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Die Bhagavad-Gita

S. H.: Wenn sich jemand nur aus intellektueller Wißbegierde mit der Bhagavad-Gîtâ befaßt, wird er kein sehr tiefes Verständnis für dieses alte klassische Werk erlangen. Man sagt, daß es eine verborgene Seite der Gîtâ gibt, daß die Worte, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, nur die äußere Hülle für die innere Bedeutung sind, die wir mit anderen Augen sehen müssen. Es mag scheinen, als sei es ein weiter Sprung von der Betrachtung der universalen Wahrheiten auf spiritueller Ebene bis zu den praktischen Problemen unserer Zeit, bis zu jenen Lebensbedingungen, in die wir alle verwoben sind. Das stimmt, wenn wir die geistigen Welten als etwas Unveränderliches und von anderen Getrenntes betrachten. Ich bin aber der Meinung, daß die eindringliche Botschaft dieser Wahrheiten lautet, daß die Welt des Geistes nichts Abgesondertes ist, sondern eine dynamische Kraft, die alle unsere Handlungen und jeden Teil unseres Lebens durchdringt, so wie der starke Wind des Geistes, der unser ganzes Leben hindurch weht, uns erfrischt, reinigt und Ordnung schafft - wenn wir es nur gestatten.

 

I. M. O.: Ich glaube, daß die Bhagavad-Gîtâ, was soviel wie das Göttliche Lied bedeutet, viel älter ist, als unsere westlichen Gelehrten behaupten, wenn sie sagen, daß sie etwa 500 v. Chr. niedergeschrieben wurde. Sie beginnt mit einer anscheinend bevorstehenden Schlacht, die in vorhistorischer Zeit in Indien einmal stattgefunden hat. Die Gîtâ selbst offenbart meiner Meinung nach eine recht ungewöhnliche Vereinigung von Herz und Geist - Herz im Sinne des spirituellen Zentrums unseres Wesens. Als religiöse Schrift ist sie eine kleine Episode aus Indiens großem Epos, Mahâbhârata.

In Wirklichkeit handelt das Gedicht von einem Kampf ganz anderer Art. Es ist ein Kampf, der aufgenommen wird, sobald der menschliche Teil eines Menschen die Existenz eines höheren Selbst in sich als Mensch gewahr wird, denn dann muß er seine Wahl treffen. Er muß zwischen den verschiedenen Neigungen in seiner Natur wählen. Das sind zum Beispiel die Forderungen seines persönlichen Selbst mit den egoistischen Wünschen und den Ansprüchen, die dem Ruf des spirituellen Lebens, das letzten Endes universal ist, gegenüberstehen. Somit ist die Gîtâ, obgleich sie nach außen hin betrachtet ein altes Buch ist, immer jung und befaßt sich mit den Problemen des täglichen Lebens, denen wir auch heute noch gegenüberstehen.

Krishna ist der göttliche Wagenlenker Arjunas, der den Menschen, den Aspiranten, darstellt. Doch Krishna ist noch mehr als die Stimme unseres höheren Selbst. Er soll als Mensch im Jahre 3102 v. Chr. gestorben sein, wodurch das Kali-Yuga oder das dunkle Zeitalter eingeleitet wurde. Er ist ein Avatâra oder die Verkörperung der geistigen Wesenheit unseres Universums. Später werden wir noch sehen, daß unser höheres Selbst und der göttliche Krishna in Essenz eins sind.

Die achtzehn Kapitel der Bhagavad-Gîtâ können in drei Gruppen von je sechs Kapitel eingeteilt werden. Die erste Gruppe handelt von der Sehnsucht, die spirituelle Seite des Lebens besser erfassen zu können. Die zweite beschreibt die Inspiration (Erleuchtung), denn in dieser Gruppe von sechs Kapiteln bittet Arjuna darum, ihm die wahre Erscheinung Krishnas zu zeigen. Daraufhin nimmt er den strahlenden kosmischen Geist wahr, wird dadurch erleuchtet und erkennt, daß er unfähig ist, diese Enthüllung lange zu ertragen. Die letzten sechs Kapitel könnten Verwirklichung genannt werden, denn darin wird gezeigt, daß das, was gelernt und offenbart worden ist, nun in die Praxis umgesetzt werden muß, denn ganz gleich, welches Wissen und welche Fähigkeiten ein Mensch auch besitzen mag, er kann nur als ein Weiser bezeichnet werden, wenn er "sich dem Wohle aller Geschöpfe widmet."

