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Wo ist der primitive Mensch?

Jene, die in unseren größeren Museen die Ausstellungen der Wissenschaft vom Menschen besucht haben, können sich sicher daran erinnern, daß sie eine gewisse Abnormitätengalerie alter Zeitgenossen wie den Cro Magnon, den Neandertaler und dergleichen gesehen haben, die bis auf das mythologische Bindeglied zurückgehen, das, jedenfalls der Wissenschaft nach, jene Stelle bezeichnet, wo der Mensch aus dem Tier hervorging. Jeder von ihnen war ein behaarter Barbar, aber man nimmt an, daß sie von uns aus dem 20. Jahrhundert die weit zurückliegenden Ahnen sind. "Das sind deine Götter, oh Israel!" ruft uns die Wissenschaft zu. Und wir fallen pflichtgemäß nieder und verehren sie! Dazu sei gesagt, daß wir es sind, die diesem primitiven Menschen die Ahnenschaft zugeschrieben haben; er, das gute Geschöpf, hat es sich nie träumen lassen, daß Utopien oder die amerikanischen Republiken von Sprößlingen aus seiner Linie gegründet werden würden.

Darwin stellte die Theorie auf, daß die Menschen von einem affenartigen Vorfahren abstammen, und daß es seitdem eine wachsende Rasse gibt, bei der wir selbst nichts besseres sind als kleine Brüder des Schimpansen. Wir graben den Schädel eines antediluvianischen Hottentotten aus, der zufällig in Gallien lebte und heißen in ihm einen direkten Vorfahren von Madame Curie oder Viktor Hugo willkommen, wobei wir uns von seiner Barbarei bis zu unserer Kultur eine beständig aufwärtsführende Richtung vorstellen. Wenn wir auch nur einmal beweisen könnten, daß die Natur in dieser Weise arbeitet - nur einmal - dann wäre es wenigstens etwas! Soweit mir bekannt ist, wurde mit all diesem lauten Gegacker jedoch nie ein Ei gelegt. Wir überspringen schwindelerregende Abgründe um zu unseren Schlüssen zu gelangen. Vieles deutet darauf hin, daß der Wilde ein entarteter zivilisierter Mensch ist, aber wenig, daß sich der zivilisierte Mensch vom Wilden emporentwickelt hat.

Niemand nimmt an, daß zum Beispiel der Australneger oder der südafrikanische Buschmann oder der Bewohner der Andaman Inseln eine große Zivilisation hervorbringen kann. Sie selbst nehmen es nicht an. Sie können nicht dazu gebracht werden, sich das vorzustellen. Rassenmäßige Erwartungen kommen ihnen nicht in den Sinn. Die Berührung mit dem weißen Menschen scheint in diesen Fällen ihre Auslöschung zu beschleunigen, aber sie waren auf jeden Fall zur Auslöschung bestimmt. Die Natur hatte von ihnen alles erhalten, was sie erhalten konnte. Wenn solche Überbleibsel irgendein inneres Rassenbewußtsein haben, so besteht es aus unklaren Überlieferungen der Vergangenheit, die besser war als die Gegenwart, niemals aus Erwartungen für eine große Zukunft. Das gilt zuweilen selbst für viel höherstehende Rassen. Sie scheinen das Leben in keiner Weise tatkräftig anzupacken; sie schauen rückwärts, niemals vorwärts. Aber bei Rassen in der Aufwärtsentwicklung herrscht immer ein starker Wille zu leben und zu wachsen.

Wir sind in unseren Theorien tatsächlich so festgefahren, daß wir unbewußt die Verdrehung von Tatsachen zulassen. Schließlich wurden manche dieser alten Gestalten im Gebäude unseres Wissens vom Menschen nicht gerade genau nach dem Leben gezeichnet. Die Imagination hat den Modellierern ihren künstlerischen Beistand zuteil werden lassen - und in manchen Fällen würde dies sehr wohl zum Besten für uns gewesen sein - denn es waren oft nur Schädel oder Teile davon, von denen ausgegangen wurde. Man gebe dem Neandertaler ein sauber rasiertes Gesicht und kämme und scheitele sein Haar vernünftig, bekleide ihn und es wäre kaum etwas, das gegen seine direkte Abstammung von den majestätischen Körpern in Washington und Westminster spricht. Der moderne Künstler und Wissenschaftler haben ihn so gekleidet, daß er den uranfänglichen Hinterwäldler darstellt.

