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Die Blaue Rose

Jedes Volk der Erde hat eine Fülle überlieferter Märchen und Allegorien-Geschichten, die in jeder Generation den verwundert dreinschauenden Kindern von Eltern erzählt werden, die beim Erzählen den alten Zauber und die alten Wunder wieder lebendig werden lassen. Kritisch zergliedert sind sie unwahrscheinlich und sogar sinnwidrig; doch ihre Anziehungskraft ist zeitlos, weil sie zum Herzen sprechen. Wahrscheinlich ist deshalb ein Kind für Märchen so empfänglich, und es erinnert sich noch daran, wenn es die Aufregung über ein schönes neues Spielzeug längst vergessen hat. Seine Fähigkeit, etwas vernunftgemäß zu erklären, schlummert noch, und es steht nichts im Wege, das die magische Essenz hindert, unmittelbar in seine intuitive Wahrnehmung einzudringen, die für derartige Eindrücke noch offen ist.

Warum leben solche Erzählungen und Legenden aus uralten Zeiten weiter in unserer auf Wettbewerb eingestellten, mit Papier überschwemmten Welt, in der die Bestseller von gestern bereits beiseitegelegt sind? Die Dauerhaftigkeit menschlicher Aufzeichnungen scheint im direkten Verhältnis zu ihrem spirituellen Gehalt zu stehen. Eine pragmatische Darstellung hat möglicherweise die geringste Dauer. Unterhaltende Romane sterben eines natürlichen Todes, es sei denn, sie enthalten Schönheit und bleibende Wahrheit, wodurch sie in die Kategorie der belles letters (schöngeistige Literatur) eingereiht werden. Die älteste, heute noch vorhandene Literatur bezeichnen wir als Mythen. Populäre Zeitschriften kommen darauf zurück und selbst das Fernsehen wagte es, mehr oder weniger modernisierte Darstellungen dieser alten Erzählungen zu zeigen, deren Herkunft vergessen wurde. Wegen der geringschätzigen und verständnislosen Darstellung dienen sie oft nur zur Unterhaltung - oder sie mißfallen.

Doch es gibt Ausnahmen: Eine davon war der kürzlich im Fernsehen gezeigte Film "The Thief of Baghdad" (Der Dieb von Bagdad), kurz als französisch-italienisch, 1960 bezeichnet, dessen Inhalt das abenteuerliche Suchen nach einer blauen Rose ist. Diese Blume, die ein mythologisches Wörterbuch als "das Unmögliche" definiert, ist in mystischer Hinsicht dem blauen Lotus des Orients - Nilodumbara - ähnlich, von dem gesagt wird, daß er nur selten blüht und die Geburt eines Weisen ankündigt. Blau symbolisiert den Geist, die Rose ist ein Sinnbild der Verschwiegenheit. Wie bei anderen Allegorien können die Auslegungen verschieden sein, sie entsprechen jeweils den unterschiedlichen Stufen des Verständnisses des Suchers.

Ein ehrwürdiger Magier, der während der ganzen Geschichte nur in den Augenblicken der Krisis kurz in Erscheinung tritt, immer nur beobachtend, sich nie einmischend, berichtet, daß die leidende Prinzessin (die spirituelle Seele) nur von dem gesund gemacht und gewonnen werden kann, der ihr eine blaue Rose bringt. Unter den Freiern befindet sich natürlich einer, der versucht ihre Hand mit einer blau gefärbten Rose zu gewinnen. Da seine List fehlschlägt, nimmt er, wie sich später zeigen wird, zu anderen Mitteln Zuflucht.

Einer unter den vielen, die nach der Rose suchen, ist der "Dieb", eine Art Robin Hood von Baghdad, der die Reichen beraubt, um den Armen damit zu helfen. Nachdem er von der Krankheit der Prinzessin und dem Suchen erfahren hatte, mußte er zuerst danach trachten, aus dem Schuldgefängnis herauszukommen, in dem er unschuldig eingesperrt war. Danach konnte er sich erst auf den Weg machen, um die sieben Hindernisse zu überwinden und, nach Übereinkunft mit dem Magier, durch die sieben Tore gehen. Jedes davon stellt natürlich den Sieg über einen Teil seiner selbst dar. "Das erste Tor führt nach Osten, und man sieht es dort, wo es eigentlich gar nicht ist." (Wie viele Tore zur Erlösung werden dort gefunden, wo man sie nicht vermutet!)

Nachdem er seinem Feind geholfen und einem Rivalen das Leben gerettet hat, geht unser Held unerwartet durch den ersten Torweg, auf dessen Querbalken er den Schimmer einer blauen Rose erhascht, um sogleich in einen von Feuer umgebenen Abgrund zu fallen. Nachdem er diese Fata Morgana vernichtet und ein Gebiet mit Wasserfällen glücklich durchquert hat, befindet er sich in einem Garten und wird von einer verführerischen Jungfrau willkommen geheißen. Sie will von ihm, für eine kurze Vision seiner schlafenden Prinzessin, das Versprechen haben, eine Nacht bei ihr zu bleiben. Doch das flüchtige Bild seiner Geliebten hilft ihm, die Schmeicheleien der Zauberin zu durchschauen und verhindert ihren Plan, seinen Fortschritt zu hemmen. Die ganze idyllische Szene verändert sich bedrohlich, begleitet von mächtigen Erdbeben und herabstürzenden Felsen.