Damit kommen wir zum wichtigsten Punkt der Gîtâ, zur Entsagung. Wir werden ermutigt, zu handeln um der Handlung willen und nicht wegen der Resultate. Letztere sollten wir Karma, dem Gesetz von Ursache und Wirkung, überlassen. Dieses göttliche Desinteresse oder auch dieser Gleichmut oder, wenn wir wollen, dieses Gelöstsein bezieht sich nicht nur auf unsere Gedanken und Handlungen, sondern auch auf unsere Motive. Wir sollen denken, tun und sagen, was gedacht, getan und gesagt werden muß, aber nur, weil es notwendig ist und nicht wegen des eigenen Vorteils.

In seiner Eigenschaft als Avatâra verzichtet Krishna auf vieles, um sich von Zeitalter zu Zeitalter, immer wenn Ungerechtigkeit unter uns überhand nimmt, wieder zu verkörpern. Das mindeste, was wir tun können, ist, zugunsten des Allgemeinwohles unserer Mitmenschen auf unsere Selbstsucht zu verzichten. Entsagung bedeutet nicht nur, die Früchte des Handelns außer acht zu lassen, sondern auch wahrhaft selbstlos zu sein, so daß wir für andere wirken, ohne daß wir die Genugtuung erstreben, als Wohltäter anerkannt zu werden. Sogar die Ergebenheit müssen wir auf den Altar legen und auf den Anspruch verzichten, die Resultate unserer Ergebenheit entgegenzunehmen. Nur aus einem so reinen Opfer kann die Erkenntnis des geistigen Lebens entspringen. Die Gîtâ verkündet, wenn wir diesem Pfad folgen, dann werden wir unsere psychologischen Knoten erfolgreich lösen und auf diese Weise die dichte Hülle unserer Natur in ein durchsichtiges Gefäß umwandeln, damit das Licht in uns sich offenbaren kann.

Wir werden in einem gewissen Sinne in ein neues Leben wiedergeboren, denn unser Suchen nach Selbsterkenntnis und moralischer Reinheit wird uns zu wahrhaft menschlichen Werten führen, durch die alles, was wir tun und sagen, beseelt wird.

In der Gîtâ werden vier Hauptpfade gezeigt, die zur Erkenntnis des Göttlichen führen. Der erste Pfad ist die Intuition oder die unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit, des wirklichen Universums innerhalb der Erscheinung; der zweite ist die Ergebenheit, die manchmal auch Glaube genannt wird - nicht blinder Glaube, vielmehr hingebungsvolles Vertrauen; der dritte Pfad wird Erkenntnis, intellektuelle Beweisführung über das Leben und das Universum genannt; und der vierte ist Handeln oder desinteressiertes Bemühen in dem Sinne, daß wir nicht an den Früchten hängen. Wenn wir schließlich unserem höheren Selbst entgegentreten sollen, müssen wir alle vier Pfade in ihrer majestätischen Vereinigung betreten. Wie jedoch Krishna sagt, erreichen alle Pfade, die auf ihn, den Erhabenen, ausgerichtet sind, dasselbe Ziel, wie verschieden die Wege dem Anschein nach auch sein mögen.

 

I. V. M.: Ich frage mich, warum ein so altes Buch wie die Bhagavad-Gîtâ heute so populär geworden ist. Ich glaube, das liegt nur an der Macht der erhabenen Lehren, die darin enthalten sind, und daran, daß diese universalen Prinzipien fortdauern, auch wenn sie in den verschiedenen philosophischen Schriften der Welt auf mannigfaltige Weise ausgedrückt werden. Dazu kommt noch, daß es ein äußerst praktisches Buch ist und in vieler Hinsicht eines der schönsten Bücher. Es hilft uns zu verstehen, wie man in der Gesellschaft leben und dennoch spirituelle Werte zur wirklichen Antriebskraft in unserem Leben machen kann, denn die Gîtâ betont besonders die Wichtigkeit des inneren Lebens; und dieses innere Leben treibt uns und alles Leben im Universum an.