Doch um ernsthaft zu sprechen: Haben wir nicht die Verfechter der Wissenschaft wegen der Gebeine des Menschen aus dem Altertum streiten sehen wie Griechen und Trojaner wegen Patroklos? Die einen möchten ihn nur als feinen Gentleman; die anderen behaart und scheußlich. Tatsache ist, daß schöne und häßliche Schädel gefunden wurden, und das Übrige hat die wissenschaftliche Findigkeit besorgt. Sie hat eine Reihe von Geschöpfen geschaffen, die aus dem gleichen Stoff wie Traumbilder gemacht sind - oder beinahe aus dem gleichen Stoff. Das alles beweist nur, daß es damals so wie heute niedere Arten von Menschen auf Erden gab, und daß diese niederen Arten gewisse Teile von Europa, Afrika und andere Teile der Erde bevölkerten. Während der letzten 5000 Jahre - die Zeit, über die uns etwas bekannt ist - haben Rassen jeden Grades der Vermischung und der Barbarei existiert: Rassen, so zivilisiert wie wir, und Rassen, so wild wie man sie sich nur vorstellen kann; und alle Analogie, aller gesunde Menschenverstand sprechen dafür, daß, wenn der primitive Mensch in Frankreich aufgetreten ist, Viktor Hugo irgendwo anders geschrieben haben würde. Gibt es irgendeine Aufzeichnung, die zeigt, wie sich der Höhlenmensch zum Wissenschaftler entwickelt? Gewiß, es gibt herrliche alte Rassen wie die Maoris, die amerikanischen Indianer, die Zulus und viele andere, die bis vor kurzem in einem verhältnismäßig primitiven Zustand lebten, denen aber neue Verhältnisse und die Berührung mit einer aggressiveren Zivilisation einen Auftrieb auf dem Pfade des Fortschritts geben können. Diese stehen dem Affen nicht näher als wir; und sie haben auf jeden Fall eine genau festgelegte und oft sehr hohe eigene Kultur. Der Maori und die Rothaut nehmen ungezwungen die Schulung an und halten in der modernen Gesellschaft ihr Eigenes in Ehren, was bei dem Andamaner, dem Australneger oder dem Buschmann nicht der Fall ist.

In Mittelaustralien finden wir einen Menschen, der augenscheinlich ein zur Auslöschung bestimmter sterbender Überrest ist, einer der letzten Nachkommen, der unschätzbare Zeitalter hinter sich und bestenfalls ein paar Jahrhunderte vor sich hat. Warum sollten wir, wenn wir denselben Menschentyp etwa 50000 Jahre oder sogar eine Million Jahre vor Chr. vorfinden, ihn uns als den direkten Vorfahren einer lebensstarken Menschheit vorstellen? Auch er kann ein verfallender Überrest gewesen sein. Wenn wir ihn jetzt als ein bloßes Überbleibsel erkennen, das sich auf halbem Wege zwischen Greisenalter und dem Grab befindet, warum ihn damals als einen heiteren, jungen, flotten Burschen betrachten, der der Gründung unserer gegenwärtigen Kultur entgegensah? Wenn seine Abkömmlinge in Europa und anderswo all diesen Fortschritt gemacht haben, warum sind sie dann in Australien stehen geblieben? Kennen wir irgend jemand, der buchstäblich gesprochen während der ganzen 80 Jahre seines Lebens ein kleines Kind geblieben ist, in seiner Wiege liegt und Milch aus der Flasche trinkt? Wir schreiten vom Säugling fort zur Kindheit, zur Jugend, zur Männlichkeit, zum hohen Alter und zum Tod, denn diese Zyklen sind für alles Lebende natürlich. Wieso sollten die menschlichen Rassen dem entgehen?

Wir sprechen von der 'Kindheit der Rasse', haben aber nur eine unbestimmte Vorstellung davon, was das bedeutet. Doch wir sollten es wissen, denn wir haben in der Geschichte zahllose Beispiele. Eine Rasse in ihrer Kindheit ist eine Rasse von Pionieren; sie haben die Verkrampfungen alter und festgefahrener Verhältnisse abgeworfen; sie sind im äußeren Leben wie Kinder, ungeschliffen, willensstark und entschlußfähig, aufnahmefähig und oft unbarmherzig. Aber sie sind bestimmt zivilisierte Menschen und die Erben zivilisierter Überlieferungen ihrer Vorväter. In religiöser Hinsicht neigen sie zu einem großen ernsten Vertrauen an die richtige Regelung der Dinge; an die Gerechtigkeit Gottes oder der Götter oder des Schicksals.

