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Mehr Licht

In unserem kleinen Leben, das uns mit seinen Sehnsüchten und Forderungen so wichtig erscheint, gibt es Momente und Ereignisse, die über den Alltag, über die Grenzen der Zeitbefangenheit hinausweisen. Durch sie erkennen wir intuitiv und mit plötzlicher Klarheit, daß die Welt voller Lichter und Geheimnisse ist, denen sich der Mensch mit seinem ichbezogenen Denken selbst verschließt. In diesen Augenblicken "leben" wir im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Licht in unserem Innersten wurde angesprochen. Eine innere Bereitschaft hat es ausgelöst.

Im hektischen Ablauf des täglichen Lebens bleibt uns eine ganze Welt verschlossen, - und noch dazu eine wirklichere - die Welt des Bewußtseins. Durch unsere Konzentration nach außen gehen wir achtlos an den kleinen und großen Wundern am Wegesrand vorüber, ohne zu bemerken, daß alle Geschöpfe in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen nur Parabeln sind, Reflexionen eines alles durchdringenden und erhaltenden Lichtes.

Die vielgestaltigen Probleme, die ständig von innen oder von außen auftauchen, lassen im allgemeinen wenig Platz zum Nachdenken über die wahren inneren Zusammenhänge des Seins und des Daseins. Nur wenige reagieren auf den Weckruf. Es sind die wenigen, die das Staunen nicht verlernt haben und die immer wieder sinnend fragen: "Warum?" Es sind diejenigen, die aus Liebe zur Erkenntnis des All-Ichs, aus Liebe zur Erkenntnis ihres eigenen wahren Wesens die vergängliche Persönlichkeit nicht überbewerten; die aufrichtig sind mit sich selbst; die die Beweggründe des Motivs ihrer Handlungen überwachen; die wissen, daß auch Leisetreten Spuren hinterläßt, Spuren, die sich im Kreise bewegen, niemals aber einen Durchbruch bringen, der in die Freiheit führt.

Die Menge freut sich über die Anerkennung ihrer Person und ihrer kurzlebigen Leistungen. Sie weint über zerbrochenes Spielzeug; ihr fehlt die Richtschnur des Lebens. Doch ein Phänomen begleitet uns alle, es ist die Sehnsucht, die in uns, verschüttet und doch lebendig, existiert, eine Sehnsucht, die sich in einem unstillbaren Verlangen nach dem Wahren, dem Wirklichen, dem Erhabenen offenbart. Es ist ein Sehnen nach unserer geistigen Heimat, auch wenn es oftmals scheint, als sei der Funke verlöscht. Ihre Quellkraft liegt in der spirituellen Seele des Menschen, in jenem Bereich unserer Konstitution, der "todlos bis zum Ende des Sonnensystems" existiert. Dieses reine Sehnen kann niemals zur Ruhe kommen, bevor wir, der "verlorene Sohn", nicht heimgefunden haben "ins Vaterhaus", d. h., bevor sich nicht jene mystische, geheimnisvolle Vereinigung mit unserem eigenen göttlichen Selbst vollzogen hat.

Einer der allgemein anerkannten Grundsätze der Philosophie des Altertums besagt, daß die gesamte Schöpfung, vom Atom bis zu den Milchstraßen-Systemen (auch diese sind lebende, wachsende Wesenheiten), eine epochale Entwicklung hinter sich hat, die bis zu den Anfängen unseres kosmischen Systems zurückreicht. In diesen ungeheuren Zeitläufen wurden physische, psychische, mentale und spirituelle Kräfte entfaltet, die alle unaufhörlich einem Reifeprozeß unterworfen sind, der zu immer größerer Vollkommenheit führt - ohne Ende.

Die Wissenschaft lehrt, daß der Impuls zur biologischen Entwicklung allem innewohnt, auch dem Menschen, daß im einzelnen das Ganze lebt und daß das Ganze in das einzelne hineinwirkt. Die esoterische Philosophie geht weiter und erklärt, daß allem evolutionären Geschehen die Tatsache zugrunde liegt, daß das Innerste einer jeden organischen Wesenheit eine göttliche Monade ist, die nach Selbstdarstellung ringt. Alle seit Beginn des Weltwerdens im Herzen dieser Wesenheit potentiell gespeicherten Möglichkeiten machen Wandlung auf Wandlung durch. Das, was als natürliche Veranlagung latent vorhanden ist, wird aktive schöpferische Fähigkeit. Auf die menschliche Rasse bezogen: Der adamische Mensch, ursprünglich ein Wesen ohne Gemüt, entwickelt sich durch Äonen zu einem selbstbewußten Gott, der durch einen Strahl des Christusgeistes erleuchtet wird.