In der gegenwärtigen religiösen und sozialen Umwälzung erkennt man immer mehr, daß der Einzelmensch wichtig ist. Es wird weniger Gewicht auf äußere Formalitäten gelegt, sondern das Individuum wird in den Vordergrund gestellt. Jeder von uns muß seinen eigenen Weg finden, jeder ist sein eigener Lebensweg. Viele stellen die Fragen: "Warum leben wir überhaupt?" "Wie kommen wir mit uns selbst zurecht, und wie geben wir unserem Alltagsleben Sinn und Zweck?"

Zuweilen überkommt uns, während wir unsere täglichen Pflichten erfüllen, eine Ahnung von etwas Höherem, das uns das Gefühl eingibt, daß es etwas Höheres geben muß, dem wir alle angehören. Und wahrhaftig, wir haben wirklich eine größere Pflicht der gesamten Menschheit gegenüber; das kommt daher, weil wir alle durch den gemeinsamen göttlichen Funken in uns miteinander verbunden sind. Ich glaube, daß alle großen Menschen diese Intuition hatten.

Wir dürfen nicht vergessen, daß es viele verschiedene Ausgaben der Gîtâ gibt und wir von den Übersetzern abhängig sind. Die einen verstehen die orientalische Philosophie besser als andere, manche legen die eigene Vorstellung in ihre Übersetzung hinein, und einige stellen den Weg der persönlichen Glückseligkeit in den Vordergrund. Dadurch sind einige Ausgaben besser als andere. Ich persönlich liebe Radhakrishnans Übersetzung, weil er ein ausgezeichneter Gelehrter ist, der sich auch auf andere östliche und westliche Denker bezieht, um die Universalität der Begriffe zu zeigen. Bei ihm erscheint auch die christliche Bibel in neuem Licht, weil er sich auf Stellen bezieht, die die Gedanken in der Gîtâ noch untermauern.

Die Übersetzung, die wir für unsere Besprechung ausgesucht haben und die den Geist der Wahrheit, von der wir sprechen, am besten erfaßt, ist die von William Q. Judge. Diese Bhagavad-Gîtâ wurde um das Jahr 1890 herum herausgegeben und war eine Antwort auf das dringende Bedürfnis, die Kluft zwischen der östlichen Philosophie und dem westlichen Geist zu überbrücken. In seinen einführenden Worten schreibt Judge:

Ein gewaltiger Geist weht durch die Seiten der Bhagavad-Gîtâ. Sie besitzt den bezaubernden Einfluß alles Schönen; doch mit gleicher Stärke erfüllt sie den Menschen wie das Getöse sich sammelnder Armeen oder der Donner großer Wasserfälle. Sie wendet sich gleichzeitig an den Krieger und an den Philosophen; dem einen zeigt sie die Gerechtigkeit des gesetzmäßigen Handelns und dem anderen die Gemütsruhe, die derjenige erlangt, der durch Tätigsein Untätigsein erreicht.

(Studien über die Bhagavad-Gîtâ, 2. Kap.)

Vor allem möchte ich erwähnen, denn es ist von Bedeutung, daß am Ende eines jeden Kapitels ein Kolophon, eine Art Refrain, steht. Dieser Refrain sagt uns, daß die vollständige Wahrheit nicht nur Religion ist, sie ist ebenso Wissenschaft und Philosophie. Es genügt nicht nur zu glauben, obgleich wirklicher Glaube viel vollbringt. Wir sollten vielmehr alle unsere Fähigkeiten anwenden; wir müssen fragen und forschen und nur das annehmen, womit wir vollkommen übereinstimmen. Das Kolophon lautet wie folgt:

So endet in den Upanishaden, genannt die heilige Bhagavad-Gîtâ, in der Wissenschaft vom Höchsten Geist, im Buche der Hingabe, im Zwiegespräch zwischen dem Heiligen Krishna und Arjuna, das erste Kapitel mit dem Titel: Die Verzagtheit des Arjuna.

