbst zu forschen, als wertlosen Formalitäten und rührenden Moralpredigten beizupflichten? Es gibt sogar Kirchen, die die Offenbarung überhaupt verneinen. Diese Haltung stellt eine Reaktion gegen jene unwissende, gedankenlose Haltung dar, durch die die Religion allmählich von den Tatsachen und sogar vom gesunden Menschenverstand getrennt wurde und sich mehr auf ein angenommenes zukünftiges Leben konzentrierte, anstatt auf die Umwandlung des Lebens in etwas Besseres und mehr Erleuchteteres hier und jetzt.

Die Wissenschaft hatte einen wichtigen Einfluß auf dieses Problem. Während die Wissenschaftler nach und nach den Aufbau des Lebens erklärten und begannen, ihre Entdeckungen in millionenfacher Weise anzuwenden, um zu erziehen, zu heilen und zu verbessern, erwartete die Öffentlichkeit von ihnen eine Erklärung über die Geburt von Welten und Menschen, den Ursprung des Lebens und der Gesetze der Natur - erwartete von der Wissenschaft Antworten, die früher und auch jetzt von der Religion in ungenügender Weise gegeben wurden. Die so freie und undogmatische wissenschaftliche Methode, wobei Theorien erdacht wurden, um Naturerscheinungen zu erklären, und die, wenn nötig, im Lichte neuer Entdeckungen geändert wurden, bewegte Gemüter, die durch strenges Dogma und unbiegsame Verkündungen solange gefesselt waren. Man fing an, das Wort 'Offenbarung' mit allem in Verbindung zu bringen, was denkende Menschen in der organisierten Religion verwarfen.

Aber was ist Offenbarung tatsächlich und was bedeutet es, wenn wir uns von ihr abwenden? Um diese Frage befriedigend zu beantworten sollten wir zuerst zu klären versuchen, was wir unter Wahrheit verstehen, wenn wir sagen, daß wir sie haben wollen; und wenn uns diese Wahrheit gegeben wird oder wir sie entdecken, welche Kräfte oder Fähigkeiten in uns würden es uns ermöglichen, sie zu erkennen?

Der Kosmos besteht aus zahllosen Schichten. Zur Bestätigung brauchen wir nur die vielen Schichten von uns selbst zu betrachten. Wir durchlaufen die Skala der 'Stoffe' unseres Körpers und der verwickelten Energien, die sie durchdringen aufwärts durch die Lebenskraft, die uns belebt; unsere Gefühle, die sich von der niederen Begierde bis zur hohen Aspiration erstrecken; bis zu unserem Gemüt, das so seltsam dual sein und auf mitleidsvolle oder kriminelle Ziele gerichtet werden kann. Über diesen Elementen in uns befinden sich das Gewissen, die Intuition, das Urteilsvermögen, das Bewußtsein, der Verstand und viele andere sogenannte 'spirituelle' Faktoren, die geheimnisvoller aber mächtiger sind, als alles andere im menschlichen Leben. Nun, wir können in unserem kleinen System kaum etwas haben, das das Universum nicht enthält: wir besitzen diese Fähigkeiten, Kräfte und Substanzen nur, weil sie im Kosmos vorhanden sind, von dem wir einen Querschnitt im Kleinen bilden. Wie bedeutend und umfassend das Reservoir des kosmischen Bewußtseins, des kosmischen Gesetzes, der kosmischen Energie und Materie ist, bleibt der Mutmaßung jedes Einzelnen überlassen, aber Spekulationen darüber haben die größten Denker unter den Menschen veranlaßt, Ideen zu verkünden, die sich später zu den verschiedenen religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Systemen entwickelten.

Aber es gibt nur eine Wahrheit, nicht wahr? Hier steht der Kosmos, der uns hervorbrachte: in ihm finden sich ganz offensichtlich Wirkungsbereiche, eine Struktur, Gesetze, eine Geschichte und selbst ein Schicksal, wenn unsere Verstandeskanäle nur offen und weit genug wären, um wahrzunehmen und zu erfassen, was dies alles sein könnte. Das enthält tatsächlich den Schlüssel: unsere Ideen über den Kosmos sind durch vorgefaßte Meinungen gefärbt und durch unsere Beschränkungen begrenzt. Wir sehen nicht das Universum, sondern durch Überlieferung, Beobachtung oder Intuition in unserem Gemüt ins Leben gerufene Bilder. Wir dürfen nicht vergessen, daß diese Bilder im besten Falle nur ausgestreckte Fühler darstellen: morgen nennen wir hoffentlich eine neue und umfassendere Perspektive unser eigen - das heißt, wenn wir nicht mit den gegenwärtigen Begriffen zufrieden und überzeugt sind, daß unsere mentalen Begriffe das uns umgebende Universum genau beschreiben. Eine solche 'Befriedigung' ist jedoch gewöhnlich das Zeichen dafür, daß das mentale Leben des Betreffenden passiv ist. Diese Bemerkungen gelten für den religiösen Menschen, den Mann der Wissenschaft und den Mann auf der Straße gleicherweise.

