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Es ist Zeit, das Tor zu öffnen

Unsere heutige Welt ist nicht der angenehmste Platz zum Leben; und so mancher ist der Meinung, daß unsere Erde ein recht ungastlicher Aufenthaltsort geworden ist. Die Sicherheit und Wärme des Heimes aus früheren Zeiten sind verschwunden; der Herd ist ohne Feuer, obgleich die Temperatur aus irgendeiner unsichtbaren Quelle angenehm warm gehalten wird; das Sonnenlicht wird verdrängt und durch kaltes, künstliches Neonlicht ersetzt; die Stimme der Vögel und der Ton des Windes sind im Brummen der Motoren und Maschinen nicht mehr zu hören.

Das alles ist natürlich übertrieben. Es geht uns nicht nur materiell und physisch besser, auch Wärme und Mitleid sind noch da, große Taten sind zu verzeichnen, Güte und heroische Opfer, und ab und zu sogar intuitive Inspiration, die uns ein wenig weiter sehen läßt.

Gewiß, die Wissenschaft hat uns viel Wunderbares gezeigt. Sie hat uns die allerkleinsten Welten, aber auch die grenzenlosen Bereiche des Kosmos, die unvorstellbare Weite des Weltraums erschlossen. Sie hat uns ein Tor geöffnet und es erfüllt uns mit Bewunderung; und dennoch spüren wir, daß wir für diese plötzliche weite Sicht nicht vorbereitet sind. Furchtsam halten wir uns zurück und wagen kaum, uns der Schwelle zu nähern. Denn, wer kann sagen, was dahinter liegt? Ist unser Sonnensystem tatsächlich nur ein kleines Atom und unsere Erde ein einzelnes Elektron im riesenhaften kosmischen Gefüge? Gibt es auch andere mit Bewußtsein begabte Wesen, von denen manche vielleicht noch weiter entwickelt sind als der Mensch? Und wo werden wir als menschliche Wesen eingeordnet? Seelisch fühlen wir uns in der unpersönlichen Kälte des Raumes verlassen wie ein Forscher in der Arktis, der sich in seinem fest verankerten Zelt sicher wähnt, am Morgen aber, wenn er den Zeltvorhang öffnet, findet er sich von Leere umgeben auf einer treibenden Eisscholle, die durch die Strömungen des Ozeans abgetrieben wird.

Für dieses plötzliche Erwachen war der Mensch ganz und gar nicht vorbereitet, und in seiner qualvollen Ungewißheit sucht er jemanden, dem er die Schuld aufbürden kann. Doch Religion und Wissenschaft sind beide Abstraktionen und können für diese allgemeine Angst, für dieses starke Gefühl des Unbehagens, das durch das große Unbekannte in der Menschheit erweckt wurde, nicht verantwortlich gemacht werden. Es ist immer der Mensch, der den Gottesbegriff und die Götter selbst herabwürdigt und sie zu dauernder Unbeweglichkeit verurteilt und ihnen Existenz und Entwicklung nimmt. Unsere christliche Religion hat sich zum Beispiel völlig auf diese Erde konzentriert. Sie betont nicht nur die feststehende Einmaligkeit von Jesus Christus, sie bezieht diese auch auf den kleinen Globus Erde und seine Bewohner. Eine ähnliche begrenzte Vorstellung ist natürlich ohne Ausnahme auch in den anderen Glaubens- und Gedankenrichtungen zu sehen. Jede anfängliche Inspiration eines göttlich kosmischen Prinzips, das eine universale Wechselwirkung umfaßt und durch diese zum Ausdruck kommt, wurde im Laufe der Zeit in eine starre Gedankenform mit einem vermenschlichten Gott oder mit vermenschlichten Göttern entstellt, deren Hauptaufgabe es war, die Bitten der Menschen zu erfüllen oder abzulehnen. Das lebende Universum wurde dabei in gleicher Weise zu einem Sternenzelt verkleinert, das unsere Erde oder bestenfalls das Sonnensystem umgibt. Unser begrenztes Begriffsvermögen und unser fast unbegrenzter Stolz über unsere Errungenschaften schlagen sich immer wieder auf der menschlichen Ebene der uns umgebenden ungeheuren Majestät des Lebens nieder.

