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Gedanken über eine Parabel

Im Altertum war es üblich, Parabeln zu verwenden, wobei kaum jemand erwartete, daß sie als Tatsachenberichte zu werten seien. Eine der wertvollsten Sammlungen ist das Pali-Werk Milinda-panha - oder die zweiundachtzig verfänglichen Fragen des Königs Milinda.1 Es sind Fragen, die der König dem buddhistischen Weisen Nâgasena zur Beantwortung vorlegte. Der Überlieferung nach ist Milinda kein anderer als Menandros, der berühmte indo-griechische König. Seine Invasion in Indien, die bis zum Industal vordrang, sollte einen bleibenden Eindruck hinterlassen; nicht so sehr in geographischer Hinsicht, sondern weil dadurch griechische und indische Philosophie und Kunst sich vermischten.

Niemand weiß genau, ob Nâgasena je gelebt hat und ob Milinda (oder der geschichtliche Menandros) diese vielen Gespräche wirklich geführt hat. Das ist aber für ihre ethische Bedeutung ohne Belang. Es wird jedenfalls erzählt, daß Milinda, der König der Yavanas, überall nach Rat gesucht und nach langer, vergeblicher Bemühung Nâgasena, den Älteren, getroffen habe. Ihn erkannte er als seinen spirituellen Lehrer und bot sich ihm daher als Schüler an.

Nâgasenas Lehrmethode kommt der des Sokrates ziemlich nahe. Er bietet keine formell umrissene Lehre an, sondern veranlaßt den König, mit Analogien aus dem Alltag selbst die Spreu falschen Denkens vom Weizen echter Wahrnehmung zu scheiden. Das Dilemma, das für einzelne durch die Rede entstand und Pein ausgelöst hat, ist ein anschauliches Beispiel für die Anwendung der Parabel und auch des Paradoxons:

 

 

Milinda: Ehrwürdiger Nâgasena, Ihr Mönche sagt, der Buddha habe von allen Wesen Schaden abgewendet und ihnen Gutes getan. Andererseits sagt Ihr aber, daß bei seinen Ausführungen über das Gleichnis des brennenden Feuers aus den Mündern von ungefähr sechzig Mönchen heißes Blut geflossen sei. Durch die Darlegung seiner Überlegungen fügte er den Mönchen Schaden und nicht Gutes zu. Wenn daher die erste Feststellung richtig ist, ist die zweite falsch; und wenn die zweite korrekt ist, stimmt die erste nicht. Auch damit ist Dir wieder ein zwiespältiges Problem vorgelegt worden, das Du lösen mußt.

Nâgasena: Beides ist wahr. Was ihnen widerfuhr, geschah nicht durch Buddha, sondern durch sie selbst.

 

Milinda: Aber, Nâgasena, wenn der Buddha diese Rede nicht gehalten hätte, hätten sie dann auch heißes Blut erbrochen?

Nâgasena: Nein, nur weil sie seine Worte falsch aufnahmen, entzündete sich in ihnen ein Brand, und heißes Blut strömte aus ihren Mündern.

 

Milinda: Dann, Nâgasena, muß es aber durch Buddha verursacht worden sein; es muß Buddha gewesen sein, der den ersten Anlaß für ihre Vernichtung gab.

Nâgasena: Wenn der Buddha sprach, o König, so war damit weder Schmeichelei noch Arglist verbunden. Frei von beidem sprach er. Und jene, die ihn richtig verstanden, wurden weise; diejenigen aber, die seine Worte falsch auffaßten, fielen. Es ist genauso, o König, als wenn ein Mensch einen Mango-, einen Jambu- oder einen Meebaum schüttelt. Die Früchte, die voller Saft und fest am Baum angewachsen sind, bleiben unbeeinflußt; die aber verfaulte Stiele haben und nur leicht anhaften, fallen zu Boden. - So war es auch bei seiner Rede ..., daß der Buddha die innerlich Vorbereiteten weise machte, als er das Dhamma (Gesetz) ohne Schmeichelei und Arglist vortrug. Wer es recht auffaßte, wurde weise; aber jene, die es falsch aufnahmen, fielen.

 

Milinda: Dann, Nâgasena, fielen diese Mönche also nicht durch diese Rede?

Nâgasena: Könnte denn ein Zimmermann ein Holzstück, wenn er es nur neben sich legt, also ohne es zu bearbeiten, glatt und gebrauchsfertig machen?

