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Wir werden zu dem, was wir glauben

Wenn wir ein einzelnes Menschenleben betrachten, so können wir bestimmte Wachstumsstadien erkennen, wobei jedes ein Teil des Entwicklungsplanes ist. Bei Kindern ist das sehr leicht erkennbar, weil die Veränderungen von einer Phase zur andern deutlich sichtbar sind und oft schnell aufeinander folgen. Jeder kann die rasche körperliche Entwicklung mit Leichtigkeit sehen. Das mentale Wachstum geht gemäßigter vor sich, sozusagen halb sichtbar und halb verborgen, während das geistige Wachstum sich unserer Beobachtung fast völlig entzieht. Doch gerade daraus werden alle Aspekte des Menschen versorgt. Das ewige und unvergängliche höhere Selbst hat uns nämlich durch die lange Vergangenheit geleitet und vermittelt uns auch den Blick und das sichere Gefühl für die Zukunft. Denn nur dort liegt die Saat für die Weiterentwicklung des Menschen.

Es gibt jedoch nur wenige unter uns, die die in uns liegenden Möglichkeiten voll zur Reife bringen. Irgendwo auf dem Weg sind vielleicht Hindernisse aufgetaucht, denen wir nicht ganz gewachsen waren. Vielleicht überfiel uns plötzlich Angst, Enttäuschung oder Unsicherheit, und dadurch ging etwas von der Beweglichkeit des Verstandes und der Seele verloren, die von dem ständig sich formenden und gestaltenden Geist benötigt wird. Darüber sollten wir nicht allzu besorgt sein, denn das sind die normalen Wechselbeziehungen, das normale Auf und Ab des Lebens; und wenn wir uns vorstellen, daß wir noch viele andere Chancen und Gelegenheiten haben, so gibt uns das wieder Mut.

Wenn jedoch einem Kind ein solches inneres Leid widerfährt, so läßt das bleibende Merkmale zurück, und die Folgen sind erschütternd. Es ist, als hätte starker Frost die äußeren Blumenblätter der seelischen Rosenknospe beschädigt, und kein noch so starker Sonnenschein kann später die Schönheit wiederherstellen, die sie einstmals zu werden versprach. Einige von diesen Blumen kommen nie zur Entfaltung; der Schaden ist zu groß. Glücklicherweise folgen die meisten aber einem inneren Drang, sie kämpfen sich durch die Behinderung hindurch und entfalten ihre Blütenblätter. Ist die Rose schließlich erblüht, so kann nur ein genau prüfendes Auge den verborgenen Makel erkennen.

Genauso ist es mit den Kindern, die wie Blumen sind. Nur zu oft wird ihr Vertrauen zerstört, ihr jugendlicher Idealismus durch die Kälte einer lieblosen Umgebung, die ihre Abwehrfunktionen erstarren läßt, grausam verstümmelt. Aus Furcht, verletzt zu werden, nehmen sie Zuflucht in einer Verhaltensweise, die ihnen als sicher erscheint und sie wagen nicht, sich davon zu befreien. Das normale Wachstum von Herz und Verstand, und manchmal auch des Körpers, wird aufgehalten - eine Zeitlang oder für ein ganzes Leben. Sie werden überängstlich und enttäuscht und gehören zu den Entwurzelten und Verbitterten.

Natürlich gehört zu einem Leben auch die Überwindung von Hindernissen, sonst wäre es nicht lebenswert. Körperliche Behinderungen, materielle Armut, mangelnde Erziehung oder fehlende geistige Anregung, Krankheit, nichts von alledem wird den Geist eines Kindes vernichten: ganz im Gegenteil. Den Schaden verursachen die qualvollen Schmerzen im Herzen. Warum wohl kreisen die volkstümlichen Lieder und Schlager der Teenager stets um die Begriffe Liebe, Frieden, Freiheit, Blumen, Sonnenschein und die Schönheiten der Natur? In ihrer sentimental-sehnsüchtigen und etwas monotonen Wiederholung drücken sie einen undeutlich ausgesprochenen Ruf der Seele nach einer Welt aus, die es geben könnte, die aber viele junge Leute nie gesehen haben, eine freundliche, offene Welt, in der Ideale keimen und in Geborgenheit wachsen können. Sie sehen die Beziehung zwischen zwei menschlichen Wesen als etwas, das an Heiligkeit grenzt, und verabscheuen daher Heuchelei. Tatsächlich gibt es wohl kein Verbrechen, das größer ist als der Bruch des Vertrauens zwischen den Menschen.

Trotz all den eher begrenzenden Nebenbedeutungen des Wortes Liebe, ist sie doch die einzige Ausdrucksmöglichkeit des Göttlichen im Menschen. Wirkliche Liebe muß überströmen, um lebendig bleiben zu können. Wenn sie sich nun bemüht, Berührung zu finden, aber wiederholt abgewiesen wird, dann welkt sie innerlich dahin. Sie ist dann das Opfer der spezifisch-menschlichen "Sünde": der Verneinung des Göttlichen im Menschen.