Die Wissenschaft hatte natürlich gar nicht die Absicht, uns aus unserer Selbstgefälligkeit aufzurütteln, als wir plötzlich den weiten nahen und fernen Räumen des Kosmos gegenübergestellt wurden. Es ist nicht die Aufgabe der Wissenschaft, sich um die Folgen ihrer Entdeckungen zu kümmern, sie erbringt nur den Beweis der Richtigkeit. Der Mensch - Laie oder Wissenschaftler - kann sie erklären und anwenden wie er will. Die eigene prüfende Intelligenz hat den Menschen bis zu einem gewissen Grad von den Fesseln falscher Vorstellungen befreit, ganz gleich, ob es sich dabei um Idole, Aberglauben oder Vorurteile handelt; aber gerade durch diese Befreiung ist eine vollkommen neue Wertaufstellung erforderlich. Solange der Mensch in kleinen Begriffen denkt, werden seine Vorstellungen eng und begrenzt sein.

Von dem Augenblick an, wo der Mensch sich jedoch wie ein verlassenes Waisenkind vorkommt, das kurz nacheinander die Verbindung mit seiner Mutter - der Erde, und seinem Vater - der dem Menschen innewohnenden Göttlichkeit verloren hat, wird er notgedrungen heranreifen und dann die Beziehungen zu seinen kosmischen "Brüdern" auf einer höheren Ebene wieder herstellen. Dabei wird er entdecken, daß die Verwandtschaft viel enger ist als er im dumpfen Schlafe des begrenzten Bewußtseins zu träumen wagte. Er wird dann bald in eine neue Zeit, eine neue Ära eintreten, in der - wenigstens für eine Zeitlang - die Begriffe Natur und Leben vollkommen neue Bedeutung bekommen. Alles wird weiter und freier sein und Herz und Gemüt besser befriedigen.

Auf unserer Suche, die Zusammenhänge zu verstehen, sollten wir jedoch den reichen Schatz an überlieferter Weisheit nicht voreilig mit dem trüben Wasser des Aberglaubens wegschütten. Vielleicht sollten wir uns dabei ein wenig mehr Zeit nehmen und uns die Erzählungen, Mythen und Legenden etwas näher ansehen, die die Jahrhunderte, in denen sie nicht sonderlich geschätzt waren, wunderbar überlebt haben. Sind die Feen und Elfen, die Gnomen und Kobolde, die Zwerge und Riesen, und die Trolle und Geister nur zu unserem Vergnügen erfunden worden? Und wie steht es mit den kosmologischen Vorstellungen der 'Primitiven', die in den überlieferten Mythen zu finden sind, wo die Planeten unseres Sonnensystems als Götter dargestellt wurden, die mächtigen Einfluß auf die Erde und die Menschen hatten, und wo die Sonne fast ohne Ausnahme als hohe Gottheit verehrt wurde? Und vielleicht sollten wir einmal nach der ursprünglichen Bedeutung der Engel (griechisch - angelos, Bote) im Christentum fragen, an die viele nur zu Weihnachten denken, oder welche Rolle die Erzengel, die Himmelsfürsten, Mächte und Kräfte, die Herrscher und Throne spielen, die Paulus in seinem Brief an die Kolosser erwähnt. Wer waren die Cherubim, die mit flammendem Schwert im Osten des Paradieses standen, oder die Seraphim, die Ezekiel und Jesaia in ihren Visionen bei dem Herrn der Heerscharen stehen sahen? Möglicherweise sollten diese Gestalten andeuten, daß es weit über und unter uns stehende Naturreiche gibt, die dem Menschen gänzlich unbekannt sind, jedoch am gesamten kosmischen Leben teilhaben und es beeinflussen.

In Jakobs Traum, wo er "eine auf der Erde stehende Leiter erblickte, deren oberes Ende bis zum Himmel reichte, und wo er sah, wie Gottes Engel auf und ab stiegen und Gott selbst über der Leiter stand ...", kann eine große Wahrheit verborgen sein. Es ist sehr gut möglich, daß es eine kosmische "Leiter" gibt, die sowohl nach unten als auch nach oben kein Ende hat und auf der alle Wesenheiten Schritt für Schritt emporsteigen. Darin können wir einen erhabenen Evolutionsprozeß erblicken, neben dem die Evolutionstheorie Darwins zur Bedeutungslosigkeit verblaßt.