 

Milinda: Nein, Herr, er müßte die Unebenheiten beseitigen, wenn er es gerade und verwendungsfähig haben wollte.

Nâgasena: Genauso, o König, hätte der Buddha die Augen jener Jünger, die dazu bereit waren, nicht öffnen können, wenn er sie lediglich beobachtet hätte. Aber während diejenigen sich davonmachten, die die Worte falsch aufnahmen, half er jenen, die zur Rettung bereit waren. Und es geschah durch ihr eigenes Handeln und Tun, o König, daß die Übelgesinnten stürzten...

Und so war es auch bei den sechzig Mönchen; sie strauchelten weder durch die Handlung des Buddha noch eines anderen, sondern einzig durch ihr eigenes Tun. Nimm an, o König, ein Mann würde allen Menschen Ambrosia geben, und diese würden, indem sie davon aßen, gesund, langlebig und frei von jeglicher körperlicher Krankheit. Einer jedoch, der davon aß, würde wegen seiner schlechten Verdauung daran sterben. Würde dann, o König, der Spender der Ambrosia einer Schuld bezichtigt werden können?

 

Milinda: Nein, Herr.

Nâgasena: Genauso, o König, bietet der Buddha den Menschen und den Göttern in den zehntausend Welten die Gabe seiner Ambrosia an, und jene Wesen, die dazu befähigt sind, werden durch den Nektar seines Gesetzes weise, während diejenigen, die es nicht sind, vernichtet werden und stürzen...

 

Milinda: Sehr gut, Nâgasena! So ist es, und ich bin mit dem, was Du sagst, einverstanden.

- IV. 3, 5-9

 

 

In den alten Schriften ist die Ausdrucksweise oft absichtlich derb, damit der Kernpunkt der Lehre besonders hervorgehoben wird. Daher war wohl auch "das heiße Blut erbrechen" der sechzig Mönche in dieser Parabel, und daß sie "vernichtet" wurden, sicherlich nicht physisch gemeint. Der weise Nâgasena sprach in bildlichen Ausdrücken und gebrauchte eine dramatische Redeweise, um den König darauf aufmerksam zu machen, wie stark die Reaktion ist, die unvermeidlich jedem vorzeitigen Versuch folgt, der Natur ihre Geheimnisse zu entreißen, ehe man sich dessen würdig erwiesen hat.

Der entscheidende Punkt der Parabel, wie ich sie sehe, beruht darin, daß die sechzig Mönche sich selbst genügend vorbereitet fanden, die Lehren des Buddha zu empfangen. Offensichtlich hatten sie bereits Schulung in Selbstdisziplin und Unterweisungen in den Lehren erhalten, sonst wären sie nicht in den Orden aufgenommen worden. Als Mönche hatten sie sich somit in die Reihen jener eingeordnet, die einerseits berechtigt waren, eine Prüfung über ihr wirkliches Motiv zu erfahren, andererseits wollten sie aber auch die Gewißheit haben, daß alles, was ihnen gelehrt worden war, auf Wahrheit beruht. Wie sich jedoch deutlich zeigt, garantiert die Eingliederung in den Mönchsstand nicht auch innere Reife. Vielleicht hatte diese spezielle Gruppe von sechzig Mönchen den Punkt erreicht, wo der Buddha der Meinung war, daß sie nun ganz klar herausfinden müßten, ob es ihnen wirklich ernst sei und sie sich nach dem reinen "Nektar des Gesetzes" sehnten oder nicht. Möglicherweise wollte er jenen, die immer nach weiterer Belehrung verlangen, einprägen, daß der alleinige Maßstab für den Wert eines Menschen nur in seinem Innern, im tiefsten Zentrum seines Wesens liegt. Gleichzeitig bot sich aber auch eine Gelegenheit für jene, die wirklich bereit waren, den Segen weiterer Erleuchtung zu empfangen.