Noch stehen wir mitten im ewigen großen Werden. Noch ist der Schöpfungsakt nicht vollzogen, und noch geht es oftmals bei den Menschen nicht um letzte Seelengröße, sondern um Überwindung kleiner und kleinster selbstischer Impulse der Persönlichkeit. Wie schwierig das ist, weiß jeder, der sich ernsthaft bemüht. Und doch - es ist ein Streben nach dem Licht, ein Ringen um geistige Mündigkeit. Allmählich lernen wir, unsere Rechte unseren Pflichten unterzuordnen und in Ewigkeitswerten zu denken.

Alle Anstrengung geht nach innen, das wissen wir, und alles Vollkommene lehrt uns hoffen. Ist das nicht der Weg zur Befreiung? Langsam vollzieht sie sich, gegenwärtig noch in einem Auf und Ab. Sieg und Niederlage wechseln sich ab, weil noch ganze Bündel von Energien in unserer menschlichen Konstitution miteinander in Widerstreit liegen, weil sich noch keiner dem Einfluß der Anziehungskraft der beiden polaren Kräfte, Geist und Materie, entziehen kann. Wir sollten uns deshalb nicht wundern oder - schlimmer noch - darüber verärgert sein, daß es in der Erscheinungswelt nichts absolut Vollkommenes gibt. Alles ist relativ. Haben wir einen Idealzustand erreicht, so gibt es immer ein Höheres. Mit anderen Worten: Für den Einsichtigen sind alle Unvollkommenheiten und Schwächen nur Phasen der Entwicklung. Was jetzt blindes Ungefähr scheint, wird zu höchster Gesetzmäßigkeit und scheinbares Chaos zu sinnvollem Neugestalten.

In den untermenschlichen Reichen vollzieht sich der Wachstumsprozeß für die sich entwickelnde Wesenheit unbewußt. Sie wird vom Evolutionsstrom getragen. Beim Menschen ist es anders. Zum ersten Mal treten auf der großen Wanderschaft des göttlichen Funkens zwei Faktoren von eminenter Bedeutung in Erscheinung: Der freie Wille und das Denkvermögen und mit diesem das Ichbewußtsein, und damit beginnt die Auseinandersetzung zwischen sich und den anderen. Später wird sich dieses Subjekt-Objekt-Verhältnis kraft höherer Einsicht wiederum wandeln in eine Erkenntnis der geistigen Bruderschaft aller Wesen, in das Bewußtsein der Einheit aller Dinge, durch das sich der einzelne im anderen wiederfindet. An dieser Aufgabe arbeiten wir und damit an der Entfaltung des reinen, wahren Menschentums. Ihr dient der gesamte Schöpfungsakt.

Durch das Aufleuchten des Denkvermögens wird der Mensch eigenverantwortlich. Nichts und niemand kann ihn je von den Folgen seines Tuns - auf welcher Ebene auch immer - freisprechen, bis der "letzte Heller" bezahlt ist. Wie immer ist dabei die Natur hilfreich und weise. Unsere Konstitution ist so beschaffen, daß wir niemals zwei Gedanken zu gleicher Zeit denken können. Hierin liegt unsere Chance, die berechtigte Hoffnung unserer Mühe. Denken wir an etwas Gutes, Liebevolles, Erhabenes, so ist in diesem Moment kein Platz mehr in uns frei für etwas Böses, Liebloses oder für etwas Erniedrigendes. Wer hindert uns, so ist unsere Frage, harmonisch zu leben, positiv zu sein im Denken und Handeln? Niemand! Nur wir selbst, unsere eigene niedere Natur. Sie ist der ständige Widersacher, der das Eigentliche in das Nebensächliche abdrängt. Wie ein Suchtkranker verlangt er immer wieder neuen Stoff. Sicherlich, es gibt auch Hemmnisse und Widerstände von außen. Es gibt harte Versuchungen, denen man sich gegenübergestellt sieht. Sie kommen karmisch auf uns zu, werden aber erst dann gefährlich, wenn Schwächen und Widerstände von innen dazukommen, wenn Stürme in uns toben und die Vernunft schweigt, wenn unsere Leidenschaften nur ein Ziel kennen - Befriedigung. Dann vereinigt sich unser egozentrisches Wollen mit dem äußeren, so schillernden Geschehen, anstatt es durch Harmonie des Gemütes auszugleichen.