Wir könnten uns den ganzen Nachmittag den Kopf darüber zerbrechen, was diese Verzagtheit bedeutet, denn wir selbst sind Arjuna. Wir fühlen seine Verzweiflung mit ihm, wenn er versucht, dem spirituellen Pfad zu folgen, wenn er mit den aufkommenden Zweifeln ringt und Kämpfe mit den verschiedenen Teilen seiner Natur ausficht. Er befindet sich auf dem Schlachtfeld und hat Krishna zu seinem Wagenlenker gewählt. Als er aber sieht, daß Freunde und Verwandte gegen ihn aufmarschiert sind, weigert er sich zu kämpfen. Doch Krishna sagt: "Du mußt kämpfen." Das ist Arjunas Dilemma im ersten Kapitel. In den nun folgenden siebzehn Kapiteln gibt ihm Krishna Hinweise auf die verschiedenen Aspekte seiner Pflicht als Mensch. Er zeigt ihm einige der großen Prinzipien, auf denen alles Leben aufgebaut ist, und erklärt ihm, was das Motiv für eine Handlung sein soll und den Unterschied zwischen Weisheit und Unwissenheit. Zuletzt siegt Arjuna. Er erkennt, daß Krishna sein eigenes höheres Selbst ist und zerstreut die Zweifel, die er hatte.

 

S. H.: Die Verzagtheit Arjunas bedeutet in der modernen Terminologie, daß Arjuna ein Problem hat. Ich glaube jedoch, daß alle, die darüber nachdenken, finden werden, daß jeder Mensch Probleme hat. Jene, die bisher zusammenkamen, um die Probleme unserer Zivilisation zu lösen, haben diese ganz offensichtlich bisher nur zum Teil gelöst. Das kommt wahrscheinlich daher, weil sie nicht genügend wissen. Ich glaube, wenn man die Gîtâ als Lehrbuch zur Lösung von Problemen nehmen würde, so wie es heute Anweisungen und Methoden zur Lösung technischer Probleme gibt, dann würde man in diesem Buch nicht nur die Lösung für die Probleme finden, sondern auch, daß die Methode so modern ist wie kaum eine andere, die wir heute bringen können. Arjuna war verzagt, weil er unfähig war, sich selbst in bezug auf seine eigene Verwandtschaft mit dem Universum zu erkennen, und das lernt er nun. Was könnte heute für jeden von uns wichtiger zu lernen sein, als die wahre Verwandtschaft untereinander zu erkennen, denn dadurch würden viele Schwierigkeiten in der Welt behoben werden.

 

I. M. O.: Ich weiß, es klingt sehr gefühllos, wenn Arjuna gegen alle diese Menschen, die seine Verwandten sind, kämpfen soll. Eigentlich müssen wir uns fragen, was das alles bedeuten soll, denn später kommt in dem Buch zum Ausdruck, daß Krishna ein mitleidsvolles Wesen ist. Im vierten Kapitel teilt er Arjuna mit, daß er, Krishna, sich Zeitalter um Zeitalter, wenn Unruhen, Gewalttätigkeiten und Selbstsucht unter den Menschen überhand nehmen, verkörpert, um ihnen erneut den spirituellen Pfad zu zeigen. Wenn Krishna so voller Mitleid ist, wie kann er dann Arjuna drängen, gegen jene zu kämpfen, die er als seine Verwandten, Freunde und Lehrer betrachtet? Es ist wichtig zu wissen, daß die Sanskritworte, mit denen viele dieser Personen bezeichnet werden, eigentlich die Bezeichnungen für die Eigenschaften sind, die wir haben. Wenn Krishna daher Arjuna drängt, jene 'Freunde' zu bekämpfen, mit denen er so vertraut ist, dann meint er damit die Gewohnheiten und die Dinge, die er liebte, haßte, die er bevorzugte, sich wünschte und von denen er vielleicht auch lernte.

 

I. V. M.: Es ist bezeichnend, daß das allererste Wort in der Gîtâ dharmakshetra 'Feld der Pflicht' lautet, was bedeuten könnte, daß unsere Seele das Schlachtfeld ist und daß die Erfahrungen des Lebens ein Teil des inneren Kampfes sind, den wir führen. Die Pfeile fliegen auch, während sich Arjuna bemüht, sein Gemüt zu beruhigen. W. Q. Judge weist darauf hin, daß Arjuna in seinem Innersten bereits die Entscheidung getroffen hatte. Der Verstand und das persönliche Selbst dieser Inkarnation müssen verstehen und müssen versuchen, sich daran zu erinnern, was das reinkarnierende Ego in früheren Leben bereits erreicht hat und daß es seine Pflicht ist, für die Wahrheit zu kämpfen und die Elemente in seiner Natur zu überwinden, die ihn in seiner Entwicklung hinderten und noch hindern.