Von einem höheren Standpunkt aus gesehen, versagt niemand vollständig, weil jeder äußere Fehlschlag den Keim des inneren Erfolges in sich trägt. Gerade Kummer und Enttäuschung dienen der Seele als Nahrung und Ansporn für größere Anstrengung. Das einzig wirkliche Versagen wäre, das ewige Streben nach Wachstum aufzugeben, was aber kein normaler Mensch fertigbringt. Da der gesamte Strom evolutionärer Weiterentwicklung vorwärts drängt und der Mensch ein großer Teil dieser vorwärtsschreitenden Strömung ist, wäre Aufgeben tatsächlich genauso unmöglich, - es sei denn, man stellte sich absichtlich dagegen - wie es unmöglich ist, daß die Sonne ihre wohltätige Wärme- und Lichtspende einstellen könnte.

Zum Glück kennt keiner von uns seinen wirklichen Entwicklungsstand. Wer behauptet, bereits auf einer hohen Stufe der Evolution zu stehen, weiß nicht einmal etwas von den Anfangsgründen echten inneren Wachstums. Oft stellt sich heraus, daß jene, die glauben, am wenigsten fortgeschritten zu sein, bei einer schwierigen Prüfung sich als weit spiritueller erweisen als jene, die, wie die sechzig Mönche, überzeugt sind, genügend vorbereitet zu sein.

Angenommen, durch besondere Umstände wäre es einem Buddha oder einem Christus möglich, die unverminderten Strahlen der Wahrheit auf unsere gegenwärtige unvollkommene Persönlichkeit zu richten - was würde geschehen? Wir könnten die volle Stromstärke der spirituellen Elektrizität, die uns durchströmen würde, keinen Augenblick lang ertragen; denn die Kraft, die von einem Buddha oder einem Christus ausstrahlt, ist göttlichen, nicht menschlichen Ursprungs, so daß es ganz gleichgültig wäre, ob die Darlegung höchste Metaphysik oder einfach Beispiele aus dem täglichen Leben zum Gegenstand hätte. Erst wenn die Persönlichkeit durch den göttlichen Funken höhergeistigen Strebens genügend gereinigt wurde und somit die Strahlung völlig empfangen und herabtransformieren kann, erst wenn sie viele Jahre und wahrscheinlich viele Leben hindurch sich in Selbstdisziplin geübt hat, kann sie das "brennende Feuer", das von der Flamme der Wahrheit entfacht wird, aushalten.

Deshalb wurden auch die sechzig Mönche in dieser Parabel "vernichtet". In ihrer überheblichen Selbsteinschätzung hielten sie sich ohne Zweifel für geeignet, die reine Kraft der Botschaft des Buddha zu empfangen; bei der Prüfung wurde ihre Unzulänglichkeit jedoch offenbar.

Die Menschen, unter denen der Buddha lebte und lehrte, waren genauso wie Sie und ich. Wie man geschorene Lämmer vor dem rauhen Wind schützt, so paßte auch er seine Lehre entsprechend an, wohl wissend, daß er den zarten Schößlingen der Göttlichkeit, die er in den Seelen seiner Anhänger so sorgsam gehegt hatte, nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen würde, wenn er erst die ganze Stärke seiner Buddhaschaft leuchten ließe.

Die Mönche hatten sich jedoch durch ihr eigenes Streben in eine andere Kategorie eingereiht. Alle waren vorbereitet, unterrichtet und belehrt worden und kannten die Gefahren, die entstehen, wenn sie die vier "Verstöße gegen das Gesetz begehen: Bruch der Keuschheit, Diebstahl, Mord" und endlich - was keinesfalls weniger wichtig war - "Mißbrauch außergewöhnlicher spiritueller Kräfte." Vielleicht führte das vor allem anderen zum Unglück der Mönche, denn psychische und spirituelle Eitelkeit, wie fein sie auch getarnt sein mögen, zählen zu den gefährlichsten Feinden und lauern wie todbringende Schlangen am Wege jedes ernsthaften Aspiranten.

Dann kam die Stunde, in der die ganze Gruppe vor der entscheidenden Prüfung stand und die Seelen nackt dem Scheinwerferlicht der Wahrheit ausgesetzt waren. Wer sich als würdig erwies, erntete zumindest für Augenblicke die Verklärung des "Einsseins" mit seinem eigenen inneren Gott und wurde "den Menschen ein Licht." Wer versagte, "wurde vernichtet." Sie erlitten keinen physischen, sondern einen symbolischen Tod: den Entzug aller weiteren Kontakte zur Quelle der Wahrheit, bis zu einem künftigen Leben.