Die vielgeschmähte "inhumane Gesellschaft" - von den Menschen selbst geschaffen - zwingt uns nicht zum Egoismus. Im Gegenteil, der erbarmungslose Kampf des täglichen Lebens ist Herausforderung und Chance zugleich; sie hämmern an uns, damit wir geistig erwachsen werden, damit unsere lichthafte Wurzelnatur zum Durchbruch kommt und strahlt und wärmt wie die Sonne, ohne dabei darauf zu achten, wie sich dieser wohltätige Einfluß auswirkt. Er verströmt sich als selbstlose, alles umfangende Kraft. Sein Wesen ist Opfer, es ist Hingabe, nicht Erwartung.

Diese Haltung hat nichts zu tun mit Schwäche oder Infantilismus, mit Schwärmerei oder mit eitlen Träumen, die lebensuntüchtig machen und alle ernsthaften Entscheidungen vor sich herschieben. Sie ist bewußte, von höchstem Pflichtgefühl getragene Steuerung aller auf uns zukommenden Probleme im Sinne der Würde des Menschen. Durch diese Grundhaltung wird das Leben voll innerer Harmonie und Güte - der Weisheit schönster Tochter. Sie ist eine schöpferische Bewältigung der Gegenwart und damit der Zukunft. Das hat seine Gültigkeit für die materielle Welt (die helfende Tat), für die Welt der Gefühle (Mitleid) in der Welt der Gedanken (Verständnis).

Wir sollten vor der großen Aufgabe, die vor uns liegt, nicht den Mut verlieren, denn sie entspricht unserem inneren Wesen, unserer göttlichen Bestimmung. Es gilt, eine menschenwürdige Welt von innen heraus zu gestalten - nicht nur durch äußere Reformen, die, so wirksam sie im Augenblick auch sein mögen, doch bei der nächsten Änderung der Interessenlage wieder in sich zusammenbrechen, es sei denn, sie werden von innen heraus getragen.

Wir alle wissen: Wo viel Grau und Dunkel ist, schafft schon ein einziger Farbtupfer - ein Lichtgedanke - einen Blickpunkt. Einige mehr, und das depressive Grau löst sich allmählich auf. Mit jedem aufbauenden Gedanken wird es heller in uns. Geben wir also dem Licht Raum! Darin liegt der Sinn unserer kosmischen Wanderschaft: Licht in uns werden zu lassen, um wiederum Licht und Wärme ausstrahlen zu können.

Dieser Weg nach innen ist weder an Theorien noch an Dogmen oder rituelle Handlungen gebunden. Er ist Gesinnung und wird reiner, edler und göttlicher mit der Zunahme der Erkenntniskraft. Sehnen wir uns also nicht nach besseren Lehrsystemen, sondern nach einer vollendeteren Lebensführung, nach der Fähigkeit, unseren Mitmenschen besser helfen zu können, denn keine wie auch immer gearteten Vorschriften oder Lehren können wahrer und wesentlicher sein als ein Leben, das vom Geist des Mitleids durchdrungen ist. Nicht die Soutane macht den Priester, sondern ein geheiligtes Leben.

Einst, wenn die Zeit reif geworden ist, - nicht früher - werden wir, nach mancher Enttäuschung und nach manchem herrlichen Sieg über uns selbst, mit Gautama, dem Buddha, sagen können:1

"Die hohe Wahrheit der Erkenntnis des Ursprungs aller Trübsale wurde mir nicht durch Überlieferung zuteil, sondern in mir selbst öffnete sich das Auge, in mir selbst erschien die Erkenntnis, in mir selbst offenbarte sich die Weisheit, in mir selbst ging das Licht auf."

Fußnoten

1. Aus Dhamma-Kakka, Tattavatana Sutta. [back]