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Die Philosophie der Wiedergeburt

Zusammengestellt aus den Schriften von G. von Purucker

 

 

 

In unserer westlichen Kultur hat es während der letzten zwei- oder dreihundert Jahre nur zwei verschiedene Erklärungen für die Eigenart, den Ursprung und die Bestimmung des Menschen gegeben: die theologische und die wissenschaftliche. Die christliche Theologie hatte jahrhundertelang geglaubt, daß der Mensch eine 'ewige' Seele hätte, die nichtsdestoweniger bei der Geburt geschaffen wurde und die beim Tode einer von zwei unwiderruflichen Bestimmungen unterworfen ist: ewige Verdammnis in den Flammen einer nie endenden Hölle oder eine endlose Existenz in einem Himmel, in dem die Seele an der rechten Seite des Allmächtigen Gottes sitzen soll, wobei sie Ruhmeshymnen singt. In keinem Fall konnte jemals erwiesen werden, daß die menschliche Seele ein solches Schicksal verdient haben könnte. Um ewige Verdammnis verdient zu haben, muß die Seele zugegebenermaßen nach irgendeinem Maßstab der Gerechtigkeit gewaltige Sünden im irdischen Leben begangen haben, so weittragend, daß sie durch ewiges Leid nicht getilgt werden können, oder auf der anderen Seite muß sie von ihrer 'Erschaffung' an so überaus stark und gut gewesen sein, daß eine Ewigkeit von mutmaßlicher Glückseligkeit eine Belohnung darstellt, die für eine solche überaus erhabene Tugend kaum ausreichend ist!

Die andere Erklärung, daß der Mensch nichts als ein physischer Körper sei und daß, wenn dieser Körper stirbt, alles zu Ende ist, scheint so willkürlich zu sein wie die theologische. Wie dem auch sei, die Aussicht auf Vernichtung erscheint beinahe als Vorzug, wenn man dagegen den nicht gerade begeisternden Himmel oder das völlig abstoßende Bild einer Hölle der alten Theologie stellt. Man wird dabei an einen Ausspruch erinnert, den man Voltaire zuschreibt: "Même le néant ne laisse pas d'avoir du bon!" - "Selbst die Vernichtung ist nicht ohne eine gute Seite!" Doch der Gedanke einer solchen völligen Vernichtung eines Sprößlings der kosmischen Energie - denn das ist der Mensch wirklich - ist nicht nur unvernünftig, sondern völlig unphilosophisch.

Die Kräfte und die Materie, die den Menschen ausmachen, sind die Kräfte und die Materie der universalen Natur. Anzunehmen, daß diese universale Natur ihre eigenen essentiellen Eigentümlichkeiten so verletzen könnte, daß eine Wesenheit wie der Mensch, der ein untrennbarer Teil der Natur ist, durch eine bloße Zustandsänderung und die Auflösung seines niedrigsten Teils, des Körpers, ausgelöscht wird, ist eine unbeweisbare Hypothese. Was wird nun aber aus diesen Kräften, die sich zum Zeitpunkt des Todes immer mehr zurückziehen? Es ist offensichtlich, daß im Zeitraum eines einzigen Lebens sich niemals alle Ergebnisse der Gedanken und Sehnsüchte eines Menschen oder all das Gute oder das Unglück, das er verursacht hat, vollends auswirken können. Wohin sind diese nicht aufgebrauchten Kräfte gekommen? Sind sie vernichtet? Wenn ja, warum sind sie vernichtet worden und welche Beweise liegen dafür vor, daß es tatsächlich so war? Machen wir lediglich nichtssagende Gesten auf der Bühne des Lebens und sterben dann in ein Nichts hinein?