Wir könnten uns tatsächlich fragen, inwieweit der Buddha für die Reaktion der Mönche verantwortlich war. War er schuld an ihrem Versagen? Man beachte die Sätze: "Wenn der Buddha seine Gedanken vortrug, so war damit weder Schmeichelei noch Arglist verbunden. Frei von beidem sprach er." Diese Formulierung ist ganz bewußt gewählt: Wieviele von uns sind wohl imstande, die absolute Wahrheit zu sagen - unpersönlich und leidenschaftslos? Entweder ist ein Anflug von Schmeichelei dabei, oder es schleicht sich ein Beigeschmack von Kritik, ja sogar Arglist ein. Der reine Austausch von Werten von einem zum anderen, ohne geringstes Vorurteil oder hartes Urteil, ist ein Kennzeichen der Sprache und Lebensweise der Buddhas und Christusse.

War es also der Buddha, der den Mönchen Schwierigkeiten brachte? Wenn ja, dann hätten nicht nur die sechzig, sondern auch alle anderen Zuhörer in gleicher Weise versagt. Nein, es war die mangelhafte Vorbereitung, die den sechzig Mönchen Schwierigkeiten machte, nicht die Lehre des Buddha. Natürlich verursacht der Buddha, wie jedes andere Wesen im Universum, Karma. Vom winzigsten atomaren Teilchen und Subteilchen bis zu den riesigen Anhäufungen von Milchstraßen in den Tiefen des Raumes - alle erzeugen sie Karma. Sie sind Akteure, Verursacher von Karma, die ständig Ursachen schaffen, die irgendwann und irgendwo schließlich als Wirkungen zu ihnen zurückkehren werden - Aktion und Reaktion oder Karma. Kann man aber die Sonne oder den sie belebenden solaren Gott für einen Hitzschlag verantwortlich machen, den ein Mensch erlitt, der sich unvorbereitet der Wüstenhitze ausgesetzt hat? Müßte der solare Gott dafür ein schlechtes Karma erleiden? Sicher nicht! So ist es auch bei dem Buddha. Er lehrte unter den Menschen und spendete vom Sonnenlicht der Wahrheit, damit wenigstens einige imstande wären, das Gesetz zu verstehen und zu befolgen. Einige konnten die direkten Strahlen der Wahrheit absorbieren; andere waren unvorbereitet und wurden verwirrt. Das hat aber gar nichts mit irgendeiner Person zu tun. Der Buddha war ganz und gar der Diener des Gesetzes, und als die Zeit zum Sprechen gekommen war, verkündete er die Wahrheit, so, wie er sie empfangen hatte. Je mehr eine Seele wächst und Wahrnehmungskraft entwickelt, desto weniger Auswahl wird sie für die Ausübung ihrer Pflicht haben.

Die Kraft der Wahrheit durchschneidet alles Falsche wie ein Schwert. Als der Buddha die "Ambrosia der Wahrheit" austeilte, geschah es völlig leidenschaftslos. Er sprach weder aus "Schmeichelei noch mit Arglist." Jene Mönche, deren Wesen mit der Wahrheit "nur wenig verwachsen" war, und wenn es auch nur ein einziger "fauler Stiel" war, fielen zu Boden, während jene, die "stark angewachsen" waren, fest blieben in ihrem höhergeistigen Streben, wie die Frucht des Mangobaumes, die durch Schütteln des Baumes nicht erschüttert wird. So arbeiten die Buddhas und die Christusse mit ihren Jüngern.

Wenn Buddha oder Jesus aber zur Menge sprachen, dann kam ihr göttliches Mitgefühl in der schützenden Form von Gleichnissen zum Ausdruck. Sie vertraten eine Philosophie, die herausforderte, aber nicht schwach machte. Von Buddha wird berichtet, er habe, als sein Abschied von dieser Erde nahte, zu seinen Jüngern gesagt: "Haltet an der Wahrheit fest, macht sie zu einer Zuflucht und arbeitet mit Eifer an eurer eigenen Befreiung." Wenn jeder einzelne von uns sich auf jenes innerste Zentrum der Wahrheit und Weisheit als seine einzige Zuflucht stützen kann, dann werden wir schließlich jenen Zustand von Selbstlosigkeit erreichen, für den die Großen ein so vollkommenes Beispiel sind.

Fußnoten

1. "The Questions of King Milinda", Max Müller: Sacred Books of the East, Band XXXV. [back]