Nun, wenn die Lehre vom 'primitiven Menschen' wahr ist, ist das dann nicht eine Republik der Indianer? Der Indianer hatte und hat edle Ideale und hat selbst während seiner Zeit des Verfalls große Vorbilder aus seinem Volke hervorgebracht, die in gleicher Höhe mit den allerhöchsten und besten Denkern stehen. In Amerika entstand eine große Zivilisation: warum in aller Welt hat sich die Allmächtige Vorsehung die Mühe gemacht, die Pilgerväter über den Ozean zu schaffen, wenn der Indianer genau so gut zu Washington, Jefferson und den übrigen hätte 'entwickelt' werden können? Der Grund ist einfach folgender: Man kann nicht einen alten Mann von achtzig Jahren hernehmen und ihn zu einem Jüngling von achtzehn Jahren 'entwickeln'. Ein Kind muß geboren werden und aufwachsen, um ein Mann zu werden; das Werk der Jahre kann man nicht ungeschehen machen. Die Natur hat für jetzt oder für immer ihr aktives Werk mit den Indianern vollbracht: sie hat große Zivilisationen durch sie geschaffen und hervorragende Literatur aus ihrem mentalen und spirituellen Wirken erhalten. Doch sie hatten ihre Zeit lange vor dem geschichtlichen Zeitalter. Alles, was mit ihnen in Zusammenhang steht deutet auf ein sehr großes Alter, auf unermeßlich hohes Alter hin. Wenn auch unter ihnen die Zivilisation nicht immer glänzend gewesen sein mag, so war doch beständig eine hohe Stufe der Kultur, der Sitten, Würde, vornehmen und ernsten Betragens und ein Gefühl für das Spirituelle unter ihnen. Sie besaßen auch einen außerordentlich feinen Stil in der Art und Weise ihres öffentlichen Auftretens. Diese Dinge hatten sie; und diese Dinge wurden noch niemals in einer Rasse gefunden, die in ihren Kinderschuhen steckt. Sie sind der innere Gehalt vergessener Zivilisation. Die unmateriellsten Dinge sind die dauerhaftesten: ein Gefühl für Stil in der Sprache und den Sitten bleibt noch lange, selbst wenn eine Literatur in Vergessenheit geraten ist.

So sieht die Geschichte des sogenannten 'primitiven Menschen' aus: Schon vor Zeitaltern sind seine Vorfahren aus dem Gesichtsfeld gerückt, wie die Rothäute bewahrten sie das spirituelle Fluidum früherer Kultur, doch nur wenig Zeugnis materieller Art. Schon vor Zeitaltern hatten sie vergessen, daß ihre Ahnen einst zivilisiert waren. Weit früher noch hatten sie vielleicht eine verblichene Zivilisation; und wiederum vor dieser eine in ihrer Blüte stehende mit, nach allem was wir wissen, denselben 'Segnungen', deren wir uns jetzt erfreuen. Sie blickten zurück auf ihre Vorfahren, die heldenmütige, aus einem Dutzend bereits zivilisierter Rassen zusammengezogene Pioniere waren. Vielleicht waren diese in ein neues Land geführt worden und hatten die verfallenden Überreste von Rassen, die sie dort vorfanden, hinweggefegt oder hatten sich mit ihnen vermischt, gründeten große und kraftvolle Republiken oder Kaiserreiche, in denen die Sonne niemals unterging. Sie wurden reich und gebildet, führten Kriege und gaben sich dem Laster hin; schufen großartige Literatur, stiegen empor und fielen, erhoben sich erneut und fielen wieder; sie wuchsen von der Jugend der Rasse heran zur Männlichkeit und dann zu hohem Alter, sanken tiefer und tiefer, bis der Lebensstrom von ihnen zu neuen Rassen oder zu Vermischungen übergegangen waren, zum mehr oder weniger aufrechtgehenden Pithekanthropus, zu einem Überbleibsel aus der Vergangenheit wurden. Es ist eine nicht tausende sondern Millionen von Jahren alte Geschichte.

Wenn wir am äußersten Rande der Geschichte stehen und zurückblicken, dann sehen wir im nördlichen und westlichen Europa nicht Bilder der Wildheit emportauchen, sondern Bilder verfallender Zivilisationen: einen Weg, der zu Helden und Halbgöttern führt, nicht zu Affenmenschen. Und das ist gerade das, was wir erwarten sollten: nirgends ist ein steter Aufstieg aus der Barbarei zu finden, sondern überall ein ewiges Auf und Ab. Sind die heutigen Bewohner der Ägäischen Inseln eine Repräsentation des Aufstieges seit Perikles vor fünfundzwanzig Jahrhunderten? Nein, aber der Lehre vom seligen Pithekanthropus entsprechend sollten sie es sein. Das heutige Griechenland mag im Aufstieg begriffen sein, aber es hat einen langen Weg vor sich, ehe es einen Punkt erreicht, der mit dem verglichen werden kann, von dem es ehemals fiel. Ägypten mag Aussicht darauf haben, aber noch bis vor verhältnismäßig kurzer Zeit herrschte an den Ufern des Nils Gesetzlosigkeit und ein Absinken in Barbarei. Geht man jedoch zurück bis ins zehnte Jahrhundert, dann kann man dort unter den großen Sultanen von Ismailia die wahrscheinlich aufgeklärteste Nation des Westens finden. In Architektur, Kunst, Literatur, Wissenschaft und Philosophie, in Fragen der Erziehung und der Art der Regierung, bei den Einrichtungen des Gesundheitswesens und den gewöhnlichen Annehmlichkeiten eines bescheidenen Lebens brauchte sie keinen Vergleich mit einer Nation vor oder nach ihr zu fürchten. Ihre Krankenhäuser waren gut ausgerüstet und wurden wissenschaftlich geleitet; die Tore ihrer großen Universität waren für jedermann offen, ganz gleich aus welchem Lande er kam oder welcher Religion er angehörte. Ihre Armeen schlugen auf der einen Seite die barbarischen Horden der Kreuzzügler zurück und auf der anderen Seite die alles zerstörenden Mongolen. Ägypten schlug sie zurück und rettete das mittelländische Küstengebiet.