Jeder von uns wird jeden Augenblick in den Waagschalen einer sich nicht irrenden, natürlichen Gerechtigkeit durch das unermüdliche Wirken kosmischer Gesetze gewogen. Das sind die Lehren jedes großen Weisen oder Sehers, den die Welt gekannt hat. Wir können das Gleichgewicht in der Natur nicht stören, ja nicht einmal ändern, indem wir den Strömungen von Ursache und Wirkung eine andere Nuance geben, ohne daß etwas auf uns zurückkommt. Jede Handlung, die wir begehen, jeder Gedanke, den wir denken, beeinflußt unser Verhalten. Diese Gedanken und Handlungen müssen insgesamt unvermeidlich ihre Wirkung genau proportional zu der Kraft ausüben, die sie entstehen ließ. Die Frage dabei ist nur: Wo drückt diese Kraft oder Energie sich in den Ergebnissen aus? Allein nach dem Tode oder in künftigen Leben? Nach der Antwort der Logik und den Beweisen der Zeitalter: in beiden, meist jedoch in künftigen Leben auf Erden, denn eine irdische Kraft kann sich nur hier wirkungsvoll manifestieren. Eine Ursache muß ihre Ergebnisse dort haben, wo sie sich auswirken kann, und nirgends anders.

Es ist natürlich völlig wahr, daß unsere Gedanken und Handlungen die Struktur unseres Charakters soweit beeinflussen, daß sogar unser Zustand nach dem Tod durch das verändert wird, was wir während des Lebens gewesen sind. Das kommt daher, weil solche Gedanken und Handlungen die Substanz des Willens und der Intelligenz, die sie ursprünglich hervorgebracht hat - unsere innere Konstitution - grundlegend verändern. Die Energien in uns, die sich als Anzeichen für höhere Dinge manifestieren, überleben in der Tat und finden, nachdem wir sterben, wenigstens teilweise Erfüllung. Anders geht es nicht, da sie ein Ausdruck reiner Energie sind, die unsterblich ist und daher den spirituellen Sphären mehr verwandt als der Erde, auf der unsere niederen Neigungen ein reichliches Betätigungsfeld finden.

Aus alle dem können wir ersehen, daß ein Mensch viele Male geboren und wiedergeboren werden kann - und zwar weder im Auftrag von irgend etwas, was sich außerhalb von ihm befindet, noch infolge der bloßen automatischen Wirkung seelenloser Materie, sondern lediglich aus Ursachen heraus, die von ihm selbst innerhalb seiner eigenen Konstitution geschaffen wurden. Ursachen, die ihn in der Form von Wirkungen zwingen, zu den Gebieten, in denen er sich in anderen Erdenleben abmühte, zurückzukehren. In unserem augenblicklichen Dasein säen wir alle Saaten aus Gedanken, Gefühlen und Handlungen, die uns in ferner Zukunft auf diese Erde zurückbringen, wobei wir, was unseren Charakter anbetrifft, das ernten, was wir gesät hatten.

Manche Menschen, die wir treffen, sagen: "Mein Gott, muß ich denn wieder zurückkommen? Ich habe nicht darum gebeten geboren zu werden, und der Himmel weiß, daß ich nicht nocheinmal ein Leben durchmachen möchte wie das gegenwärtige, das ich jetzt hinter mich bringe." Nun, dabei müssen wir uns fragen: Wer brachte uns hierher? Irgend jemand? Gott vielleicht? Oder sind wir zur Erde zurückgekehrt, weil doch wir es wollten, weil wir nämlich durch psychomentale und vitale Bindungen von der Familie und der Umgebung angezogen wurden, die die Qualitäten bieten konnten, die unserem eigenen karmischen Bedürfnis am nächsten kommen? So verstanden ist Vererbung alles andere als eine kausale Kraft. Sie ist vielmehr die Fortsetzung gewisser Eigenschaften oder Charakterzüge - nicht von den Eltern auf das Kind übertragen, sondern fortgesetzt. Vielleicht sogar von einer Generation auf eine andere. Eine solche Fortsetzung ergibt sich, weil das sich wiederverkörpernde Ego erneut die Geburt als Kind in einer Familie sucht, zu der gleiche oder ähnliche Charakterzüge gehören.