In der nächsten Szene befindet er sich in einer Wasserwelt. Das Auftauchen zur Oberfläche bringt ihn aus den wogenden Schatten der Illusion heraus. Gereinigt kommt er hervor, nur um einer noch heimtückischeren Gefahr zu begegnen. Der Weg zum nächsten Tor führt über eine schmale, schwankende Zugbrücke, die einen Abgrund überspannt. Hier wird er von einer unsichtbaren Kraft heftig angegriffen, die versucht, ihn auf die Felsen hinabzuschleudern. Er entreißt seinem Gegner schnell den Mantel der Unsichtbarkeit und kämpft mit dem gewaltigen Scheusal. Der Sieg ist großartig. Er nimmt den Mantel auf und schreitet durch den Torbogen. Nachdem er keine weitere Gefahr sieht, geht er vorsichtig vorwärts. Da erscheint aus den Felsspalten, um ihn herum, eine Schar mit Kapuzen versehener Gestalten, die sich langsam nähert, bis er vollkommen umringt ist. Während der ganzen Zeit sieht er abseits ein milchweißes geflügeltes Pferd, das regungslos wartet. Er legt den Mantel der Unsichtbarkeit an, erreicht das Pferd und besteigt es.

Durch einen leichten Nebel einer sich auftürmenden Wolkenlandschaft wird er zu einer friedlichen Lichtung emporgetragen. Er selbst ist erleichtert, und seine zerlumpten Kleider fallen nach und nach von ihm ab. Allein in dem dünnen Nebel sucht und findet er den kristallenen Irrgarten, in dem man die blaue Rose blühen sieht. Er muß sich Zutritt verschaffen und sie an sich nehmen, denn jeder muß "das Himmelreich mit Gewalt nehmen", durch eigene Anstrengung - als ein "Dieb", wie Prometheus ein Dieb war.

Jetzt ist er in der Lage, die Prinzessin zu befreien und für sich zu gewinnen. Die ihn umgebenden himmlischen Nebel lösen sich auf und er befindet sich in der Wüste, in der Nähe von Bagdad. Die undefinierbare vertraute Gestalt des Magiers, der ein Pferd führt, kommt ihm entgegen. Der alte Weise übergibt ihm ein Juwel, das ihm die Erfüllung eines Wunsches gewährt. Er findet die Stadt Bagdad belagert von den Horden des boshaften Prinzen, der die Prinzessin entführt hatte. Mit Hilfe des Juwels zaubert er eine vollständige Armee hervor, um den Feind in die Flucht zu schlagen. Es ist von Wichtigkeit, zu bemerken, daß diese Armee keine scharfen Waffen gebraucht und keinen körperlichen Schaden zufügt.

Nachdem er die Prinzessin ihrem Vater zurückgebracht hatte, entdeckt er, daß die blaue Rose fehlt. Sie ist während der Schlacht verlorengegangen.

Das ist vielleicht der wichtigste Punkt in der Geschichte, ein Punkt, der in vielen Erzählungen enthalten ist, aber selten beachtet wird. Nachdem er seinen höchsten Lohn verdient hatte, für den er alle Schrecken und Prüfungen erduldete, die das Schicksal bereithielt, und ohne den ihm das Leben nichts galt, hat er ihn verloren. Nichts ist übrig geblieben, nicht einmal die Hoffnung. Es ist eine schmerzliche Szene: Der Held streckt seine leeren Hände aus, aber in seiner Stimme liegt keinerlei Pathos, kein Selbstbemitleiden, als er die einfache Wahrheit feststellt: "Es war alles umsonst." Er nimmt eine weiße Blüte aus einer Vase und während er sie seiner Geliebten reicht, wechselt sie auf wunderbare Weise ihre Farbe und wird eine blaue Rose.

Dieser entscheidende Punkt der vollkommenen Verzichtleistung auf die Frucht einer großen Anstrengung ist ein Standpunkt, den der wahre Okkultismus von Anfang an betont, und der in jenen Religionen aus den Augen verloren wurde, die versuchen "Seelen zu erlösen." Der Buddhismus kennt zwei Wege zur Erleuchtung: der eine, den viele Fakire und heilige Bettelmönche gehen, führt zu innerem Frieden und zu einem untergeordneten, vorläufigen Nirvana, obgleich es nach unserem Zeitmaß gemessen von langer Dauer ist, dem Himmel anderer Glaubensbekenntnisse vergleichbar. Der andere Weg verlangt die Ausübung von Mitleid, eine völlige Verschmelzung mit dem Schicksal der Menschheit, die den Erfolgreichen veranlassen, noch lange Zeit, nachdem er einen höheren Zustand und glückselige Ruhe verdient hat, als aktive Kraft für den spirituellen Fortschritt im geistigen Leben der Erde zu verbleiben. Die ersteren, die "selbstisch" Erleuchteten, erfreuen sich auf einer bestimmten Ebene der Früchte der Weisheit, während das Leben an ihnen vorüberzieht. Sucher nach persönlicher Erlösung jagen diesem Ziele nach. Die "Mitleidvollen" entwickeln sich weiter. Ihr Bewußtsein dehnt sich immer weiter aus, und sie tragen die ganze Zeit über zur Erleuchtung der nachfolgenden Menschheit bei. Das ist das Bodhisattva-Ideal. Wer so die blaue Rose gewinnt - und verzichtet - lebt ewig, ohne die Begrenzung des egoistischen Selbstes, denn er ist eins mit dem All.