Doch nur ein paar Jahrhunderte vor all dieser Stärke und diesem Glanz befand sich Ägypten im Sumpfe der Barbarei in den Händen heulenden und fanatischen Pöbels, der Mörder der Hypatia und ungewaschener Heiliger aus der Wüste. Wenn wir von diesem Punkte aus noch weiter zurückgehen, finden wir es in aufeinanderfolgenden geschichtlichen Perioden der Scheinkultur unter den Römern; im Verfall unter den Ptolemäern; unter ihren eigenen letzten Dynastien, unfähig den Assyrern und Persern zu widerstehen. Dann kommen wir zu dem Glanz des zweiten ägyptischen Reiches, glänzend und kraftvoll; und wiederum vor diesem, mit einer Periode des Verfalls dazwischen, zu dem noch mächtigeren ersten Reich, zu den Erbauern der Pyramiden. Und so geht es zurück in das Dunkel der Zeit mit Niedergängen und Aufstiegen; und wann, in Gottes Namen, werden wir, wenn wir diesen Weg weiter zurückverfolgen, bei dem Pithekanthropus anlangen? Ägypten war ihm vor einem Jahrhundert näher als vor ein- zwei- drei- oder viertausend Jahren!

Wohin sollen wir schauen, um nicht dieselbe Entwicklung vorzufinden? Nach Peru? Heute scheinen die Nachkommen der Inkas am Boden zu liegen; vor fünfhundert Jahren bauten ihre Vorväter blendende Städte, wohnten in großer Pracht und Sicherheit, besiegten große Gebiete auf menschlichere Art und verwalteten sie segensreicher als irgendein Volk, das wir kennen, es je tat. Und, wenn wir in das entfernte, nicht zu erratende Altertum zurückgehen, werden wir finden, daß die prähistorischen Peruaner noch mächtigerer Werke fähig waren, als jener der Inkas!

Doch wenn man sich nun eine Zivilisation vorstellt, was uns die Geschichte oft genug zeigt, die in Anarchie verfallen ist und viele tausend Jahre ohne irgendwelchen erlösenden Impuls von außen, sozusagen in ihrem eigenen Saft schmoren gelassen wird. Bald würden keine Städte mehr stehen, es gäbe keine Regierung, keine Industrie, keine Landwirtschaft, keine Erziehung mehr. Die Herstellung von Büchern würde aufhören, die Kunst des Schreibens ginge verloren; die einzigen Beschäftigungen wären Überfälle und Mord. Wenn wir lange genug warten würden, könnten wir tiefer stehende Menschen als die Andamanen über die Gräber vergessener Städte schreiten sehen. Auf diese Weise werden die niederen Arten der Menschheit erzeugt. Isolierung, Sichabsondern, Abgeschlossenheit - hier haben wir die große Gefahr.

Perioden des Niederganges, des Schlafes, kommen für jede Rasse so sicher, wie der Winter für das Jahr. Und immer ist es der erlösende Kontakt mit einer anderen, mit einer aktiven oder tätigen Rasse, der sie beendet. Das Mittelalter und seine Finsternis würden nie vorübergegangen sein, wenn es keine Moslemkultur gegeben hätte, die das Christentum erhellte; die Moslems wären nie zivilisiert worden, wenn die Armeen der Nachfolger Mohammeds nicht von Persien, Indien und Griechenland gelernt hätten. Niemals gab es ein großes Zeitalter, das seinen Ansporn, die Saat seiner Größe, nicht irgendeiner anderen Rasse, irgendeiner älteren Zivilisation verdankte. Wo ist dann der primitive Mensch? Wenn wir auch alle Eden durchsuchen, wir werden ihn, Adam, nirgends finden.