Damit soll nicht gesagt sein, daß ich nun Blumenfeen erwarte und sehen möchte, wie sie auf Blumenblättern sitzen und auf den Strahlen der untergehenden Sonne tanzen. Ich erwarte auch nicht, daß nachts ein kleiner bärtiger Mann kommt und seine Schüssel Grütze ißt. Es wird auch kein von Pferden gezogener Sonnenwagen in der Morgendämmerung am Himmel aufsteigen. Und dennoch bin ich der Meinung, daß alle diese Geschichten einst Hüllen für die Wahrheit waren, ersonnen, um uns zu zeigen, daß sich das Leben in vielen Formen verkörpert, daß sowohl in der mikroskopisch kleinen Kieselalge als auch in jeder Riesensonne bis zu einem gewissen Grad Bewußtsein vorhanden ist. Es können "Heerscharen" bewußten Lebens im Universum vorhanden sein, von deren Vorhandensein wir nicht die leiseste Ahnung haben, genauso wie das Bewußtsein eines Atoms in unserem Körper nicht fähig ist, auch nur die geringste Vorstellung von dem großen Organismus zu haben, von dem es ein Teil ist. Und doch, wenn auch nur ganz gering, muß es uns beeinflussen, so wie auch wir es unvermeidlich beeindrucken.

Wenn wir wollen, so können wir uns alle möglichen Lebensformen vorstellen, die für uns vollkommen unsichtbar sind, Bewußtseinsgrade, die so begrenzt oder so erhaben sind, daß sie vollständig außerhalb unseres geistigen Horizonts liegen. Unermeßliche Schwingungsbereiche sind noch unerforscht und viele bleiben wahrscheinlich für immer außerhalb unserer irdischen Domäne. Jedoch innerhalb jener Grenzen können die verschiedensten Wesenheiten ihre Verkörperung finden. Wir brauchen aber gar nicht so weit zu gehen, sprechen wir doch schon der Sonne den elementarsten Funken empfindungsfähigen Lebens ab - haben aber auch keine Erklärung für das geheimnisvolle rhythmische Pulsieren, das wir als Sonnenflecken beobachten!

Über die Gedankenlosigkeit mit der wir unsere natürliche irdische Umwelt behandelt haben, sind wir nun besorgt - doch wir wollen offen zugeben, es geschieht nicht etwa aus selbstloser Rücksicht für die Natur, sondern einfach, weil wir erkennen, daß wir uns selbst in Gefahr bringen. Sollten wir nicht dabei unser ökologisches Interesse ein wenig weiter ausdehnen und beginnen, auch unsere kosmische Umgebung eingehender zu betrachten? Das würde vielleicht nicht direkt unserer physischen Gesundheit dienen, es würde aber zu unserem seelischen Wohlbefinden unermeßlich viel beitragen.

Wir müssen wahrscheinlich ganz von vorn anfangen und eine neue "Kosmosophie" aufbauen, eine Philosophie über den Kosmos und somit über uns selbst. Unser immer größer werdendes wissenschaftliches Erkenntnisvermögen kann dabei ein starkes und dauerhaftes Gerüst liefern, aber um dem Gerüst eine Seele zu geben, brauchen wir eine mutige, weitsichtige, klare Weisheit. Eine solche Philosophie könnte uns begreiflich machen, daß wir nicht im Raum verloren sind, sondern physisch und spirituell dazu gehören. Unsere Erde würde wieder zur Heimat werden, denn wir könnten dann erkennen, daß sie ihren Platz im größeren kosmischen Reich hat. In diesem symbiotischen Zustand haben wir, oft unbewußt, unseren Anteil an Opfern zu bringen, empfangen aber auch Schutz und Hilfe.

Ich glaube, es ist äußerst wichtig, daß wir uns nicht den Möglichkeiten verschließen, durch die das Bewußtsein zum Ausdruck gebracht werden kann und zwar bezüglich der sich offenbarenden Lebensformen. Wir wollen nicht nur stolz nach unten blicken, sondern auch demütig nach oben. Wenn wir dabei die richtige Ausgewogenheit finden, dann werden wir das Tor zum Universum mit Mut und Verständnis öffnen können und nicht mehr die drohende Leere, sondern eine riesige Fülle sehen.