Andere sagen, ihnen gefalle die Vorstellung einer Wiederverkörperung nicht, denn sie sehen nicht ein, wie dies möglich sein soll, weil sie sich an ihre früheren Leben nicht erinnern können. Warum sollten wir uns an unsere früheren Leben erinnern, wie es war, als wir zum erstenmal Bewußtsein erlangten? Und was hat sich alles von unserer Kindheit an bis jetzt abgespielt! Wir können uns nicht einmal an jede Einzelheit von heute morgen, gestern oder vor einer Woche erinnern. Wenn man dabei noch bedenkt, daß wir mit jedem neuen Körper ein neues physisches Gehirn haben, das das Instrument des menschlichen Erinnerungsvermögens ist, so liegt es auf der Hand, daß das kein Argument ist, das gegen die Wiederverkörperung spricht. Wenn das Gehirn sich nicht an Dinge erinnert, die vor seiner Entstehung stattfanden, dann aus dem Grunde, weil es einfach nicht da war, um sich an das damalige Geschehen erinnern zu können. Nichtsdestoweniger - und dies ist ein außerordentlich wichtiger Gesichtspunkt - ist das Gedächtnis in der inneren Struktur und in der Zusammensetzung des sich wiederverkörpernden Egos vorhanden.

Wir erinnern uns an die Dinge, die uns am meisten beeindruckten und sich somit in unserem Charakter eingeprägt und ihn geformt haben, die sich in den Fächern des Gedächtnisses, des Verstandes und der Seele so festgesetzt haben, daß sie bei uns als unauslöschliche und wirksame Tatsachen und Funktionen des Bewußtseins geblieben sind. Sogar unsere Wahrheitsliebe ist die Erinnerung an das in früheren Leben erarbeitete Wissen.

Plato schrieb alles Wissen, alle Kenntnis und angeborene Gelehrsamkeit der Erinnerung zu, dem wieder Ansammeln von Gedanken, die wir hatten und der sowohl ideellen als auch materiellen Dinge, die wir in anderen Leben zu einem Teil unserer ureigensten Seele gemacht haben. Wir bringen diese Erinnerungen aus früheren Erfahrungen als unseren Charakter mit. Was ist der Charakter - die Gesamtsumme einer Seele? Es handelt sich hier nicht nur um die Gedanken und Gefühle eines Menschen, nicht einmal um die Summe aller seiner Fähigkeiten, Gewohnheiten, seiner Begabung und seiner Instinkte. Charakter ist mehr als all das. Er ist das innere Fließen eines spirituellen Lebens, ein Zentrum oder eine Kraft, woraus die ursprünglichen Motive hervorgehen, die zu Handlungen, Intelligenz und moralischen Impulsen führen. Der Charakter einer Wesenheit ist daher ihr essentieller Bewußtseinsstrom, dual in der Manifestation, aber eine Einheit in der Essenz.

Woher kamen all diese Elemente unseres Charakters? Sicherlich nicht zufällig, denn wir leben in einer Welt, in der Ordnung herrscht, eine streng auf Ursachen und Wirkung beruhende Aktivität, so daß Wirkungen auf vorher in Bewegung gesetzte Ursachen folgen. Auf das Wirken dieser Kette der Kausalität ist die Bildung des Charakters oder, genauer genommen, die Evolution der innersten Kräfte oder Energien der Geist-Seele des Menschen zurückzuführen, die immer neue Möglichkeiten zur weiteren Entfaltung auf den Gebieten des Erdendaseins sucht. Jeder von uns verfolgt dann die ihm zukommende Richtung im Leben, die notwendigerweise eine Folge der zusammenwirkenden Einflüsse all seiner aus einer langen Vergangenheit stammenden Qualitäten und Neigungen ist und die zusammen seinen jetzigen Charakter bilden.

Der Mensch hat so sein eigenes Schicksal geprägt, denn er ist ein Zentrum der Kraft, nicht nur eines spirituellen, intellektuellen und psychischen Charakters, sondern ein Brennpunkt, von dem aus die vitalen, astralen und physischen Qualitäten seiner menschlichen Konstitution sich manifestieren. Das Wichtigste hierbei liegt in der Tatsache begründet, daß der Mensch genau das erhält, was er selbst erstrebt. Er kann sich in seinem Sehnen zur Gottheit erheben, die er im langen Lauf der Evolution schließlich erreicht, aber er kann sich gleicherweise in die Tiefen eines unwürdigen Daseins hinunterziehen lassen. Wie das alte Sprichwort lautet: "Wie einer in seinem Herzen denkt, so ist er." Es ist die Richtung unserer Gedanken und unseres Strebens, die in allen Fällen nicht nur unser Geschick bestimmt, sondern den Pfad, den wir betreten, die Fallgruben, die wir vorfinden oder das Glück, das wir uns selbst auf unserer Reise durch die Zeitalter schaffen.