Wir werden zu dem, was wir selbst zu sein glauben. Wenn wir uns für ein menschliches Tier halten, - und wie oft wurde uns dieser Trugschluß von Evolutionisten und Psychologen eingehämmert! - handeln wir entsprechend, nicht nur, weil wir leichtsinnigerweise die Vergehen und Schwächen unserer niederen Natur zulassen und dem wirklichen Menschen in uns das Recht vorenthalten, die Zügel an sich zu reißen, sondern auch, weil wir den kostbarsten Schatz, den wir mit uns tragen, nicht anerkennen, nämlich den göttlichen Funken, der uns mit dem innersten Wesen des Kosmos vereint. Andererseits werden wir aber auch - wenn wir unseren Blick auf das Beste in uns richten - selbst zu diesem Besten werden.

Es ist interessant, daß dieselbe Wahrheit auch für unsere Beziehungen zu anderen gilt. Lob, Belohnung, Verständnis, Ermutigung sind für den Erfolg bei der Erziehung eines Kindes (oder um Angestellte zufriedenzustellen und um ihre Leistung zu heben) weit wirksamer als Schelten und herabsetzende Bemerkungen. Vor einiger Zeit wurde über eine diesbezügliche Untersuchung berichtet. Zu Beginn des Schuljahres wurden alle neuen Schüler einer Grundschule sorgfältig auf ihre intellektuellen Fähigkeiten geprüft und dann in Parallelklassen eingeteilt. Jede Klasse bestand dabei aus Kindern mit mehr oder weniger gleichem Leistungsniveau, aber mit gleichem Auffassungsvermögen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden geheimgehalten. Einigen Lehrern war jedoch gesagt worden, daß speziell ihre Klasse intellektuell außerordentlich hervorragend sei, während man anderen mitteilte, daß die Leistung ihrer Gruppe unter dem Durchschnitt liege. Am Ende des Jahres wurden die Kinder nochmals geprüft. Diejenigen, die man als besonders hervorragend bezeichnet hatte, hatten nicht nur bessere Noten von ihren Lehrern erhalten, auch die Einstufungen erwiesen sich als wohlbegründet. Die Schüler hatten bedeutend bessere Prüfungsnoten als diejenigen, die als mäßig begabt oder schwer lernend eingestuft und demgemäß behandelt worden waren. Was war geschehen? Die Lehrer, die von ihrer Klasse eine Glanzleistung erwarteten, versuchten das Beste im Menschen zu erwecken und erzielten eine Reaktion, die diese Erwartung widerspiegelte. Die Lehrer dagegen, die das Jahr mit wenig Hoffnung auf gute Ergebnisse begannen, erweckten nie den Willen oder das Interesse für bessere Leistungen.

So werden bis zu einem gewissen Grade nicht nur wir, sondern auch andere zu dem, was wir glauben, bzw. was wir oder sie glauben, daß sie sind. Wenn wir ihre besten Fähigkeiten fördern und fest daran glauben, dann werden sie diese Hoffnungen erfüllen und ihr Bestes geben. Können wir uns nun vorstellen, was es überhaupt psychologisch gesehen für den Menschen bedeuten würde, wenn man ihn nicht mehr als armen Sünder betrachten oder als glorifiziertes Tier sehen würde, das zwar intelligent, aber oft mit niederen Instinkten und Trieben behaftet ist, die sich nicht ändern lassen? Sehen wir ihn jedoch als verkörperten Gott - keineswegs perfekt, doch sehr erfolgversprechend - dann können wir alle dazu beitragen, daß dieser Ruf erfüllt wird.

Ist diese Auffassung zu unrealistisch? Setzen wir uns Scheuklappen auf und mißachten wir die vielen unleugbar rohen und selbstsüchtigen Eigenschaften des Menschen? Werden wir nicht fortwährend enttäuscht? Ich glaube nicht, wenn wir den gesamten Prozeß, der sich so eindrucksvoll abspielt und nur ein Ziel verfolgt, im Ganzen sehen. Wir können realistisch sein ohne unsere Ideale zu verlieren. Sobald wir wirklich verstehen, daß unser wahrer Geburtsort nicht in irgendeinem geheimnisvollen urzeitlichen Schlamm liegt, aus dem wir gekrochen sind, sondern daß das Innerste unseres Wesens seinen Ursprung und auch seine Bestimmung im Herzen des Kosmos hat - aus dem der Geist jedes menschlichen Wesens hervorging und zu dem er letzten Endes mit seiner erfüllten Aufgabe zurückkehren wird, als der vollkommen gewordene Mensch - dann besteht Hoffnung für alle Kinder dieser Erde, jung und alt.