Die Bibel enthält eine Parallele, die oft übersehen wird. Im Matthäus-Evangelium stehen die Verse: "Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein... Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig." Und dann: "Wer sein Leben findet, wird es verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden." Das ist in der Gîtâ gemeint: Nur wenn wir die Persönlichkeit vergessen und uns über die Sinne und die materiellen Dinge im Leben erheben können, kann sich das größere, das wirkliche Selbst offenbaren.

 

I. M. O.: Ich denke, Arjuna war deshalb verzagt, weil er nicht vollständig begriffen hatte, daß er, um sich dem Göttlichen in ihm nähern zu können, sich von den niederen, herabziehenden Elementen abwenden mußte. Er dachte, das wäre leicht; statt dessen erkennt er, daß es der höchsten Selbstbemeisterung bedarf, für die er sich entscheiden muß.

 

I. V. M.: Wir wissen, daß es diese erhabenere Pflicht oder dharma gibt, an der wir alle teilhaben; daß alles im Universum nach gewissen grundlegenden Gesetzen abläuft und daß wir alle Teile dieses Universums sind. Doch wir haben auch unsere eigene individuelle Pflicht, und diese Pflicht wird svadharma genannt. Diese Idee, unsere eigenen Angelegenheiten auf unsere eigene Weise zu regeln, findet bei den jungen Leuten von heute Anklang. Bei diesem Suchen nach Wirklichkeit sind viele Dinge zu beachten. Wir sind genau das, was wir aus uns bis zu diesem Punkt gemacht haben, und viel hängt von unserem Erkenntnisvermögen ab. Wir werden das sehen, worauf wir vorbereitet sind, und das, worauf wir nicht vorbereitet sind, werden wir nicht wahrnehmen können. Die niedere Seite in uns hat große Schwierigkeiten zu verstehen, was Geist bedeutet: Wir versuchen ihn in Dingen zu finden, die offenbart sind, die in der Erscheinungswelt liegen und die wir als solche begreifen können.

 

I. M. O.: Nach der Symbolik der Gîtâ zu urteilen, scheint der blinde Dhritarâshtra die Herrschaft über den Körper übernommen zu haben. Obgleich er ein König genannt wird, sollte doch der höhere Teil unsere gesamte Natur beherrschen; weil aber er, Dhritarâshtra, die Herrschaft an sich gerissen hat, wurde er in diesen Kampf zwischen Arjuna und dem niederen Selbst hineingezogen. Er ist blind, weil die materielle Betrachtungsweise in bezug auf die Ursachen, die alle Menschen beeinflussen, immer blind macht. Sein Sohn Duryodhana ist eine Art Stellvertreter, das leidenschaftliche Selbst; er ist sehr nervös und versucht, die Führung zu übernehmen. Damit kommen wir zu einem wichtigen Punkt in der Gîtâ, den drei Eigenschaften im Leben: tamas oder Trägheit, rajas oder Leidenschaft (im Sinne von Energie, gut oder schlecht) und sattva, die Wahrheit oder Reinheit. Diese drei sind während des ganzen Lebens wirksam, und niemand ist darüber erhaben.

 

I. V. M.: Wichtig ist das Motiv, nicht wahr? Das ist der Grundgedanke in der gesamten Gîtâ - daß wir immer wieder und wieder zum Leben zurückkehren werden und leiden und alle möglichen Probleme haben, bis wir unsere Motive höher stellen und nicht mehr damit verbunden sind, so daß wir handeln können, ohne die Resultate zu beachten. Das aber ist sehr schwer, denn der persönliche Mensch in uns möchte immer weiter vorwärtskommen, er möchte mit dem, was er schafft, verbunden sein und einen Vorteil davon haben. Wir täuschen uns selbst, wenn wir glauben, unpersönlich zu handeln, während die Handlung in Wirklichkeit persönlich ist.