Die Natur zeigt in ihrer großen Genauigkeit, warum die latenten karmischen Saaten von Impulsen und Eigenschaften (Qualitäten), Merkmalen und Gefühlen, aus vergangenen Zeitaltern überliefert, den im Kern des Menschen verwurzelten Gottesfunken zwingen, seine äonenlange Reise in die Welten der Formen und Materie (der Erscheinungen) zu unternehmen und sich so Zeitalter um Zeitalter mit einem materiellen Dasein zu identifizieren, bis die hohen Welten des Geistes ihn durch seine selbstgeschaffenen und innewohnenden Sehnsüchte nach hohen Dingen wieder anziehen.

Die Natur wiederholt sich, so daß sich das Große in dem Kleinen widerspiegelt, und alles, was in dem Großen ist, ist daher in dem Kleinen en miniature. Ihr ganzes Wirken folgt dann den früher eingeprägten Handlungen, was in der Ausdrucksweise dasselbe ist wie Wege oder Kraftlinien des geringsten Widerstandes. Wir sehen, wie sich dies überall manifestiert: Tag und Nacht, Sommer und Winter, Ebbe und Flut sind vertraute Beispiele in dieser Beziehung. Alle Planeten unseres Sonnensystems folgen demselben, allgemeinen Prinzip des Umlaufs, Wachstum erfolgt nach dem zyklischen Gesetz. Die Sonnenflecken-Periode ist noch ein weiteres Beispiel für den universalen Rhythmus der Natur. Es herrscht in der Tat überall eine Periodizität, nicht nur auf unserer physischen Ebene.

Deshalb sind Geburt und Tod für menschliche Lebewesen in gleicher Weise zyklisch, denn wir sind keine Ausnahme in den kosmischen Funktionen der Natur. Wie könnten wir das, wenn wir integrierte Teile des Gesamten sind? Der Mensch kann dem Universum nicht entfliehen, nichts kann das. Was er auch immer tut, er tut es zwangsläufig - nicht weil es sein Schicksal ist, sondern weil er der Urheber seines eigenen Geschickes ist, das gerade aus dem Grunde, weil es sich fortschreitend innerhalb des Universums vollzieht, notwendigerweise ständig von dessen innewohnenden Gesetzen geleitet wird.

Periodische oder zyklische Handlungen können wahrlich als Gewohnheiten der Natur angesehen werden. Genauso, wie menschliche Gewohnheiten durch Wiederholung erworben werden, so folgen alle Wesenheiten automatisch einem gewohnheitsmäßigen Verhalten, das für sie im Augenblick 'Gesetz' ist. Somit sind Geburt und Tod für den Menschen tatsächlich eingeprägte Gewohnheiten der sich wiederverkörpernden Wesenheit, und diese Gewohnheit der Wiedergeburt wird durch die Zeitalter andauern, bis sie langsam zerbricht, weil die Anziehung zum materiellen Leben allmählich ihre Kraft verliert. Dies ist alles ein Teil des natürlichen Prozesses endlosen, evolutionären Wachstums, während der göttliche Funke im Menschen in den Sphären und Bereichen des kosmischen Lebens durch die Runden der Erfahrungen geht.

Mag der Geist des Menschen zeitweise jenseits des Sirius oder des Polarsterns oder der äußersten Grenzen des Raumes verweilen, so kann er doch die Wirkung der universalen Kräfte nicht beschränken. Diese rufen ihn zu dem Platz seiner früheren Anziehung zurück, und jene Saaten werden Blüte tragen - wenn nicht in diesem Leben, dann in einem oder mehreren nachfolgenden, sobald die Hindernisse dem Drang der inneren karmischen Impulse weichen und diese nach aussen hin zum Ausdruck kommen können. Diese Saaten werden in ihm, ihrem Ursprung und 'Schöpfer' Frucht tragen.