Es ist klar, daß jemand mit größerem Begriffsvermögen mehr 'sieht', als ein anderer, dessen Ausblick durch fehlende Entwicklung oder durch Vorurteil beschränkt ist. Wenn eine Person mit größerer Befähigung ihre Erkenntnis mit uns teilt, kann das eine Offenbarung genannt werden - das heißt, die Erkenntnis wurde uns mitgeteilt oder geoffenbart; wir haben sie nicht entdeckt. Wie sollten wir uns diesen Offenbarungen gegenüber verhalten? Sollten wir sie zurückweisen, weil wir sie nicht selbst gefunden haben? Das wäre genau so, als wiesen wir Jung oder Einstein oder jeden anderen Pionier, der unser Verständnis über den Menschen und den Kosmos und was diese enthalten erweiterte, als unnütz zurück. Ich nehme viele wissenschaftliche Theorien und Prinzipien, die ich nie für mich selbst beweisen konnte, als vernünftig an; ich nehme es als richtig an, daß sie die reiflich überlegte Meinung von Experten darstellen, die diesen Gegenständen unter Umständen ein Leben gewidmet haben. Doch das ist nicht der eigentliche Grund, warum ich sie annehme; ich nehme sie hauptsächlich an, weil sie bei mir 'eine Saite zum Schwingen bringen'. Wäre das nicht der Fall, so würde ich sie nicht ganz abweisen, sondern zum weiteren darüber nachdenken zurückstellen. Und mir scheint, dasselbe Prinzip sollte man auf die religiöse Wahrheit, auf geoffenbarte oder jede Art Wahrheit anwenden.

Es sollte nachdrücklich betont werden, daß, wenn ein Wissenschaftler seine Ansichten bekannt gibt, das ohne Anspruch auf Letztgültigkeit geschieht; die wissenschaftliche Gültigkeit seiner Darlegungen beruht auf der ihnen innewohnenden auf Tatsachen begründeten Wahrheit, nicht auf irgend jemandens Behauptung. Die Botschaft eines großen religiösen Lehrers dagegen wird als unverletzlich und seine Vorschriften werden als absolut geltend erklärt. Die Botschaft wird, ob wir das verstehen, annehmen oder nicht, für uns zum Gesetz erhoben. Das ist jedoch das Werk kleinerer Gemüter: die Großen der menschlichen Familie suchen weder zu überzeugen noch zu bekehren. Sie geben uneingeschränkt, was sie wissen und sind; und es ist Sache jedes Einzelnen zu verstehen, anzunehmen oder zurückzuweisen, wie er es für richtig findet. Die Unbedeutenderen in der Wissenschaft dogmatisieren ebenfalls: sie sind es, die in der materiellen Forschung Allwissenheit beanspruchen und Theorien lehren, als wären sie Gesetze.

Ist es möglich in der Religion eine gänzlich auf Erfahrung gegründete Haltung einzunehmen? Das bezweifle ich, aber ich glaube auch nicht, daß die Wissenschaft immer rein empirisch war oder sein wird. Ganz gleich wie viele Tatsachen sich anhäufen, schließlich muß sie ein Gemüt ordnen und das Licht intuitiven Verstehens muß das Landschaftsbild erleuchten. Sonst werden die Funde eben Funde, das heißt kalt und tot bleiben. Das gleiche gilt für die Religion. Die erhabenen Wahrheiten, die dem Menschengeschlecht Zeitalter um Zeitalter gegeben wurden und einen Teil jener alten Weisheit bilden, die unser spirituelles Erbe ist - diese Wahrheiten sind ebenfalls tot, bis sie durch irgendeinen Einfluß unseres Bewußtseins einen Sinn bekommen. Dann stehen sie in der einzigen Weise 'geoffenbart' vor uns, in der jemals etwas geoffenbart werden kann, und das ist in uns und durch uns selbst. Die Weisheit wird durch die großen Lehrer nicht dadurch lebendig erhalten, daß sie dem Menschen auf einem silbernen Tablett etwas darreichen, sondern indem seine Intuition angeregt wird, damit er für sich beständig größere Bereiche seines universalen Heimes enthüllt, so daß er jeden Tag erwachen und mehr über sich selbst und über seine Mitmenschen wissen kann, damit er inspiriert wird, edler zu denken und zu leben. Das ist Offenbarung in ihrem positivsten und nützlichsten Sinne, und wir sollten sie so wenig 'zurückweisen', wie wir versuchen sollten, unser Herz am Schlagen zu hindern.

Gewiß ist das Gold oft in Stücken und mit seltsamen Prägungen versehen; aber das Gold ist da und es liegt an uns, es zu finden, und zwar in uns selbst. Bei diesem Suchen zeigen große Offenbarer der Welt den Weg.