Als ich das erste Mal von der Idee des Nichtverbundenseins hörte, dachte ich, wir sollten uns von der Welt der Menschen absondern und versuchen, uns zu bemühen, die gewöhnlichen Erfahrungen im Leben zu meiden. Das ist aber ganz und gar nicht damit gemeint. Eine Stelle in der Gîtâ besagt, wenn wir dem wahren Selbst erlaubt haben, seinen Einfluß in unserem Leben auszuüben, dann sind wir von Sünde so frei, wie das Lotusblatt vom Wasser unberührt bleibt. Das ist ein schöner Vergleich, denn das Blatt ruht direkt auf dem Wasser, wird aber nicht davon berührt. Ebenso sind wir ganz und gar ein Teil dieser Welt und sind hier, um zu erfahren, was uns das Leben zu geben hat. Doch unser höheres Selbst bleibt von der Unruhe unserer Persönlichkeit unberührt. Nur wenn wir den Schwierigkeiten von der höheren Warte aus entgegentreten, werden wir nach und nach den Punkt erreichen, an dem wir von den Dingen, die sich ereignen, nicht in diesem Maße beeinflußt werden, und können, wie es in der Gîtâ heißt, in Freud und Leid "gleichmütig" sein. Dieses "Paar der Gegensätze" veranlaßt uns so oft, unschlüssig zu sein.

 

I. M. O.: Vielleicht bedeutet dieses Desinteresse, das Krishna so betont und mit den verschiedensten Namen, wie zum Beispiel Losgelöstsein, ausdrückt, daß das wirkliche Selbst von diesem Paar der Gegensätze "Freude und Schmerz", oder was es auch immer sein mag, nicht hin- und hergerissen wird und daß wir das Gleichgewichtszentrum in uns suchen und finden müssen, denn dann werden wir Meister unserer Seele sein.

 

I. V. M.: Ich bin der Meinung, daß der Wert eines solchen Buches wie die Gîtâ darin liegt, ein ganz persönliches Buch zu sein. Jeder, der es liest, wird etwas bekommen, das gerade für ihn richtig ist. Ein großartiger Vergleich, der tatsächlich aus dem Mahabharata stammt, dem die Gîtâ entnommen ist, deutet darauf hin, wie töricht derjenige ist, der die Lehren in blindem Glauben hinnimmt; denn wir können die wahre Natur der Dinge nicht erkennen, wenn wir nur hören, ohne wirklich darüber nachzudenken und Fragen zu stellen. Das geht genausowenig, wie der Löffel eine Vorstellung vom Geschmack der Suppe haben kann. Hier müssen sich die Vernunft, oder noch besser, die Intuition und die Kraft der Unterscheidung entfalten. Als Arjuna so verzagt war, drängte ihn Krishna, "diese Weisheit durch Dienstleistung, durch entschlossenes Forschen, durch Fragen und durch Demut zu suchen." Ich denke, damit ist das Problem recht gut gelöst.

 

S. H.: Für mich ist die Gîtâ ein großes Lehrbuch, mit dem wir Erkenntnis über unsere eigene Natur erlangen können und wie wir unsere Fähigkeiten für eine ausgeglichene Lebensart einsetzen müssen. Ich denke, Krishna hat beinahe das ganze Buch hindurch darauf hingewiesen. Auch daß es einen Teil von uns gibt, den Teil nämlich, der durch Krishna versinnbildlicht wird, der losgelöst und unbeeindruckt ist und der durch Ereignisse oder Umstände, die eintreten können, nie beeinflußt wird.

Unser Verständnis für die Bhagavad-Gîtâ wächst in dem Maße an Tiefe, in dem wir uns mit ihr beschäftigen. Ich glaube jedoch, in einer Hinsicht ist sie eindeutig, denn sie zeigt deutlich, daß der Weg zur Erleuchtung nicht leicht ist. Krishna sagt, daß unter uns Tausenden von Sterblichen vielleicht einer ist, der nach Vollkommenheit strebt, und unter "jenen, die so streben, vielleicht ein einziger ist, der mich erkennt, wie ich bin." Doch damit man nicht meinen könnte, die Bemühungen hätten nichts mit den täglichen Erfahrungen zu tun, sagt Krishna ebenfalls, daß auch nur ein wenig von diesem Wissen den Menschen vor großer Gefahr schützt. So können wir diese göttlichen Wahrheiten in den kleinsten, der alltäglichsten Routine unterworfenen Pflichten in unserem Leben anwenden, denn es gibt nichts, das nicht durch unser "Können bei der Durchführung von Handlungen" besser gemacht werden könnte.